Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Zweiter Abschnitt

II. Die Krisis

(Joh. 6-10)

Jungfrau - Waage - Skorpion


Dies aber ist die Scheidung und Entscheidung, daß das Licht in die Welt gekommen ist,

und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht;

denn ihre Taten belasteten ihr Schicksal.

Joh. 3,19


1. Wesen, Ursachen und Ausbruch der Krisis

Speisung und Seesturm

(Joh. 6 und 7)


S258   Der kosmische Rhythmus, wie er sich für die ersten fünf Kapitel des Johannes-Evangeliums ergab, hat von den Fischen (oder der Konstellation Fische - Jungfrau) im ersten Kapitel (wobei das "Wortzeichen" Stier und das Widder-Zeichen der Christus-Erden-Inkarnation wie ein Auftakt vorausging) in der dem Rhythmus des großen Weltenjahres entsprechenden, abwärtssteigenden Bewegungsrichtung durch die fünf unteren, dunklen Tierkreiszeichen - jedoch so, daß immer das entsprechende obere Gegenzeichen mitbetont erschien - hinuntergeführt bis zum Todeszeichen Skorpion (bzw. der Konstellation Skorpion - Stier) im fünften Kapitel, in dem die Heilung des S259 Kranken von Bethesda und der Konflikt des Christus mit den Juden wegen der Sabbatheilung, in dem die kommende Krisis sich ankündigt, erzählt wird. Der Fortgang dieses Rhythmus würde nun im sechsten Kapitel auf das Zeichen Wage führen, auf dasjenige Zeichen also, bei dem es sich, wie wir aus dem Markus-Evangelium wissen, um das Ringen um das innere Gleichgewicht handelt, wie es dort in den Geschichten und Bildern von der Schiffahrt, vom Seesturm und von der Angst der Jünger erzählt wird, im Bilde jenes Seesturms und Seelensturms, der dann durch das Ich-Bin des über die Wogen wandelnden Christus zur Ruhe gebracht wird. Aus dem, was sich bereits im Markus-Evangelium über den Zusammenhang bestimmter Evangelien-Worte mit den kosmischen Zeichen ergeben hat, wissen wir, daß dieses große Ich-Bin des Christus gerade das dem Zeichen Wage entsprechende Evangelien-Wort ist (ME112).

   Tatsächlich finden wir auch im sechsten Johannes-Kapitel, dessen Zuordnung zum Zeichen Wage, wenn sie sich als begründet erweisen sollte, der ganzen Bewegungsrichtung des bis dahin schon im Johannes-Evangelium zu beobachtenden Rhythmus entsprechen würde, ähnlich wie auch im 6. Markus-Kapitel (V.47-51), die Geschichte vom Seesturm mit dem Ich-Bin des über die Wogen wandelnden Christus (Joh.6,16-21). Doch geht dieser Geschichte eine andere voraus, die ebenfalls ihre Entsprechung im Markus-Evangelium hat, die Erzählung von der wunderbaren Speisung der Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen, wobei dann zwölf Körbe von Brocken übrig bleiben, jene Geschichte also, die sich im Markus-Evangelium der Konstellation Fische - Jungfrau in der Weise zuordnet, daß, weil das Ganze ein Geisterlebnis, ein Nachterlebnis, ein auf Menschheits-Zukunft (auf das heutige, das "Fische-Zeitalter") hinweisendes Erlebnis ist, das Zeichen Fische als das primär betonte erscheint (ME144-152). Erst bei der - im Johannes-Evangelium nicht erzählten - als Tageserlebnis zu denkenden "Speisung der Viertausend" (Mark.8,1-9) fanden wir das Lebensbrot-Zeichen Jungfrau als das primär betonte.

   Eine rein äußerliche Anwendung des im Markus-Evangelium S260 Gefundenen würde für das sechste Johannes-Kapitel also zunächst auf die Konstellation Fische - Jungfrau führen. die dann erst bei der Geschichte vom Seesturm in diejenige der Wage (oder von Widder - Wage) übergehen würde. Die bis dahin klar aufzuzeigende Kontinuität des Rhythmus wäre damit durchbrochen. Lesen wir im sechsten Johannes-Kapitel zunächst noch etwas weiter, so finden wir jene große Auseinandersetzung des Christus mit den Juden, in deren Mitte das durch vielfache Wiederholung stark unterstrichene Christus-Wort "Ich bin das Brot des Lebens" steht, das mit dem Worte der Juden "Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste" wirksam kontrastiert. Von diesem Worte "Ich bin das Brot des Lebens" wissen wir schon aus dem Markus-Evangelium, daß es sich dem Geistigen des Jungfrauen-Zeichens zuordnet, das, mit den "Fischen" zusammen die "Abendmahlskonstellation" bildend, zuerst über dem Gleichnis vom Sämann und Samenkorn (Mark.4), dann über den Speisungen, zuletzt über dem großen Christus-Abendmahle steht. Wir würden also, wenn uns der Schluß des sechsten Johannes-Kapitels vor allem an das Jungfrauen-Zeichen denken läßt, die Empfindung haben, daß der in der Konstellation Fische - Jungfrau beginnende Rhythmus dieses Kapitels, nachdem er in der Mitte bis zur Wage (oder der Konstellation Widder- Wage) fortgeschritten ist, am Schlusse wieder zur Jungfrau (oder zur Abendmahls-Konstellation Fische - Jungfrau) zurückschwingt.

   In all dem liegt, wie sich bald noch deutlicher zeigen wird, etwas den Tatsachen Entsprechendes, etwas wenigstens teilweise Richtiges, das uns der Lösung des Problems immerhin näher bringt. Der entscheidende Gesichtspunkt ist erst dann gefunden, wenn wir, den Rhythmus des Ganzen suchend, erkennen, wie das sechste Johannes-Kapitel gar nicht für sich allein betrachtet werden darf, sondern wie es mit den ihm folgenden Kapiteln (bis zum zehnten) eine Einheit bildet, und wie als Inhalt dieses Abschnitts Joh. 6-10 die, schon am Schlusse des fünften Kapitels sich ankündigende Menschheits-Krisis erscheint, bei der wir den Christus inmitten der Widersacher erblicken, wo sich das Ich-Bin des Christus zwischen den Widersacher-Mächten S261 zur Rechten und zur Linken in der Mitte behauptet (ME328f. wurde zuerst - im Hinblick auf Johannes 6-10 - auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen). Auch hier sind es bestimmte, immer wiederkehrende Worte des Evangeliums, die deutlich auf diesen Zusammenhang der einzelnen Kapitel hinweisen, Worte, die alle an das "Aber er ging mitten durch sie hinweg" des Lukas-Evangeliums (4,30) erinnern. Die Stellen - Joh. 6,15; 7,30; 7,44; 8,59; 10,39 - sind im ersten Teile dieser Schrift (Teil A cap.4) bereits angeführt. An der einen, vor allem wichtigen Stelle am Schlusse des 8. Kapitels ist die Übereinstimmung mit Luk.4,30 ("er ging mitten durch sie hinweg"), wenigstens nach einer der vorhandenen Lesarten, eine wörtliche.

   Aus dem früher Gesagten wissen wir, daß das Wesen der von Christus gemeinten "Krisis", des "Gerichts", wie Luther übersetzt, darin besteht, daß in Christus das verlorene Ich und Urbild der Menschheit wieder unter die Menschen getreten ist, und daß die der Finsternis-Macht verfallene Menschheit das Licht dieses Ich nicht ertragen kann, daß sich an ihr vollzieht, was an der (schon im letzten Kapitel angeführten) Stelle Joh. 3,19 als das Wesen dieser Krisis, das Wesen dieses "Gerichts" hingestellt ist: "Das aber ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr denn das Licht, denn ihre Werke waren belastend" ("belasteten ihr Schicksal", vgl. die letzte Anmerkung im Nikodemus-Kapitel und den Schluß des Bethesda-Kapitels).

   Dem geistigen Wesen dieser Krisis aber, dieses durch das Ich-Bin des Christus als "Scheidung der Geister" gewirkten "Gerichtes" entspricht im kosmischen Rhythmus des Evangeliums das Zeichen des großen Christus-Ich-Bin, das Zeichen der Wage. Wir dürfen uns hier durchaus daran erinnern, wie auch in einem ganz irdischen Sinne die Wage das Zeichen des Gerichtes, der irdischen Gerichtsbarkeit ist (für die es im übrigen recht bezeichnend erscheint, daß die die "Wage des Gerichts" haltende Gestalt meistens blind dargestellt wird, während im Christus-Ich das Weltenlicht sich offenbart). S262 Schon am Schlusse des die erste Ankündigung der "Krisis" enthaltenden fünften Johannes-Kapitels - siehe vor allem V.31 u.32, wo davon ausgegangen wird, daß "zweier Zeugen Rede" als wahres Zeugnis gilt - enthalten die Worte des Christus selbst eine deutliche Anspielung auf irdische Gerichtsbarkeit und irdisches Rechtsverfahren, und inmitten der eigentlichen "Kapitel der Krisis" (Joh.6-10) tritt dasselbe an mehreren Stellen deutlich hervor, vor allem bei der Gerichts-Szene des 8. Kapitels und der anschließenden Rechtfertigung des Christus (V.13-18, bes.17: "Auch stehet in eurem Gesetz geschrieben, daß zweier Menschen Zeugnis wahr sei"). Auf den Schluß des 9. Kapitels sowie auf die Nikodemus-Worte Joh. 7,51 wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls hinzuweisen. Wir werden dieses "Motiv der irdischen Gerichtsbarkeit" als ein "Motiv der Wage" im Sinne des kosmischen Rhythmus überall mit Deutlichkeit erkennen.

   Nach allem, was über diese Dinge schon bei der Darstellung des Markus-Evangeliums (siehe besonders das Gethsemane-Kapitel ME306u.309) wie in der Einleitung des gegenwärtigen Buches gesagt worden ist, sollte einleuchten, daß es sich hier überall nicht um astronomische Dinge, sondern um den rein geistig zu erfassenden Sinn des Wage-Zeichens handelt. Schon in alten Zeiten und bei alten Völkern ist die irdische "Wage des Gerichts" zugleich ein Bild der kosmischen Gerichts-Wage, der Wage des Weltgerichts gewesen, ein Ausdruck für dasjenige, was als die in geistigen Welten fallende letzte Entscheidung des Seelenschicksals im Weltverlauf empfunden oder erkannt wurde. In diesem Sinne bilden schon die alten Ägypter im "Totenbuch" die große Gerichtsszene ab, wo das Herz des vor Osiris, den göttlichen Richter in der Unterwelt hingeführten Toten auf der Weltenwage gewogen wird. Zwei Gottheiten, Horus und Anubis, halten die Wage, während Hermes-Thot (das uns an das "Geheimnis des Todes" erinnernde Wort heißt im Ägyptischen zunächst "Hand") als der göttliche "Gerichtsschreiber" den Ausschlag der Wage beobachtet, in deren Schalen das Herz des Menschen und die Feder der Wahrheit gegeneinander abgewogen werden, und das Ergebnis auf seine S263 Schreibtafel einschreibt (Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter, S465). Wie hier im Ägyptischen der göttliche Weltenrichter Osiris, wird in mittelalterlich-christlichen Darstellungen der "Weltenrichter Jesus Christus" mit der Wage des Gerichts dargestellt.

   Solche Schauungen eines älteren Menschheitsbewußtseins gewinnen ein besonderes Interesse da, wo wir späten Nachklängen dieser ägyptischen Bilderwelt in neuerer Zeit begegnen, wie beim nordischen "Traumliede" von Olaf Asteson (Darüber ein Berliner Vortrag Rudolf Steiners Januar 1913 - GA158). Wir hören da von dem jugendlichen Träumer, der, in den Weihnachtsnächten an der Kirchentüre eingeschlafen, in hellsichtigen Traumbildern abgeschiedene Seelen auf ihrem Schicksalsweg im Geisterlande (Brooksvalin) begleitet. Er erlebt da unter anderm die sehr an das ägyptische Totenbuch erinnernde Gerichtsszene mit der Wage, bei der Christus als Weltenrichter und der christliche Erzengel Michael in einer an den ägyptischen Hermes-Thot erinnernden Rolle erscheint: "In Hoheit stand da Michael und wog die Menschenseelen auf seiner Sündenwage, und richtend stand dabei der Weltenrichter Jesus Christ, in Brooksvalin, wo Seelen dem Weltgerichte unterstehen." Mehrere Strophen schließen mit den Worten: "Da spricht der Wage Zunge, und Weltenwahrheit ertönt im Geistesstand." Wie im Ägyptischen, erscheint hier das "Weltgericht" nicht als Ereignis einer fernen Zukunft, sondern als Abschluß des einzelnen Erdenlebens. Das führt auch an das Verständnis der Kapitel 6 bis 10 des Johannes-Evangeliums näher heran, vgl. das schon im 5. Kapitel (V.25) begegnende Christus-Wort: "Wahrlich, es kommet die Stunde und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben... und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts" (V.29). Da ist in einem gewissen Sinne durch das Ich in Christus mitten in das Physische des Erdenlebens hineingestellt, was sonst in den Vorstellungen der Menschen so leicht einseitig nur mit einer fernen Weltenzukunft sich S264 verbindet. Die durch das Christus-Ich mitten im Irdischen bewirkte Scheidung der Geister (Krisis) erscheint wie eine grandiose Abspiegelung des Weltgerichts. Wir ahnen, wie diese Krisis, diese Scheidung der Geister eine mit dem innersten Wesenskern der Menschheit, mit dem Ich in Zusammenhang stehende ewige Welten-Tatsache ist, die damals, als der wahre Ich-Träger der Menschheit in Jesus von Nazareth über die Erde von Palästina ging, auch im Zeitlich-Irdischen sich offenbarte.

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   Das im Traumliede von Olaf Asteson begegnende Motiv von Michael mit der Wage ist im christlichen Mittelalter weit verbreitet. Es findet sich vielfach in künstlerischer Darstellung, in Architektur und Plastik. Im Städtchen Michelstadt im Odenwald steht ein "Michael-Brunnen", an dem Michael mit der Wage des Gerichts in der Hand abgebildet ist. Diese Wage Michaels, die Wage, unter deren Zeichen auch die Kap. 6-10 des Johannes-Evangeliums zu denken sind, die kosmische Wage, ist die geistige Wage, und es wurde ja gezeigt, wie es, um das geistige Wesen dieser kosmischen Wage zu begreifen, nicht nötig ist, in Fixsternwelten den Blick zu richten. Im Jahresrhythmus erscheint einfach derjenige Zeitabschnitt, wo in der Herbst-Tag- und Nachtgleiche Tag und Nacht vorübergehend wieder gleich lang werden, sich die Wage halten, also die Michaelis-Zeit, als das "Zeichen Wage". Sucht man heute dieses Zeichen der Wage (d.h. den Sonnenstand des genannten Zeitabschnittes) nach der großen Himmels-Uhr des Sternhimmels astronomisch zu fixieren, so trifft man infolge der in großen Zeiträumen sich vollziehenden "Verschiebung des Frühlingspunktes" (und damit auch aller andern Punkte im Jahreslauf) nicht auf die Sterne des Wage-Sternbildes, sondern auf diejenigen des Sternbildes Jungfrau. Das Zeichen der Wage liegt, infolge der Verschiebung des Frühlingspunktes, heute im Sternbilde der Jungfrau. In derjenigen Zeit aber, die dem Mysterium von Golgatha nahelag, vor allem also in der Zeit des S265 Erdenwandels Christi lag das Zeichen Wage (d.h. der Zeitpunkt der im Herbstbeginn wieder in den Wage-Ausgleich tretenden Tage und Nächte) wirklich im Sternbilde Wage, in jenem Sternbilde also, das mit seinen drei hauptsächlich charakteristischen Sternen wie eine mit ihren beiden Wagebalken von oben nach unten gehaltene Wage aussieht. Es ist, als hätte gerade in jener Christus-Erdenzeit die "Himmelsschrift" etwas von dem zum Ausdruck bringen wollen, was im Erdengeschehen sich vollzog, als sei es irgendwie in den Sternen geschrieben gewesen, daß Himmelsgeschehen und Erdengeschehen damals in einer besonderen Beziehung standen. Doch soll hier zunächst und weiterhin nicht dieser Gesichtspunkt der "Himmelsschrift", sondern die einfache astronomische Tatsache, daß Erdenwage und Himmelswage damals sich deckten, ins Auge gefaßt werden. (Soweit eine solche Deckung möglich ist; denn die Tatsache, daß das Sternbild der Wage als ein besonderes kleines Sternbild einen kleineren Raum einnimmt, als das Zeichen Wage - das, wie jedes andere Zeichen, ein Zwölftel des Gesamtkreises, also 30 Grad mißt - bleibt in jedem Falle bestehen).

   Schon bei der Darstellung des Markus-Evangeliums ist darauf hingewiesen worden, daß der in ihr aufgezeigte "kosmische Rhythmus" nicht den Sinn hat, irgendwelche irdische Geschehnisse nach ihrem Zeitpunkt im Jahreslauf zu datieren, sondern daß es nur darauf ankommt, zu sehen, wie die großen Bilder der Evangelien-Erzählung - die bestimmten äußeren Geschehnisse im einzelnen Falle wohl entsprechen können, aber nicht entsprechen müssen - vom Evangelisten in einer dem Jahresrhythmus der Zeichen entsprechenden Aufeinanderfolge aneinandergereiht sind. Nur im einzelnen Falle - so wurde gesagt - kann einmal ausnahmsweise das aus dem Erzählungs-Rhythmus sich ergebende Zeichen auch auf das Zeitliche der Geschehnisse einen Hinweis enthalten. Den "kosmischen Rhythmus" im ganzen unter diesem Gesichtspunkte verstehen oder deuten zu wollen, würde auf Mißverständnisse führen. Das in diesem Sinne für das Markus-Evangelium Gesagte gilt erst recht für das gar nicht dem Jahres-Rhythmus folgende Johannes-Evangelium. Nur in einzelnen Fällen könnte auch da eine solche Beziehung sich ergeben. S266

   Ein solcher Fall liegt gerade mit dem Zeichen der Wage vor. Das siebente Kapitel des Johannes-Evangeliums, wo die "Krisis", der geistig unter dem Zeichen der Wage stehende große Menschheits-Konflikt zum erstenmal zum vollen Ausbruch kommt, enthält im Anfang (V.2) eine Zeitangabe: Es war aber nahe der Juden Fest, die Laubrüste (das Laubhüttenfest). Die Zeit dieses Festes fällt heute und fiel auch wohl damals schon in die letzten Septembertage, die beginnende Michaelis-Zeit der christlichen Kalender-Rechnung, also wirklich in jene Zeit, wo die Sonne in ihrem Jahreskreislauf im Zeichen der Wage steht, das in der Zeit, da Christus über die Erde ging, nach jenem Sternbilde sich orientierte, das nach seinem Aussehen das Wage-Sternbild heißt. So steht die Wage auch als äußeres Himmelszeichen über denjenigen Ereignissen, die in der Mitte des Johannes-Evangeliums als der große Menschheits-Konflikt, die Menschheits-Krisis geschildert sind. Es bezieht sich das aber nicht auf den ganzen Inhalt jener fünf Kapitel. Die im Anfang des 6. Kapitels enthaltene Zeitangabe ("Es war aber nahe Ostern, der Juden Fest") weist, wenn wir die zeitliche Beziehung des Osterfestes zum Zeichen Widder, dem "Osterlamm" in Betracht ziehen, auf das dem Widder vorangehende Zeichen, also auf die Fische, zu dem die da erzählte Speisungsgeschichte die jetzt öfter dargestellte geistige Beziehung hat. Wie sich dieses Verhältnis der im Anfang des 6. Johannes-Kapitels erzählten Speisungsgeschichte zum Fische-Zeichen bzw. zur Konstellation Fische - Jungfrau dem vom Geistigen der Wage beherrschten Gesamtcharakter der Kapitel 6 bis 10 einordnet, soll sogleich im folgenden besprochen werden.

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   Schon im ersten Teile dieses Buches (A cap.4) wurde gezeigt, wie es bei dem gegenwärtigen Evangelienabschnitt darauf ankommt, zu erkennen, wie nicht nur die Wage als das Zeichen des Ich-Bin des Christus das Bestimmende ist, sondern daß das Charakteristische dieses Evangelien-Abschnitts gerade darin besteht, wie der Christus hier mitten zwischen den feindlichen S267 Gegensätzen hindurchschreitet - "und er ging mitten durch sie hinweg" (Luk.4,30;Joh.8,59) -, zwischen den beiden, die Menschheit bedrohenden Widersachermächten zur Rechten und zur Linken gleichsam die Wage hält, wie eine fortwährende Auseinandersetzung des Christus-Ich mit den beiden Widersachermächten in diesen Kapiteln stattfindet. Nur dann erfassen wir den rhythmischen Sinn des Ganzen lebendig, wenn wir erkennen, wie die als geistiges Zeichen jene Kapitel (6-10) des Johannes-Evangeliums beherrschende Wage hier nicht einfach in Ruhelage, sondern wie sie gleichsam oszillierend, hin und her schwankend, sich immer mit zwei andern Zeichen berührend zu denken ist, nämlich mit dem ihr vorangehenden oberen, hellen Zeichen (Jungfrau) und dem ihr folgenden untern, dunkeln Zeichen (Skorpion), mit eben jenen beiden Zeichen, mit denen sie auch kosmogonisch in einer bestimmten Beziehung steht, zwischen deren Gegensatz sie einst im Weltengeschehen das Gleichgewicht herzustellen hatte (ME127). Nicht als ob im Geistigen jener beiden andern Zeichen selbst die Widersacher-Mächte verkörpert wären. Davon kann insbesondere bei der Jungfrau, über deren ursprünglichen rein göttlichen Sinn uns vor allem das Christus-Abendmahlsgeschehen belehrt, keine Rede sein. Aber darauf kommt es an, zu sehen, wie bei beiden Zeichen ein bestimmter Angriffspunkt der Widersachermächte liegt. Christus, das Licht der Welt, steht mit seinem das verlorene Ich der Menschheit in sich tragenden Ich-Bin gleichsam in der Mitte, in ihm hat das große Ich-Bin, das das wahre, nie verlöschende Bewußtseins-Licht der Welt ist, sich mitten unter die Menschheit gestellt. Das große Christus-Wort "Ich bin das Licht der Welt" (Joh.8,12) läßt vor uns das beherrschende Motiv des ganzen Evangelien-Abschnittes aufleuchten. Dieses große Ich-Bin des Christus als das wahre Weltenlicht steht hier immer in der Mitte zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis. Auf der einen Seite ist das helle Zeichen Jungfrau, dem unter den Sinnen des Menschen der Sehsinn, das irdische Licht des Auges sich zuordnet, dessen Licht im Irdischen so leicht zum "trügenden Scheinlicht" werden kann. S268 Auf der andern Seite das dunkle Zeichen Skorpion, das Zeichen der finsteren, bewußtseinsverdunkelnden Todesmacht (ME119ff,180ff,310ff), der Macht, die das Herz des Menschen versteinern und erstarren machen ("verstarren", wie Luther einmal ausdrucksvoll übersetzt), die menschliche Seele in die Verfinsterung in die Materie hinunterziehen will. Es ist die Todesmacht, die dem Menschen das Ich verfinstert und auslöscht. Ihren Höhepunkt in der Wirkung auf das Herz der Menschen erreicht diese Macht der Finsternis in dem jetzt in Rede stehenden Abschnitt des Johannes-Evangeliums da, wo die Juden den Stein gegen den Christus aufheben (Joh.8,59;10,31). In dieser Ich-Verfinsterung und Ich-Auslöschung wirkt der ahrimanische Widersacher. Aber auch das helle und in seinem Ursprung göttliche Zeichen der Jungfrau bieten den Ich-feindlichen Widersachermächten einen Angriffspunkt: wie vom dunkeln Zeichen (Skorpion) die Verfinsterung und Auslöschung des Ich, so geht vom hellen Zeichen die Blendung aus, die ein trügerisches Schein-Ich an die Stelle des wahren Ich setzen will. In dieser Blendung, in der Erschaffung dieses trügerischen Schein-Ich wirkt die luziferischer Macht. Auch mit ihr muß Christus, das Licht der Welt, der Träger und Bringer des wahren Ich, sich auseinandersetzen.

   Recht deutlich tritt die Wirksamkeit dieses anderen Widersachers im Johannes-Evangelium da hervor, wo im 6. Kapitel (V.15) davon die Rede ist, daß diejenigen, die das Speisungswunder miterlebten - es kommt in diesem Augenblick nicht darauf an, ob es sich um ein äußeres Miterleben oder um ein nur geistiges Erleben handelt - den Christus Jesus zum irdischen König (im Sinne der jüdischen Messiashoffnungen) machen wollen. Auch da muß sich Christus den Händen der Menschen entziehen, ganz ähnlich wie da, wo sie ihn greifen oder steinigen wollen: "Und er ging mitten durch sie hinweg" (Luk.4,30). Was ist der tiefere Sinn des irdischen Königtums? Im Grunde der, daß dem noch nicht zu seiner Vollmacht erwachten Menschen-Ich, dem Ich, das sich dieser seiner Vollmacht als des wahren inneren Königtums noch nicht bewußt geworden ist, dieses Ich in der Köngiswürde wie im äußeren Bilde vorgehalten wird. S269 Um ein Stück "Erziehung des Menschengeschlechts" handelt es sich bei allem historisch voll berechtigten äußeren menschlichen Königtum. Das tritt in der Geschichte des indischen Volkes, vor allem aber auch in derjenigen des hebräischen, deutlich zutage. Das hebräische Volk ist durch seine geistigen Führer, durch Moses vor allem vor die Aufgabe gestellt, den Ich-Impuls des Jahwe ("Ich bin der ich bin") im eigenen Innern zu entwickeln, sich von dem nur im Allerheiligsten des menschlichen Innern zu Erlebenden kein äußeres Bild oder Gleichnis zu machen. Dieses Verbot trifft nicht nur niederen Götzendienst, sondern auch ein falsches irdisches Königtum. Nur widerwillig läßt sich später der Führer des Volkes, Samuel, von den in der Klarheit ihres Ich-Impulses getrübten Juden das Zugeständnis dieses äußeren Königtums abringen. In der Erzählung des Johannes-Evangeliums sehen wir, wie auch die ursprünglich rein spirituellen jüdischen Messias-Hoffnungen in eine falsche irdische Richtung abgelenkt werden. Die ganze Jüngerkrisis, vor allem der Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus hängt mit dieser Ablenkung, mit dieser Einflüsterung des luziferischen Widersachers zusammen (ME315,321): Und auch das sechste Johannes-Kapitel weist in seinem Ausgang (V.60-71) so deutlich auf diese "Jüngerkrisis" hin, zeigt, wie zunächst die weiteren Jüngerkreise von dieser Krisis erfaßt werden, bis zuletzt auch der engere, der Zwölferkreis von der Krisis bedroht erscheint. Die Jünger-Krisis als die innere Vorbereitung der (im 7. Kapitel zum Ausbruch kommenden) Menschheits-Krisis bildet den eigentlichen Inhalt des sechsten Johannes-Kapitels. Und was da am Schlusse als eine Bewußtseinsverdunkelung vieler Jünger des weiteren Kreises zutage tritt (Joh.6,66), es erscheint als eine luziferische Abirrung schon im Beginn des Kapitels, was im Anschluß an die Speisungsgeschichte (Joh.6,15) erzählt wird. Wir verstehen die Zusammenhänge des Evangeliums erst richtig, wenn wir auf solche Momente der Komposition achten.

   Ja, dann erst haben wir den eigentlichen Schlüssel zum sechsten Johannes-Kapitel gefunden, wenn wir erkennen, wie die - schon aus dem Markus-Evangelium (cap.6) bekannte - S270 Speisungsgeschichte hier gar nicht so sehr um ihrer selbst willen erzählt wird. Die höhere "Synopsis" (Zusammenschau) der Evangelien ergibt sich erst dann, wenn wir gerade auf dasjenige achten, was die Erzählung des einen Evangeliums von derjenigen des andern unterscheidet. Das ist im 6. Johannes-Kapitel (verglichen mit Mark.6) die im 15. Vers erzählte unrichtige Reaktion der von jenem Erlebnis Berührten, die in dem Bestreben, den Christus Jesus daraufhin zum irdischen König auszurufen, zum Ausdruck kommt.

   Die Erklärung des "Speisungs-Wunders" wurde bereit in der Darstellung des Markus-Evangeliums gegeben (ME29ff.;33ff.;147ff.). Vom Gesichtspunkt des Johannes-Evangeliums erscheint es hier nur bedeutsam, nochmal darauf hinzuweisen, wie in den "fünf Broten" dieser Speisung die fünf unteren dunkeln Kräfte (vom Skorpion abwärts) als der Willensteil des Menschenwesens verbildlicht sind. Das hat für die ganze Komposition des Johannes-Evangeliums eine bestimmte Bedeutung: nachdem wir in den fünf ersten Kapiteln des Johannes-Evangeliums durch jene fünf untern, dunkeln Kräfte in den ihnen entsprechenden kosmischen Zeichen (von den Fischen bis zum Skorpion) abwärts geschritten sind, erscheinen sie alle fünf wie in einer kosmischen Zusammenfassung in der Speisungsgeschichte des sechsten Kapitels. Alle Inhalte und Bilder der fünf ersten Johannes-Kapitel (man vergleiche die Schilderung im vorangegangen Abschnitt) können so verstanden werden, daß sie - außer dem, was sie sonst noch bedeuten - einen Hinweis auf Menschheitszukunft und menschliche Zukunftskräfte enthalten. Was so der besondere Inhalt der fünf ersten "Mysterien-Kapitel" des Johannes-Evangeliums ist, es wird gleichsam zum Erlebnis des Jüngerkreises in dem, was als die große Speisungsgeschichte im sechsten Kapitel des Johannes-Evangeliums (wie auch des Markus-Evangeliums) erzählt wird. Mit jener Welt der höheren Bildekräfte, des Lebensäthers vor allem, mit der, als sie in der Auswirkung des "Sündenfalles" immer mehr verloren ging, die Eingeweihten in den Mysterien noch eine Zeitlang den Zusammenhang herzustellen oder aufrecht zu erhalten suchten, bringt den Kreis der als Jünger (im weiteren S271 Sinn) um ihn gescharten Menschen der Christus wieder in Berührung. Die Sternenkräfte werden wieder im Irdischen, werden jetzt im Ich empfangen. Das ist der Sinn des großen "Speisungs-Erlebnisses", das als das "kosmische Kelch-Erlebnis" zugleich auch das "Gralserlebnis" der Menschheit ist. Eine Menschheits-Zukunftsschau gewaltigster Art, steht hier, wie Rudolf Steiner gezeigt hat, vor uns (ME150ff).

   Der Zusammenhang der auf die Speisung im sechsten Johannes- wie im sechsten Markus-Kapitel folgenden Geschichte vom Seesturm wurde schon bei der Darstellung des Markus-Evangeliums ausgeführt (ME111ff;155f). Immer, so sahen wir, steht im Markus-Evangelium diese Geschichte vom Seesturm und der Angst der Jünger in der Konstellation Widder - Wage, und zwar so, daß zunächst (im 4.Kap.) die Wage, später (im 6.Kap.) der Widder (als das Zeichen des Herüberbringens der Nachterlebnisse an das "sichere Festland" des Tagesbewußtseins) das primär betonte Zeichen ist. Zuerst ist es das im Bilde der Sämannsgeschichte und des Samenkorn-Gleichnisses Erfahrene, was die innere Unruhe in den Herzen der Jünger weckt, später das im "Speisungswunder", im nächtlichen Spesiungsgeschehen Erlebte. Auch im Johannes-Evangelium stellt sich das Erlebnis zum Geistigen des Wage-Zeichens. Sprachliche Zusammenhänge, wie diejenigen von Wage und wagen, wagen und Woge, wogen und Wage kann man dabei innerlich erfühlen, kann tiefe Offenbarungen des Sprachgenius darin erkennen. Die Geschichte vom Seesturm im sechsten Johannes-Kapitel enthält den allerdeutlichsten Hinweis auf den Beginn der Jünger-Krisis, in der die allgemeine Menschheits-Krisis (cap.7ff) sich vorbereitet. Mit dem den ganzen Evangelienabschnitt (cap. 6-10) bestimmenden Wage-Zeichen, zu dem sie geistig gehört, steht diese Geschichte im Mittelpunkte des sechsten Johannes-Kapitels und der (im Schlusse dieses Kapitels, V.60-71, angedeuteten) Jünger-Krisis. Und wir werden dann die in der Speisungs-Erzählung ja deutlich vorhandene Beziehung zur Abendmahls-Konstellation - im Johannes-Evangelium ist mehr das Zeichen Jungfrau ("Ich bin das Brot des Lebens") betont S272 - wie ein Oszillieren der Wage nach oben, die späteren Stellen, wo die Einwirkung der Skorpion-Todesmacht fühlbar wird, wie ein Ausschlagen der Wage nach unten empfinden. Nicht bloß die Wage als solche, sondern das Zeichen Wage, wie es zwischen dem hellen oberen Zeichen der Jungfrau und dem untern dunklen Zeichen des Skorpions in der Mitte steht, gibt dem mittleren Abschnitt des Johannes-Evangeliums (cap.6-10) die geistige Signatur. Wie sich das Christus-Ich zwischen oben und unten, zwischen den Widersachermächten zur Rechten und zur Linken im Gleichgewichte, in der Mitte, in der Wage hält, dies bildet den eigentlichen großen Inhalt dieses Evangelien-Abschnitts. In diesem "Halten der Wage" (die im michaelischen Sinn die "Wage des Gerichts" ist) besteht die eigentliche "Scheidung der Geister" (das ist der wörtliche Sinn von Krisis), das eigentliche "Gericht", von dem in diesen Kapiteln des Johannes-Evangeliums immer die Rede ist.

   Von diesen Inhalten des Johannes-Evangeliums, von der "Krisis", wie sie dort durch das unter die Menschheit sich stellende, zwischen den Widersachern hoheitsvoll-siegreich hindurchschreitende Christus-Ich heraufgebracht wird, erhebt sich unser Blick zu der gewaltigsten Menschheits-Imagination, in welcher der innerste Sinn der Erdenentwickelung, der Inbegriff dessen, was gerade in diesem Gegenwartszeitalter an die bewußte Seele der Menschheit sich wendet, festgehalten ist, zu jener aus Holz geschnitzten großen plastischen Christusgruppe, die ursprünglich zur Aufnahme in das Innere des ersten, vor dieser Aufnahme durch die Flammen vernichteten Goetheanums bestimmt war (Sie hat inzwischen in einem - hochgelegenen - Nebenraum des neuen Goetheanums ihre Aufstellung gefunden): der Repräsentant der Menschheit, zwischen den Widersachern zur Rechten und zur Linken, zwischen Luzifer und Ahriman in erhabener Geste einherschreitend, nicht durch äußere Machtanwendung die beiden Widersacher zu Fall bringend, richtend oder strafend, sondern nur göttliche Liebe ausstrahlend, aber so, daß man sehen kann, wie, von den Strahlen dieser Liebe getroffen, Luzifer in der Höhe sich selber die Flügel bricht, S273 wie, von demselben Lichte getroffen, Ahriman in der Tiefe, der Herr der Finsternis, sich selbst mit goldenen Ketten des Lichtes in die Erde fesselt. Es kann der weltentiefe, universale, mit Wort-Erklärungen nicht auszuschöpfende Sinn dieser großen Welten-Imagination nun auch wiedergefunden werden in dem Bilde, das die Kapitel 6-10 des Johannes-Evangeliums vor uns hinstellen: Christus, der Wiederbringer des verlorenen Menschen-Ich und Menschen-Urbildes, in der Mitte zwischen den Widersachern von oben und von unten, zur Linken und zur Rechten, zwischen den auf das falsche irdische Königtum gerichteten Bestrebungen der einen und dem Steinwurf der andern in erhabener göttlicher Ruhe einherschreitend, in dieser Haltung gleichsam die Mitte, die Wage haltend, die so zu einer Wage des Gerichts, zur Scheidung der Geister, zur Krisis der Menschheit in dieser entscheidenden Weltenstunde wird. So finden wir dann auch im kosmischen Rhythmus des Johannes-Evangeliums das der großen Menschheits-Imagination entsprechende Bild der Himmelsschrift im kosmischen Zeichen der Wage, die als das Zeichen des großen Ich-Bin die Mitte hält zwischen dem Lichtes-Zeichen der Jungfrau und dem finstern Zeichen der Skorpion-Todesmacht. Als das Zeichen des Ich-Bin ist die Wage, das siebente der zwölf heiligen Himmelszeichen, zugleich das Zeichen der Menschheit, des Menschen-Urbildes: wie die andern Himmelszeichen bestimmten anderen "Hierarchien", ordnet sich die Wage der heute noch im Werden begriffenen, der heute noch unvollkommenen, der Hierarchie des Menschen (des im Sinne von Gen.1,27 nach dem göttlichen Urbilde, zum Ebenbilde des Göttlichen erschaffenen) zu. Wir erkennen immer deutlicher, immer tiefer, wie nach den fünf ersten "Mysterien-Kapiteln" des Johannes-Evangeliums die fünf folgenden "Kapitel der Krisis" im eminentesten Sinne Menschheits-Kapitel sind.



Über den Sinn dieser "vierten Hierarchie" und das Wesen des göttlichen Menschen-Urbildes vgl. des Verfassers Schrift "Der Ursprung im Lichte",

erschienen in der Reihe: 'Christus aller Erde' Bd.7-S23ff,bes.24 - hier anklicken:  3e Ursprung im Lichte I (Beckh) und  3f Ursprung im Lichte II (Beckh)

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S274   Das für die in Rede stehenden Kapitel des Johannes-Evangeliums so charakteristische "Oszillieren der Wage", die ganze Auseinandersetzung des Wage-Zeichens einmal mit dem oberen Zeichen (Jungfrau), dann wieder mit dem unteren (Skorpion), wird besonders anschaulich, wenn am Schlusse des Kapitels, nach der Erzählung vom Seesturm und vom Wandeln des Christus auf den Wogen ("Ich bin: fürchtet euch nicht") in der anschließenden Verkündigung vom Lebensbrot wiederum das Zeichen der Jungfrau (wie schon am Anfang des Kapitels) mitbetont erscheint. In dem in dieser großen Auseinandersetzung immer wiederkehrenden Christus-Worte "Ich bin das Brot des Lebens" ("Das Ich-Bin ist das Brot des Lebens") ist der innerste göttliche Sinn des Jungfrauen-Zeichens beschlossen, während in der Art, wie sich die Juden demgegenüber immer wieder an das Vergangene klammern "Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste" (V.31), in der Art, wie sie die ätherische Lebensspeisung immer noch von außen her, wie ein Naturphänomen, nicht aus dem zu seiner Vollmacht erwachenden Ich empfangen wollen, die Abirrung liegt.

   Den Anlaß zu der ganzen Auseinandersetzung gibt eine Szene, die vom Johannes-Evangelium im Anschluß an die Seesturm-Episode erzähllt wird, und mit dieser wie mit der Speisungsgeschichte viel Gemeinsames hat (V.21). Es handelt sich dabei darum, daß die Menschen - im wesentlichen, wie wir aus V. 60 entnedhmen können, die Angehörigen der weiteren Jüngerkreise - den Christus Jesus da erblicken, wo er nach dem rein physischen Zusammenhang des Geschehens nicht angetroffen werden kann (ähnlich, wie es sich auch beim Seesturm um eine Christus-Erscheinung im Übersinnlich-Ätherischen, bei der Speisungsgeschichte um andere ätherische Christus-Wirkungen handelt): die von Tiberias Gekommenen haben sich vor ihrer Abfahrt von dort überzeugt, daß Jesus nicht mit den Jüngern (die dann zwischen Tiberias und Kapernaum den Seesturm mit dem auf den Wogen wandelnden Christus erleben), abgefahren ist, und daß auch kein anderes Schiff da war, das ihn aufgenommen haben könnte; dennoch finden sie ihn dann nach ihrer Überfahrt in Kapernaum vor, d.h. es handelt sich S275 bei dieser Begegnung wieder um eine Erlebnis im Übersinnlich-Ätherischen, ein Zeichen der geistigen Christus-Macht. Auch hier ist es wiederum so, daß der Christus einen "Glauben" der Menschen als unzulänglich empfindet, wenn dieser "Glaube" nur durch die äußere Magie irgend eines "Zeichens" ausgelöst ist, wenn die Wirkung nicht von Ich zu Ich geht. Was die Menschen, die Jünger zunächst, erfassen sollten, was in dem Worte liegt "Ich bin das Brot des Lebens" (d.h. "im Ich selbst kann von jetzt an alle ätherische Lebenswirkung erfahren werden"), dieses gerade ist es, was sie nicht erfassen können. Sie hängen noch immer an den aus alten Menschheits-Mysterien überlieferten Vorstellungen, wonach die Kraft des Lebensäthers, des himmlischen "Lebensbrotes", als dessen Trägerin man die himmlische "Jungfrau mit der Ähre" erlebte, von außen her, gleichsam von der Weltenperipherie, zuerst noch vom Sternen-Umkreis, später immer noch vom ätherischen Umkreis der Erde her empfangen wurde. Der Inder nannte diese ätherische Sternenwirkung den "himmlischen Soma", an den auch der "Honig der himmlischen Wildnis", der die Speise Johannes des Täufers ist, erinnert. Später erlebte der Inder den Soma hoch im Ätherischen der Pflanze, die jenen Namen trug. Die letzte dekadente Erscheinungsform der alten ätherischen Himmelskräfte ist in der alttestamentlichen Geschichte das ätherisch-atmosphärische Phänomen, das als "Manna" den Juden in der Wüste als Speise dient. In seinem Namen (hebr. man) deutet dieses Manna noch auf alle Sternen-Geheimnisse des Menschenwesens (man, manes), von denen im Kapitel vom "ewigen Namen" die Rede war (Teil A cap.7). Die ganze Schilderung, wie sie im Alten Testament von diesem dann auf der Erde verfaulenden Manna gegeben wird, drückt mit sprechender Deutlichkeit aus, wie es sich hier um ein letztes Dekadenz-Produkt einer alten ätherischen Herrlichkeit handelt. Die Mysterien-Kräfte des alten "Sternen-Brotes" und "Himmelsbrotes" sind im Hinschwinden, sie werden in Zukunft der Menschheit nicht mehr als Speisung dienen. Sie würden der Menschheit für immer verloren sein, wenn sie sich nicht in dem zu seiner Vollmacht erwachenden Ich aufs neue beleben könnten. Nicht aus sich S276 selbst hätte das in Ohnmacht und Verfinsterung gefallene Ich diese Vollmacht finden können. Erst die Tat des Christus hat die Möglichkeit geschaffen, daß der Anschluß an das verlorene Ich und damit der Zugang zur Lebensquelle wiederum gefunden werden kann.

   Das begreifen diejenigen nicht, die aus dem Christus-Wort "Ich bin (das Ich-Bin ist) das Brot des Lebens"s nichts anderes machen können, als nur wiederum die Bitte: "Herr, gib uns allerwege solch Brot" (V.34), die immer nur von außen her erwarten, was sie im Innern, aus der Kraft des erwachten göttlichen Ich selber finden sollten. In aller Lebendigkeit kann Christus von sich sagen: "Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubet, den wird nimmermehr dürsten", doch liegt darin zugleich der Sinn: "Das Ich ist das Brot des Lebens. Wer zum Ich kommt, den wird nicht hungern; und wer das Ich im Herzen aufnimmt, den wird nimmermehr dürsten." In einem erhabenen Sinne erscheinen hier die Geheimnisse von Leib und Blut als das innerste Gralsgeheimnis des in Christus erwachten Ich (V.53ff). Die lebendige lichte Ursubstanz des im sündigen Menschenleibe verfinsterten und mit Todeskräften durchzogenen Fleisches und Blutes kann aus der Kraft des in Christus zu seiner Vollmacht erwachten Ich neu ins Leben gerufen werden.

   Wir können ahnen, wie schwer es auch für die Jünger war, das für jene Zeit Unerhörte dieser Christus-Worte zu fassen (V.60), wie ihnen der Sinn solcher Wort hart, ja unerträglich schien (das griechische Wort skleros "hart" - man denke an "sklerotisieren" - drückt anschaulich die ahrimanische Verhärtung im Menschenwesen aus, das sich dem lebendigen Sinn der Christusworte verschließt). Das ganze Ärgernis der Menschheit (V.61) erwacht an den Worten des Christus. Gerade hier erkennen wir deutlich, wie die ganze Krisis der Menschheit - die hier zunächst als Jünger-Krisis, als Krisis des weiteren, später auch des engeren Jüngerkreises auftritt - ihrem innersten Wesen nach eine Ich-Krisis ist. Es bringt die Menschen zur hoffnungslosen Verzweiflung, wenn sie sich, wie es hier durch S277 Christus geschieht, zur Vollmacht des eigenen Ich, zur vollen eigenen Verantwortung aufgerufen fühlen. Und wir können begreifen, wie dasjenige, was zunächst als Jüngerkrisis sich offenbarte, bald darauf als großer Menschheitskonflikt zum Ausbruch kommt.

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   Konnten wir im sechsten Johannes-Kapitel erleben, wie im Zusammenhang mit dem "Abendmahlsgeschehen" des Speisungswunders und dem Christus-Worte "Ich bin das Brot des Lebens" die (vielleicht schon Joh. 4,27ff sich ankündigenden) ersten Schwierigkeiten im weiteren und engeren Jüngerkreis sich erheben, so zeigt das siebente Kapitel, wie die Jünger-Krisis zur Menschheits-Krisis fortschreitet, wie die Menschheits-Krisis, deren Vorspiel wir schon im Ausgang des fünften Kapitels erlebten, jetzt voll zum Ausbruch kommt. Wir sehen den Christus, den wir zuerst nur in bestimmten Mysterienkreisen und Mysterien-Sphären und in Jüngerkreisen wirken sahen, beinahe zögern, den schicksalsschweren, schicksalentscheidenden Schritt zu tun, den er jetzt unternimmt; er weiß genau, wie das in ihm in seiner Göttlichkeit wiedererschienene Ich den Konflikt in den Menschenseelen heraufbeschwören muß, und erwidert darum seinen Brüdern - eigentlich sind es Stiefbrüder (Vgl. dazu Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA15,S55ff; Emil Bock, Beiträge zum Verständnis des Evangeliums, Nr.24 - Das Mysterium der Kindheit Jesu. Heute "Kindheit und Jugend Jesu", Verlag Urachhaus) -, die ihn bewegen wollen, sich auf dem Feste unter den Menschen zu zeigen: "Meine Zeit ist noch nicht hier; eure Zeit aber allewege", d.h. "die Zeit des Ich, die Weltenstunde des Ich ist noch nicht da; noch ist die Zeit des durch den Widersacher geprägten Menschenwesens, die Zeit der Ich-Verfinsterung, die Weltenstunde von Luzifer und Ahriman." Auch wie er dann wirklich hinaufzieht nach Jerusalem, bleibt er zunächst im Verborgenen (V.10). Es ist, als erlebten wir hier besonders deutlich, wie der Christus, so wie es Rudolf Steiner einmal ausgesprochen hat, keinen Schritt tun konnte anders, als aus der ganzen Sternen-Gesetzlichkeit des Kosmos, aus dem S278 kosmischen Rhythmus des Weltgeschehens heraus: erst wie er erkennt, daß jetzt gleichsam die Welten-Sternenstunde dafür gekommen ist, spricht er öffentlich vor dem Volk. Der von ihm dafür gewählte, unserer Michaelis-Zeit entsprechende Jahres-Zeitpunkt jenes jüdischen Festes steht, wie gezeigt wurde, mit dem Wage-Zeichen des Ich-Bin, dem Zeichen der Welten-Krisis im Zusammenhang.

   In der Art, wie der im 7. Kapitel ausbrechende Konflikt an die durch die Sabbatheilung heraufbeschworene Auseinandersetzung anknüpft, wirken Motive des fünften Kapitels in das siebente herein. Es wird im wesentlichen darauf ankommen, dieses Kapitel als ein Ganzes so zu erleben, es gleichsam von den das Johannes-Evangelium überall beherrschenden weltensymphonischen Gesichtspunkten aufzunehmen, zu sehen oder vielmehr herauszuhören, wie hier gleichsam in schrillen Dissonanzen, in erschütternden Disharmonien der schon lange sich vorbereitende Konflikt zum vollen, dramatischen Ausbruch kommt. Wie ein wirres Durcheinanderwogen der verschiedenen, aneinander vorbeiredenden Stimmen dringt das alles auf uns ein, bis inmitten der wirren Mißklänge immer wieder das erhabene, von der Weltenharmonie getragene Wort des Christus ertönt, jenes Wort, das selbst den Schergen der Pharisäer, die ausgeschickt sind, den Christus Jesus zu greifen, das staunende Bekenntnis entlockt: "Es hat nie kein Mensch also geredet, wie dieser Mensch" (V.46). "Und niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen" (V.30,44). Nicht nur zwischen Christus und den Juden, zwischen dem göttlichen und dem vom Widersacher verfinsterten Ich liegt der Zwiespalt, sondern die einzelnen Volkskreise selbst werden von dem Zwiespalt ergriffen (V.43): Finsternis wütet gegen Finsternis.

   Den Widersacher, der ihnen selbst das Bewußtsein verdunkelt, suchen die Menschen bei Christus (V.20). Und der Christus sagt ihnen genau den innersten Grund ihres Zwiespalts: "Wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen" (V.39), d.h.: Wo das Ich ist, da könnt ihr eben nicht hinfinden. Und immer schärfer wird der Konflikt, immer hoffnungsloser das Mißverstehen der Menschen. S279

   Im inneren Zusammenhange mit dem großen Motiv des vorausgehenden Kapitels "Ich bin das Brot des Lebens" steht dann dasjenige Christuswort, in dem wir den Höhepunkt, das eigentliche Ich-Motiv des siebenten Kapitels erblicken konnten (Teil A cap.6), das Wort, das er selber erst in dem Augenblick ausspricht, wo das ganze Fest auf seinen Höhepunkt gekommen ist: "Wer an mich glaubt (wer dem Ich eine Stätte im Herzen gewährt), aus dessen Leib werden Ströme des lebendigen Wassers fließen" (V. 38). Handelt es sich bei "Ich bin das Brot des Lebens", bei dem ganzen Geheimnis von Leib und Blut im Ich und aus der Kraft des Ich immer noch um dasjenige, wofür der Mensch dem Göttlichen gegenüber gleichsam Empfänger ist, so ist bei dem, was der Christus jetzt ausspricht (7,38), davon die Rede, daß das hier immer gemeinte Ich nichts nur für sich empfängt oder behält, daß es den großen Lebensstrom der Welt nicht nur in sich aufnimmt, sondern daß es ihn weitergibt, daß es ein Durchgangspunkt für diesen Lebensstrom wird, der sich von da aus segenspendend nach allen Weltrichtungn, zu allen Wesen ergießen will. Der Leib des Menschen, dessen innerstes Ich sich wieder mit den Sternenkräften berühren konnte, wird so von ätherischen Kräften durchströmt, daß sich diese wie ein kühler Strom des Lebens segenspendend und heilend überallhin ergießen. Von Stufe zu Stufe durch alle Kapitel des Johannes-Evangeliums hindurch sehen wir die von Christus verkündete Magie des Ich immer höher schreiten, so daß sich immer wieder ein neues Stück Menschheitszukunft dabei enthüllt.

   Der Einzige, der inmitten des (immer wieder von der Erhabenheit des Christuswortes übertönten) Stimmenkonfliktes, wie er im siebenten Johannes-Kapitel an unser Ohr dringt, etwas von den wahren Geheimnissen des Ich vernommen hat oder wenigstens ahnt, ist Nikodemus, der einst im meditativen Nachterlebnis jene bedeutsame Auseinandersetzung mit dem Christus hatte, der einzige unter den Pharisäern, dem die innere Rückständigkeit des Pharisäertums aufgegangen ist, der die Unzulänglichkeit alles Vergangenen, aller alten Mysterientradition und Weisheit der Schulen ahnt, die unvermögend ist, das Neue S280 und Zukunfttragende zu fassen, das sich jetzt in Christus unter die Menschen gestellt hat. Nicht umsonst wird gerade ihm in seinem Meditationserlebnis das Geheimnis der Krisis, des "Gerichtes", das jetzt über die Menschheit gekommen ist, durch Christus mitgeteilt (Joh.3,19). Er ist derjenige, der in tiefer Meditation etwas von der Bedeutung der jetzt sich vollziehenden "großen Entscheidung", der Menschheits-Krisis in sich aufgenommen hat. Nicht umsonst erinnert darum auch gerade hier das Johannes-Evangelium bei der Nennung des Namens Nikodemus (Joh. 7,50) an das nächtliche Meditations-Erlebnis, die geistige Begegnung, die er damals mit Christus hatte. So hält er allein in dieser kritischen Stunde den übrigen Pharisäern mahnend den "Ernst der Gerichteswage" vor, der verbietet, einen Menschen zu richten, ehe man ihn verhört und seine Tat erkannt hat.

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2. Die Ehebrecherin und der Steinwurf

(Joh.8)

S280   Wie im siebenten Kapitel den vollen Ausbruch, erleben wir im achten etwas wie den Höhepunkt jener Menschheits-Krisis, die durch das unter die Menschheit und ihre Widersacher sich stellende Christus-Ich heraufbeschworen ist. Immer dramatischer spitzt sich die Schilderung des großen Konfliktes zu. Erscheint das Motiv des Gerichts im Zeichen der Wage zunächst wie ein geistiges Bild und ein geistiger Vorgang in den Worten des Christus Jesus, so geht das achte Johannes-Kapitel dazu über, dasjenige, was sich da immer abspielt, nun auch noch dramatisch im Bilde einer irdischen Gerichtsszene vorzuführen. Das Motiv des ganzen Evangelien-Abschnitts (cap.6-10): Christus, der Menschheits-Repräsentant zwischen den Widersachern, das Ich-Bin des Christus, das selbst die Fülle des Weltenlichts in sich trägt (Joh.8,12) zwischen der irdischen Lichtesmacht und der Finsternismacht, die Wage des Gerichts, des gerechten Ausgleichs zwischen Jungfrau und S281 Skorpion, erscheint hier im achten Kapitel in bildhaft-dramatischer Anschaulichkeit.

   Philologische Kritik des Evangelientextes hat die ganze einleitende Episode des achten Johannes-Kapitels (V.1-11) "Christus und die Ehebrecherin" in ihrer Ursprünglichkeit in Frage gestellt - es ist, als wendet diejenige Macht, die in den gewaltigen Bildern des achten Johannes-Kapitels ans Licht gezogen wird, sich selber gegen diese Bilder (Man findet darum vor allem bei den griechischen Textausgaben - denen die Luther-Übersetzung hier glücklicherweise nicht gefolgt ist - den fraglichen Abschnitt vorzugsweise nur in den "Anmerkungen", die wichtigsten Stellen sogar nur in den "Unter-Anmerkungen") -, eine geistige Betrachtung kann für das Verständnis des Ganzen gerade auf diesen Abschnitt des Evangeliums nicht verzichten. Er entstammt der echtesten geistigen Inspiration, erfaßt mit sicherster Intuition das innerste leitende und beherrschende Motiv des ganzen Evangelium-Abschnitts und stellt es in einem grandiosen Bilde in imaginativer Deutlichkeit vor uns hin. Zur dramatischen Komposition des ganzen Kapitels, ja des ganzen Evangelien-Abschnittes (cap.6-10) gibt diese einleitende Episode des achten Kapitels erst den eigentlichen Schlüssel. Das in gewissem Sinne (vgl. Joh.3,19) den Evangelien-Abschnitt, ja das ganze Johannes-Evangelium beherrschende, zunächst und unmittelbar ins 9. Kapitel hinein fortwirkende große Ich-Bin-Wort des Christus: "Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolget, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben" (Joh. 8,12) erhält gerade durch die Art, wie es gleichsam als Abschluß der dramatischen Episode "Christus und die Ehebrecherin" erscheint, seine volle Wirksamkeit, seine innere dramatische Vollmacht. Wer nur einen leisen Spürsinn für die Kompositionsgeheimnisse der Evangelien, für das Symphonisch-Dramatische des Johannes-Evangeliums vollends hat, wird dieses Motiv "Ich bin das Licht der Welt" nicht so ohne weiteres an den Kapitel-Anfang stellen wollen.

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S282   Das ganze, für diese "Kapitel der Krisis" (6-10) so entscheidende Motiv der Gerichts-Wage erhält jetzt im achten Kapitel nun erst dadurch die volle dramatische Deutlichkeit und Anschaulichkeit, daß im Bilde der irdischen Gerichtsszene unmittelbar vorgeführt wird, wie der Christus anders richtet, als menschliche Richter, wie der Sinn des hier immer gemeinten, durch das Ich ausgelösten "Richtens" im Zeichen der kosmischen Wage des Ich-Bin - man beachte das ich im deutschen richten - ein anderer ist, als ihn die Menschen mit irdischem Richten verbinden. So lösen sich auch alle scheinbaren Widersprüche zwischen den verschiedenen "Worten des Richtens" aus dem Munde des Christus im Johannes-Evangelium. So wenn es einmal heißt (3,17): "Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde", und dann doch wiederum (5,22): "Denn der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben". Oder im 8. Kapitel (V.15): "Ihr richtet nach dem Fleisch; Ich richte niemand" und gleich darauf doch wieder: "So ich aber richte, so ist mein Gericht wahrhaftig (a-lethinos im Griechischen auch hier wieder - vgl. Teil A cap.6 - "was im vollen Bewußtsein geschieht", ein Gericht also, das dadurch sich vollzieht, daß das volle Bewußtseinslicht auf das zu Entscheidende fällt); denn ich bin nicht allein, sondern Ich und der Vater der mich gesandt hat. Auch stehet in eurem Gesetz geschrieben, daß zweier Menschen Zeugnis wahr sei." "Ich habe viel mit euch zu reden und zu richten" (9,39). "Jetzt gehet das Gericht über die Welt" (12,31). Das Wort des Urtextes, das Luther hier immer mit "richten" übersetzt, ist überall das griechische krinein, wovon dann das Substantiv krisis, das auch hier immer im Sinne des Urtextes ("Krisis") gebraucht wird, die Ableitung ist. Krinein heißt wörtlich "scheiden", und krisis, die Krisis, das "Gericht" ist eigentlich die "Scheidung der Geister", die durch das Ich, das Christus-Ich der Mitte bewirkt wird, jene "Scheidung der Geister", von der im Johannes-Evangelium am deutlichsten der Vers 12,31 spricht: "Jetzt gehet das Gericht über die Welt; nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen S283 werden." Aber eben weil dieses "Gericht", diese Scheidung der Geister durch das an die Freiheit der Menschen sich wendende Ich, nicht durch richterliche Zwangsgewalten bewirkt wird, kann das deutsche Wort "richten", das wie eine Intuition des Sprachgenius das "Ich" in sich schließt, doch als eine recht ausdrucksvolle Wiedergabe dessen empfunden werden, was das Johannes-Evangelium unter krinein und krisis versteht. Der Christus - das ist der Gedanke - richtet eben anders, als die Zwangsgewalten der Widersacher, die das Ich unterdrücken wollen. Und alles dieses wird eben im Johannes-Evangelium nicht in begrifflicher Abstraktheit, sondern in dramatisch-bildhafter Anschaulichkeit hingestellt in jener Gerichtsszene, wo wir den Christus mitten zwischen den richtenden, verdammenden Pharisäern und der des Ehebruchs angeklagten jungen Frau erblicken. Da zeigt der Christus den Menschen, die ihn, die das Ich nicht begreifen, durch die lebendige Tat, wie er richtet, wie das Ich da entscheidet.

   Man hat immer hingewiesen auf die wunderbare Milde, die sich offenbart in der Art, wie am Schlusse jenes Auftritts, nachdem die von ihrem eigenen Gewissen überführten Ankläger sich hinweggeschlichen haben, der Christus zu der Frau, die auf seine Frage: "Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt" ihm antwortet "Herr, niemand", die Worte spricht: "So verdamme Ich dich auch nicht (so läßt auch das Ich dich frei); gehe hin und sündige hinfort nicht mehr." Nur liegt noch mehr in den Worten, als auf den ersten Anschein hin sich ergibt.

   Gerade wenn wir so auf diese göttliche Milde des Christus hinschauen, der nicht so richtet, wie die Menschen, der nicht verdammt, der die Gefallene aufrichtet, der sie wieder zu der Höhe ihres verlorenen Ich erhebt, zu jenem Ich, das den Menschen freiläßt und freimacht, ihn wieder frei im Lichte der Welt atmen läßt, dann könnte es naheliegen, daß wir nun unsererseits mit richtenden Gefühlen hinschauen auf die finsteren, lieblosen Ankläger, die "selbstgerechten, heuchlerischen Pharisäer", die, auf den starren Buchstaben des toten S284 Gesetzeswortes sich stützend, den Stein gegen ihre Mitschwester erheben. Und wahr ist es ganz gewiß, daß nie jemand härtere Worte gegen das Pharisäertum, gegen alles finstere, scheinheilige Pfaffentum gefunden hat, als gerade der Christus Jesus. Ja, wir dürfen wohl sagen, daß unter allen irdisch-menschlichen Erscheinungsformen der Finsternis-Macht, des finsteren Widersachers, diese ihm am allermeisten im innersten Wesen zuwider war. Johannes, der am allerweitesten über dieses finstere Pharisäertum Erhabene, stellt selbst am allerwenigsten dieses Motiv, diese richtenden Wort des Christus (vgl. Matth.23,13ff;Luk.11,39ff) in den Vordergrund; er läßt nur in dem wirksamen Bilde des 8. Kapitels die Tatsachen sprechen.

   So entspricht es der johanneischen Einstellung, wenn wir das richtende Wort über die Pharisäer und Schriftgelehrten dem Christus selbst überlassen. Wir werden alle so leicht in uns aufsteigenden richtenden Gefühle auch gegen die irdischen Richter zurückdrängen; dann werden die tiefen, ergreifenden Bilder des 8. Johannes-Kapitels selbst uns den Schlüssel zum Verständnis der Probleme darbieten.

   In bedeutsamer Weise steht über dem Eingang, wie über dem Ausgang des 8. Johannes-Kapitels das Motiv des Steinwurfs. Zuerst ist es die Ehebrecherin, die die Pharisäer nach dem Gesetze des Moses steinigen wollen, und am Schlusse heben sie den Stein gegen den Christus Jesus selbst auf. So gewaltig ist in diesem Abschnitte des Johannes-Evangeliums die dramatische Steigerung.

   Betrachten wir einmal dieses ganze "Motiv des Steinwurfs" und der Steinigung aus den tieferen kosmischen Hintergründen, aus dem Gesichtspunkt des "kosmischen Rhythmus". Äußerlich gesehen erheben die Pharisäer den Stein gegen ihre Mitschwester, so wie sie ihn zuletzt gegen den Christus Jesus selbst erheben. Mehr von innen gesehen, erscheint der Vorgang anders. Da werden wir, je mehr wir uns bemühen, mit dem in aller richtenden Strenge liebevollen Auge des Christus selbst auf das Geheimnis des Vorgangs hinzuschauen, erkennen, daß der Stein, den die Pharisäer da aufheben, ihnen eigentlich selbst auf dem Herzen lastet. Die "Verstarrung" und Versteinerung ihres S285 Herzens ist es, die sie den Stein gegen ihre Mitschwester, gegen den Christus Jesus selbst aufheben läßt. Der Druck der steinernen Gesetzestafeln, deren ursprünglich-lebendigen Sinn sie nicht mehr fassen, lastet auf ihren Herzen. Vom ertötenden Druck dieser Tafeln wissen sie sich und ihre Mitmenschheit nicht mehr zu befreien.

   Das Motiv des Steinwurfs, und in ihm das Geheimnis des Steines selbst, liegt über dem ganzen achten Johannes-Kapitel. Was ist dieses Geheimnis des Steines? Können wir es vielleicht tiefer ergründen in dem kosmischen Lichte, in dem Weltenlichte, das aus dem Johannes-Evangelium und gerade auch aus dem achten Kapitel so machtvoll zu uns strahlt? Wer in dem Lichte, das uns von Rudolf Steiner in anthroposophischer Geist-Erkenntnis angezündet ist, vermag, vom Reiche des Gewordenen auf die Urgründe des Werdens hinzuschauen, wird ahnend erkennen, wie im Stein, in allem Mineralischen nur die letzte Verdichtung der geistigen Ursubstanz, des göttlichen Urlichtes enthalten ist, wie dasjenige, was wir im Sichtbar-Tastbaren der "Materie" erleben, eigentlich das Negativ der geistigen Ur-Realität, der Schatten des Lichtes ist (vgl. Teil A cap.6). Ahriman, die Macht der Finsternis, hat die ganze dem widersprechende Vorstellung vom Wesen des Materiellen im Bewußtsein des Menschen, hat die ganze Verdunkelung des Urbewußtseins, die wir heute unser Bewußtsein nennen, zustande gebracht. Wie diese ganze "Verdunkelung des Urbewußtseins" im Werden des Steines, des Mineralischen der Erde, gerade mit der Ich-Werdung des Menschen, der zu frühen "Verichlichung" des Menschenwesens im "Sündenfall" zusammenhängt, hat Novalis in der Schrift 'Die Lehrlinge zu Sais' ausgesprochen: "Ob die Natur nicht über Gottes Anblick zu Stein geworden sein könnte - oder vor Schrecken über des Menschen Ankunft"*. ...


* Vgl. über diese Fragen auch des Verfassers dichterischen Aufsatz "Das neue Jerusalem" in der Schriftenreihe "Christus aller Erde - Gegenwartsrätsel im Offenbarungslicht" Band 16,S105,bes.S108ff. Das Hinschauen auf das ganze Weltbild der Anthroposophie,

besonders des im Buche "Geheimwissenschaft" von Rudolf Steiner gegebenen Grundrisses (GA13) der Weltentwickelung ("Saturn, Sonne, Mond, Erde") ist der Weg, um die hier angedeuteten Gedankengänge zur vollen Klarheit zu bringen.


...Im "Geheimnis des Ich", S286 des Verhältnisses von Menschen-Ich und göttlichem Ich, das über diesem ganzen Abschnitt des Johannes-Evangeliums (cap. 6-10) steht, liegt auch das Rätsel des Steines, der im achten Johannes-Kapitel (wie auch später noch) im Motiv des Steinwurfs und der "Herzens-Versteinerung" eine Rolle spielt, verborgen.

   Im Reich der Steine, so hat Rudolf Steiner immer betont, im Mineralischen der Erde, ist Ahriman, die Macht der Finsternis, der rechtmäßige Herr. Das Böse (d.h. das der Entwickelung Widerstrebende) entsteht erst da, wo jene versteinernde, Urlicht in finstere Erdensubstanz verzaubernde Macht sich nicht auf ihr rechtmäßiges Gebiet beschränkt, sondern da eindringt, wo im Sinne des forschrittlichen Weltenwillens das Weltenlicht, das Licht der Wahrheit immer leuchten wollte, wo es durch Christi Opfertat wiederum leuchten kann, da, "wo die Erde Sonne geblieben ist", im menschlichen Herzen (Vgl. Albert Steffen; Lebensgeschichte eines jungen Mannes, S.12 - schon angeführt in der Anm.Teil A cap.3). Indem der eine der beiden Widersacher im "Sündenfall" das trügerische Scheinlicht und Schein-Ich an die Stelle des wahren göttlichen Urlichtes, des wahren Ich setzte, konnte im Fortgang des Werdens der andere Widersacher, der Herr der Finsternis, dem Menschen auch das Herzenslicht verdunkeln, das Herz in die "Verstarrung" und Versteinerung bringen, es gleichsam der Gesetzlichkeit des Steines unterwerfen. Darum lasten die steinernen Gesetzestafeln so schwer auf den Herzen derjenigen, die den Stein gegen ihre Mitschwester erheben, darum ist durch die verstarrende und versteinernde Einwirkung der Macht der Finsternis wie durch einen bösen Zauber oder Bannfluch in einem so erschütternden Grade die Liebe in ihren Herzen erstorben.

   Wo aber steht inmitten der beiden Widersacher hier das Weltenlicht, der Christus? Finden wir nicht auch für dieses erhabene Geheimnis, für das Christus-Geheimnis ein Bild im Reiche des Natürlichen? Gibt es nicht doch im Reiche des S287 Mineralischen eine Erscheinung, in der wir das Lichtes-Urgeheimnis aller Erdenstofflichkeit noch ahnen können? Wir alle kennen diese Erscheinungsform des Mineralischen, in der es gleichsam noch von seinem Lichtes-Ursprung zu uns spricht, den Kristall.

   Schon das wundersame Wort Kristall, das in seiner ursprünglichen Bedeutung vom Phänomen des Eises, von Eiskristall und Schneekristall uns spricht, dann aber auch den mineralischen Kristall, den Bergkristall vor allem bedeutet, scheint es uns nicht schon durch seine Laute von Christus-Geheimnissen und Christus-Wundern zu erzählen, von Ur-Mysterien, die uns an vieles erinnern, was sich im alten Ägypten an den Namen Isis knüpft? Von Sternengeheimnissen der Stoffes-Mutter Isis erzählt uns der Eiskristall der Schneeflocke,* ...


* Vgl. darüber des Verfassers Aufsatz "Zum Namen der Isis" in dem Buche "Aus der Welt der Mysterien" (Verlag von Rudolf Geering, Basel - S66. Dort ist auch

gezeigt, wie der altägyptische Isis-Name J-S-T lautlich in dem Worte Kristall (wie auch in Christus) enthalten ist. (Hier anklicken:  13a Beckh: Isis)


...die dann, wenn sie im Ich aufleben, zu Christus-Geheimnissen werden. Im Wunder der Kristallwelt treten Christus-Geheimnisse vor die Seele. Welten-Licht-Geheimnisse und Welten-Sternen-Geheimnisse, wie sie in Christus zum Erden-Geheimnis werden, sind sie nicht im Kristall irgendwie angedeutet? Christus, der Träger des Welten-Ich, der von sich spricht: "Ich bin das Licht der Welt" (Joh.8,12), hat er sich nicht tief verbunden mit den Geheimnissen der Erdenstofflichkeit, in der die Reinheit des Welten-Lichtes in Finsternis verzaubert scheint? Hat er, der in seinem innersten Wesen geistiges Sonnenlicht ist, nicht selbst die Erde zu seinem Leib erkoren, um sie von dem Fluche ihrer Verfinsterung, dem Banne ihrer Verzauberung zu erlösen, um sie selbst wieder dem geistigen Sonnewerden zuzuführen? Ja, Christus, das Weltenlicht, er steht in Wahrheit zwischen Stein und Licht, den beiden Polen des Weltenwerdens, er steht da, wo wir im Reiche der Natur und ihrer Bilderschrift den Kristall finden. Es ist in inneren Zusammenhängen, im Weltgeheimnis selber tief begründet, wenn S288 wir auf den lautlichen Zusammenhang der Worte Kristall und Christus hingewiesen haben, obschon wir die ganz verschiedene sprachliche Herkunft und Ableitung der beiden Worte ganz gut kennen.

   Wie der Kristall im Reiche der Naturerscheinungen, steht Christus in seiner Erdenerscheinung im Reiche des geschichtlichen Werdens zwischen Stein und Licht, und alle Geheimnisse des achten Johannes-Kapitels können uns im Lichte dieser Tatsache zu einem tiefen Verständnis kommen. Das göttliche Ich, das aus der Reinheit des Weltenlichtes alle Dinge im Schöpfungsurbeginne gestaltete, hat sich in ihm bekleidet mit einem Erdenleibe, wie er erwachsen konnte aus jenen Kräften, die durch die menschliche Ich-Verfinsterung, die Irdischmachung des Ich entstanden sind. In Christus hat das göttliche Ich die Macht, den Bann der Verzauberung, der durch das irdische Schein-Ich geschaffen wurde, wiederum zu lösen, das menschliche Ich wieder zu seinem göttlichen Ursprung zu erheben. Darum läßt uns in einer so gewaltigen Weise und zugleich in doppelter Art das achte Johannes-Kapitel die richtende Macht des göttlichen Ich in Christus erleben. Einmal den irdischen Richtern gegenüber, zu denen Christus nur das Wort spricht ("Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie"), das bewirkt, daß sie sich selber das Gericht sprechen, von der Stimme ihres Gewissens überführt, sich still und betreten hinwegschleichen. Das Bild der Dornacher Christus-Gruppe: der Menschheits-Repräsentant zwischen den beiden Widersachern, die sich selber richten, tritt uns da wieder tief vor die Seele.

Goetheanum Menschheitsrepräsentant

Dornacher Christus-Gruppe: der Menschheitsrepräsentant zwischen den beiden Widersachern

  

   Der Frau aber, der jugendlichen Ehebrecherin gegenüber, deren Ich durch die Todsünde gefesselt, im Banne der Unfreiheit gehalten war, wirkt die richtende Macht des göttlichen Ich in Christus zugleich so, daß es die Gefallene ihr Haupt wieder frei erheben läßt zum Lichte der Welt, in dem auch ihr eigenes, höheres Ich urständet. Ja, der Christus, der Träger des göttlichen Ich, richtet anders, als die menschlichen Richter, die den Stein gegen ihre Mitschwester erheben, die immer nur hinrichten und steinigen wollen. Die Pharisäer wollen S289 hinrichten, der Christus richtet auf - das ist es, was so gewaltig, so erhebend aus der Episode des achten Johannes-Kapitels zu uns spricht.

   Der Christus zwischen Stein und Licht, da wo im Naturreiche der Kristall steht - können wir dieses große Motiv des 8. Johannes-Kapitels vielleicht auch in der kosmischen Schrift entdecken? Über dem ganzen Evangelien-Abschnitt (cap.6-10), so sahen wir, steht die Wage als das Zeichen des göttlichen Ich-Bin zwischen dem Lichtes-Zeichen der Jungfrau, wo im Falle der Abirrung der luziferische Versucher, und dem finstern Todes-Zeichen des Skorpions, wo im Falle der Abirrung der ahrimanische Versucher den Angriffspunkt sucht. Sind die pharisäischen Ankläger nicht auch, vom trügerischen Scheinlicht des einen Versuchers verführt, der Finsternis-Macht verfallen? Hat nicht schon die Darstellung des Markus-Evangeliums, wie auch innerhalb de Johannes-Evangeliums die des fünften Kapitels gezeigt, wie alle Tragik des jüdischen Volke und seines Pharisäertums mit der verdunkelnden Wirkung der Skorpion-Todesmacht zusammenhängt? Von dort geht alles aus, was das göttliche Urlicht in die Verfinsterung, die "Verstarrung" und Versteinerung brachte, was selbst das Lichtgebiet des menschlichen Herzens dem Eindringen jener verfinsternden und versteinernden Macht öffnete.

   Und liegt nicht in derselben Ecke, im Gebiete des Skorpion-Todesstachels der Punkt, wo die jugendliche Ehebrecherin in die Sünde, in die Abirrung fiel? (ME26f). An keiner andern Stelle jener ganzen Kapitel ist es deutlicher als hier, wie wir immer die richtende Wage des Christus-Ich in der Mitte zwischen der Jungfrau und dem Skorpion-Todeszeichen vor uns haben. Die Macht (Skorpion), die die Menschenseele in die Anfechtung, in die Bewußtseinsverdunkelung, in die Krisis bringt, sie wird in diesen johanneischen Kapiteln der Krisis von immer neuen Gesichtspunkten offenbar. Von früher (ME127,232f.u.a) erinnern wir uns, wie das Skorpion-Zeichen eigentlich dadurch entsteht, daß der Todespfeil des Schützen die Jungfrau verletzt, wie die Wage dann trennend und schützend sich zwischen Skorpion und Jungfrau S290 hineingestellt hat. Nicht auf Astronomisches, sondern auf geisteswissenschaftliche Hintergründe des Weltgeschehens wird damit hingewiesen, die mit der Auswirkung des Sündenfalles im Menschheitswesen und Weltenwesen zusammenhängen. Auch im Falle der jugendlichen Ehebrecherin des achten Johannes-Kapitels ist die irdische Jungfräulichkeit (Jungfrau-Zeichen) verletzt durch die Skorpion-Todesmacht (Skorpion-Zeichen), aber das Ich-Bin des Christus im Zeichen der Wage tritt richtend, das heißt aber bei Christus: Richtung gebend, aufrichtend, zum Lichte emporziehend in die Mitte. Das große Motiv des 8. Kapitels: Christus zwischen Stein und Licht, zwischen der verfinsternden und versteinernden Todesmacht (Skorpion), und der geistigen Liebesmacht (Jungfrau), erscheint dann so: Christus, überwindend die Sündenmacht (Skorpion), die der Menschenseele die Jungfräulichkeit raubt, führt die Seele wieder empor zu den geistigen Lichteshöhen, von denen Jungfräulichkeit in einem höheren, geistigen Sinn sich immer aufs neue schenkt - so, wie Johannes in seiner Einweihung dieses Wieder-Jungfräulichwerden der Seele durch Überwindung des Skorpion-Todesstachels erfahren hat (ME12,233). Da erscheint dann auch die ganze einleitende Episode des achten Johannes-Kapitels und mit ihr der Sinn des Jungfrauen-Zeichens, das mit dem Skorpion und der die Mitte haltenden Wage über dem ganzen Abschnitt steht, in einem neuen Lichte: das Ich-Bin des Christus zieht die Gefallene aus den Tiefen der Sünde und Todesfinsternis (Skorpion-Zeichen) empor zu den Höhen des Weltenlichtes, schenkt ihr im geistigen Sinne eine neue höhere Jungfräulichkeit (Jungfrau-Zeichen). Etwas ihre ganze Seele tief Überwältigendes, ihr ganzes bisheriges Wesen Verbrennendes oder gleichsam Umschmelzendes, Verwandelndes hat die Frau erlebt, die in jener schicksalsvollen Weise dem Christus begegnen durfte: eine völlige Neugeburt aus den Höhen des Weltenlichtes hat sie erfahren, ein neues Sein hat sich von dieser Stunde an ihr erschlossen.

   Es wurde schon, unter Hinweis auf die Darstellung des Markus-Evangeliums (ME127,232) erwähnt, wie der Sinn dieses geistigen Wieder-Jungfräulich-Werdens tief mit den Geheimnissen der Johannes-Einweihung zusammenhängt. Nicht so, wie dies beim Markus-Evangelium als ein Gesichtspunkt S291 gewonnen werden kann, bildet die Johannes-Einweihung auch im Johannes-Evangelium (das mehr reines Christus-Evangelium und Menschheits-Evangelium ist) den primären Inhalt. Dort wird sie nur vorübergehend behandelt. Nur gelegentlich wird die Jünger-Initiation und das Jüngerschicksal im Johannes-Evangelium unmittelbar berührt. Erst die auf die Lazarus-Erweckung folgenden Abschieds-Kapitel und dann wiederum die beiden letzten, die Auferstehungs-Kapitel sind (s.Teil A cap.4) im eigentlichen Sinne "Jünger-Kapitel". Nur unter andern Motiven spielt auch sonst das Jünger-Motiv eine gewisse Rolle. Nach der Jüngerberufung im ersten Kapitel und gelegentlichem Anklingen im zweiten, dritten, vierten Kapitel zuerst wieder im sechsten Kapitel bedeutungsvoll angeschlagen, schwingt es fortan leise mit, so daß wir ahnen können, wie jetzt immer mehr aus der Krisis der übrigen Jünger das Werden des Johannes-Jüngers, die allmähliche Vollendung seiner Initiation sich heraushebt. Nicht, wie bei Markus, in den Mittelpunkt, sondern nur wie in einen fernen Hintergrund sehen wir alles dieses bei Johannes gerückt. Nicht einmal der Name Johannes (als Name des Jüngers) wird genannt, Johannes selbst tritt mit seiner ganzen Persönlichkeit im Johannes-Evangelium hinter den erzählten Vorgängen vollständig zurück.

   Nur ganz leise und wie von ferne ahnen wir, indem wir zugleich auf die kosmische Konstellation dabei hinschauen, im "Motiv des Jungfräulichwerdens", wie es im 8. Johannes-Kapitel uns entgegentritt, zugleich ein Motiv der Johannes-Einweihung. Wohl mag uns die Episode im Eingang dieses Kapitels in vieler Beziehung erinnern an jene Geschichte von der "Sünderin" im 7. Lukas-Kapitel, die dann auch, zum Ärger und Neid der Pharisäer, von Christus emporgehoben wird, an jene Geschichte, die dann wieder in einer so offensichtlichen Beziehung steht zu jener andern im 14. Kapitel des Markus-Evangeliums und im 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums, wo die einstige Sünderin wie eine Priesterin an Christus selbst eine sakramentale Handlung vollzieht. Inwiefern die ganzen Vorgänge und Zusammenhänge, neben ihrer durchaus möglichen, ja wahrscheinlichen äußeren Tatsächlichkeit auch eine S292 geistige Bedeutung haben, wie sie intim mit den Einweihungs-Erlebnissen des Johannes selbst zusammenhängen, dessen eigene geistige Erlebnisse - sein ganzes innere Fortschreiten vom Kainsfluch der Menschheit zur neuen Jungfräulichkeit - sich im Erleben der Schwesterseele gewissermaßen spiegeln - alles dieses ist in der Darstellung des Markus-Evangeliums des näheren ausgeführt worden (ME292ff). Dort ist auch auf den zunächst rein äußeren Zusammenhang hingewiesen, wie er zwischen den verschiedenen "Magdalenen-Geschichten" und den drei "Toten-Erweckungen" des Evangeliums besteht. Wenn wir von hier aus noch einmal auf das 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums schauen, kann uns dabei bewußt werden, wie wir uns hier ja bereits rein äußerlich gesehen der dritten jener Erweckungen, der für die Johannes-Einweihung so unmittelbar entscheidenden "Erweckung des Lazarus" (Joh.112) nähern.

   Nicht zu äußerlich braucht deswegen eine "Magdalenen-Geschichte", wie sie im Eingang des 8. Johannes-Kapitels erzählt wird, mit der irdischen Gestalt der Maria Magdalena in Beziehung gebracht zu werden. Wenn diese Geschichte auch in stärkster und lebendigster Art den Eindruck äußerer Tatsächlichkeit erweckt, ein lebenwahres Bild zu geben scheint, wie es in der Begegnung des Christus mit der Menschheit wirklich zuging, so ist damit doch in keiner Weise gesagt, daß jene Frau die spätere Maria Magdalena war. Ja nicht einmal als wahrscheinlich kann dieses hier betrachtet werden. Viel wesentlicher erscheint in der gemeinten Betrachtungsweise ein anderer Gesichtspunkt: Es kann - wie das bei der Evangelien-Erzählung so oft der Fall ist - in jener ganzen Episode, abgesehen von ihrer möglichen äußeren Tatsächlichkeit, ein Bild gesehen werden für ein bestimmtes geistiges Geschehen, für bestimmte geistige Vorgänge. Erst dann kommen wir, und zwar in einem rein geistigen Sinne, der Sphäre der Maria Magdalena und mit ihr der Johannes-Einweihung näher. Da kann dann gesagt werden: was Christus damals an der jugendlichen Ehebrecherin tat und bewirkte, was im Johannes-Evangelium so bedeutungsvoll gerade in die Mitte der "Kapitel der Krisis" hineingestellt ist, es kann angeschaut S293 werden wie ein Bild desjenigen, was sich damals in der ihrer Einweihung entgegengehenden, ihre innere Jungfräulichkeit wiedergewinnenden Johannes-Seele selbst vollzog, und was sich dann im geistigen Erleben der Schwesterseele, in dem, was das "Magdalenen-Erlebnis" zum "Marien-Erlebnis" geistig emporführte, widerspiegelte.

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   Als einer der bedeutsamsten Züge in der Eingangs-Episode des 8. Johannes-Kapitels erscheint der Vorgang, wie da der Christus Jesus zweimal mit dem Finger auf die Erde schreibt (V.6n.8). Die naheliegende Vorstellung, daß er die Schuld der Ehebrecherin in die Erde schreibt, ist von Rudolf Steiner in den Vortragszyklen über das Johannes-Evangelium bestätigt worden. Wir berühren in diesem Hineinschreiben des geistigen Schicksals-Kontos und Schuldkontos in die Erde ein johanneisches Motiv, das später in der Apokalypse als dasjenige des (vom Buche des Lebens unterschiedenen) Schicksalsbuches erscheint, dasselbe, was der Inder das Karma (karma die Tat, d.h. das Selbstgeschaffene, von kr 'creare' "tun, machen") nennt. Rudolf Steiner hat betont, daß Christus Gründe hatte, die Tatsache von Karma und Wiedergeburt (denn nur im Hinschauen auf die "wiederholten Erdenleben" kann das Geheimnis der geistigen Tatwirkung, das "Karma", richtig verstanden werden) noch nicht der Öffentlichkeit anzuvertrauen (für die Art, wie er zu seinen Jüngern darüber sprach, wird besonders auf den Anfang des 9. Johannes-Kapitels, auf Matth. 17,11-13 und andere Evangelien-Stellen hingewiesen). Nicht eine theoretische Lehre über das "Karma", so betont Rudolf Steiner, hat Christus gegeben, aber in der Art, wie er das Schuldkonto der Ehebrecherin in die Erde schreibt, stellt er die Tatsächlichkeit des Karmagesetzes objektiv hin. Kein äußeres Gerichtsurteil, so sagt Christus damit den Menschen, über die Frau ist notwendig, weil ja ihre Tatenschuld ohnehin in die geistige Chronik des Weltgeschehens, im "Buche des Schicksals", wie man johanneisch sagen kann, eingeschrieben ist.

S294 Von besonderer Bedeutung ist dabei doch noch der Umstand, wie Christus das im geistigen Schuldbuch der Welt, im "Buches des Schicksals" eingetragene Schuldkonto der Frau (ihr "Karma") in die Erde und gerade in die Erde schreibt, in die Erde, die er selbst zu seinem Leibe erkoren, mit der er sich selbst verbunden hat, immer mehr zu verbinden im Begriffe ist. Der in die Erde und die irdische Menschlichkeit sich hineinopfernde Christus nimmt die Schuld der Menschheit auf sich, nicht in dem Sinne, daß der persönliche Ausgleich der Taten dadurch bedeutungslos würde, aber in dem Sinne, daß irgend ein Karma, irgend eine Tat, den Menschen nicht mehr in der Seele belasten, ihn nicht mehr hindern kann, sein Haupt wieder zum geistigen Licht zu erheben, sich in das Reich des geistigen Menschenwirkens in Freiheit wiederum aufgenommen zu fühlen (Über das wichtige Problem vgl. Rudolf Steiners letzten der vor dem Kriege gehaltenen Vortrags-Zyklen (Norköping 1914) "Christus und die menschliche Seele (GA155). In der Episode mit der Ehebrecherin offenbart sich dieses Wiedererheben zu den Höhen des geistigen Liches ("Ich bin das Licht der Welt...") und der ursprünglichen Jungfräulichkeit des Menschen sehr eindrucksvoll.

   Daß der Christus die Schuld der Frau in die Erde schreibt, kann gerade als Tatsache des Karma im Lichte der drei dem ganzen Evangelien-Abschnitt beherrschenden kosmischen Zeichen in einem noch tieferen Sinne verstanden werden, wenn wir zum Gesichtspunkte der Tierkreiszeichen den im I. Teile dieses Buches (cap.3u.4) näher erörterten planetarischen hinzufügen. Das Ich-Bin des Christus im Zeichen der Wage zwischen Skorpion und Jungfrau, es entspricht, wie wir gesehen haben, dem großen Motiv Christus zwischen Stein und Licht, zwischen Erdenverdunkelung und Erdenverfestigung und himmlischen Lichtes-Ursprüngen, himmlischer Jungfräulichkeit (Jungfräulichkeit im geistigen Sinn ist das an sich Himmlische, das durch die verhärtenden, verfinsternden Erdenkräfte verletzt und vernichtet wird). Alles Karma, alle karmische Tatenwirkung hängt S295 in gewissem Sinne mit der ganzen Art zusammen, wie durch den Sündenfall des Menschen die Erde aus dem kosmischen Gesamtleben herausgefallen ist, sich in sich verhärtet und verfestigt hat. Der "Sündenfall" ist in diesem Sinne wirklich ein Fall, ein Fall aus der Höhe in die Tiefe der Materie, in die irdische Verdunkelung. Planetarisch angesehen, liegen die herabziehenden Kräfte in dem, was Mars im Skorpion ist, während, solange die himmlische Jungfräulichkeit bestand, das geistige Wesen der Venus mit Merkur im Zeichen der Jungfrau verbunden war. Erst mit der Trennung, die im Sündenfalle, im "Sturze Luzifers" sich vollzieht, kommt Venus in die Erdennähe: Venus, der himmlische Edelstein und die einstige Heimat Luzifers, des vor seinem Falle in göttlicher Herrlichkeit erstrahlenden Licht-Engels, entsinkt im Sturze der Krone des gefallenen Himmelsfürsten, und wird von Christus in die Wage gestellt, die fortan das "Haus" der Venus in ihrer himmlischen Offenbarung als Venus Urania ist, während Merkur im Hause der Jungfrau bleibt. (Die in der mittelalterlichen Astrologie vielfach übliche Vertauschung von Merkur und Venus hat nicht nur den Zweck, die okkulten Dinge für die Profanen undurchschaubar zu machen, sondern hängt mit den eben berührten Urgeheimnissen zusammen). Wo die himmlische Jungfräulichkeit in dem hier überall gemeinten johanneischen Sinne wieder gewonnen ist, sind Merkur und Venus geistig wieder im Jungfrauen-Zeichen verbunden; man denke an das Geheimnis des Wortes "Hermaphrodit" (Hermes = Merkur, Aphrodite = Venus), wenn es nicht als physische Abnormität, sondern in dem hohen geistigen Sinne, den es auch hat, im Sinne der von Christus Mark.10,6-vgl.auch 12,25 - in Zusammenhang mit Gen. 1,27 berührten geistigen Urtatsache genommen wird (vgl. dazu ME217ff). Irdisch gesehen, d.h. vom Gesichtspunkt der durch das Karma des Sündenfalles eingetretenen Verhältnisse steht Venus, und zwar dann gerade als Venus Urania, als himmlisch erlösende Liebe, im Zeichen der Wage. Die jugendliche Ehebrecherin, die durch eine Abirrung in der Liebe - Mars im Skorpion - in die Sündenschuld gefallen ist, wird durch die göttliche Liebe des Christus - Venus in der Wage - wieder S296 zu den Lichtesursprüngen der himmlischen Jungfräulichkeit (Urverbundenheit von Venus und Merkur in Jungfrau) emporgehoben. Wir erinnern uns der Offenbarung der Venus Urania, Venus in der Wage, beim Seesturm (Joh.6), wo die über blaue Meereswogen wandelnde göttliche Liebewesenheit des Christus mit der Ruhe des ewigen Ich-Bin im Zeichen der Wage den Seesturm und Seelensturm zum Schweigen bringt.

   Inwiefern Mars im Skorpion die für die Sünde der Ehebrecherin bestimmende Macht war, scheint auch aus dem an Mars anklingenden, mit Mars verwandten Worte hamartia des griechischen Urtextes herauszuklingen (das in der Eingangsepisode zunächst in gewissen Ableitungen, 8,21ff. auch in der genannten Form öfter vorkommt). Kosmisch angesehen, scheint hamartia, die Schuld der Frau, als dämonische Marswirkung. "Venus, verletzt durch Mars im Skorpion" wäre etwa der astrologische Ausdruck für dasjenige, was im 8. Johannes-Kapitel als geistige Konstellation vor uns steht. Und daß Christus diese Schuld der Frau, diese kosmische Mars-Wirkung in die Erde schreibt, kann uns auch im Lichte des im I. Teile dieser Schrift über "Zeichen und Sternbild" Ausgeführten von Bedeutung sein. Überall da, wo es sich um das Karma, die Schicksalswirkung und das "Buch des Schicksals" handelt, scheint zunächst nur das Zeichen, d.h. das Verhältnis des Planeten zur Erde, zum Erden-Tierkreis von Bedeutung. Und erst da, wo das Karma überwunden ist, wo die Region des "ewigen Namens", der im "Buche des Lebens" eingetragen ist, erreicht wird, kommt die eigentliche Sternenwelt in Betracht. Durch die dämonische Marswirkung wird die Seele dieser Region entfremdet, in das Erdendunkel und die Erdenabhängigkeit verwiesen, mit einer im "Schicksalsbuche" eingetragenen Schuld belastet. Erst wenn die Schuld im Schicksalsbuche der Erde gelöscht ist, kann der im Lebensbuch stehende vergessene Name wieder in Sternenschrift aufleuchten. Es wird einmal die Zeit kommen, wo man verstehen wird, wie wir durch das Johannes-Evangelium in die Tiefen einer neuen, durchchristeten Astrologie hineingeführt werden. Und man wird dann erkennen, inwiefern gerade auch S297 das 8. Kapitel bedeutungsvolle Fingerzeige in dieser Richtung enthält.

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   Den Juden ist das alles ein Ärgernis und eine Torheit. Sie sehen nicht, wie hinter Christus das Licht des göttlichen Weltengrundes, die Lichtwelt des Vaters steht, wie sie aus ihm spricht und durch ihn sich offenbart; die Todesmacht hat sie dem Irdischen verhaftet, den kosmischen Ursprüngen entfremdet, und Christus muß ihnen sagen: "Ihr seid von untenher, Ich bin von obenher; ihr seid von dieser Welt, Ich bin nicht von dieser Welt." Auch dieses Wortes letzte Gründe sind Sternengeheimnisse, auch hier erkennen wir als die Macht, die das Irdisch-Menschliche dem Kosmischen entfremdet hat, die Mars-Gewalt des Skorpion. "Wer Sünde tut, ist der Sünde (hamartia) Knecht" (V.34), verfällt den Zwangsgewalten des Mars, während der aus den Lichtgewalten der oberen Welt wirkende, mit dem göttlichen Vater als dem lichten Weltengrund sich eins wissende Christus das Geheimnis der Freiheit vor die Menschen hinstellt: "So ihr bleiben werdet bei meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und werdet die Wahrheit (a-letheia - die Welt des klaren, lichten, unverlöschlichen Bewußtseins, siehe Teil A cap.6) erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen... So euch nun der Sohn freimachet, so seid ihr recht frei." Als das entscheidende Ich-Motiv des achten Johannes-Kapitels erscheint hier neben dem einen "Aus dem göttlichen Ich die wiedererrungene höhere Jungfräulichkeit" das andere: "Aus dem Ich und im Ich die wahre Freiheit". Christus spricht hier von der Freiheit, die die eigentliche Vollendung des Menschenwesens ist; die Freiheit, die nicht Willkür oder Laune, sondern gerade ein Wirken in Einheit mit dem göttlichen Weltengrunde, ein Wirken im Lichte des Göttlichen ist ("Ich bin das Licht der Welt"), also ein Wirken von obenher, während die dämonischen Zwangsgewalten das Menschenwesen von unten her ergreifen (Die rein erkenntnismäßige Durchführung dieses johanneischen Gedankens enthält Rudolf Steiners "Philosophie der Freiheit" GA4). Für die von diesen S298 Zwangsgewalten gefesselte, in Sündenschuld befangene und verdunkelte Menschenseele ist die Lichtwelt des Vaters, das Licht der göttlichen Wahrheit, aus der heraus Christus wirkt, nicht mehr durchschaubar, so vermag sie nicht mehr vom Vater zum Sohne zu finden, d.h. im Ich die Freiheit zu erlangen, vor die Lichtwelt schiebt sich die Welt des finsteren Widersachers: Ahriman hat, so wie es bei den jüdischen Pharisäern im 8. Joahnnes-Kapitel mit erschütternder Deutlichkeit sich offenbarte, die Stelle des göttlichen Vaters eingenommen, so wie er heute für jeden diese Stelle einnimmt, der die Welt nur noch als Zusammenwirken toter Naturnotwendigkeiten und naturgegebener Zwangsgewalten verstehen kann. Immer grandioser, immer erschütternder gestaltet sich gegen das Ende des Kapitels das Bild des Christus als des göttlichen Repräsentanten der Menschheit zwischen den Widersachern heraus, der Höhepunkt ist da, wo Christus den Juden sagen muß (V.44): "Ihr seid von eurem Vater, dem Teufel (Ahriman), und nach eures Vaters Lust wollt ihr handeln. Derselbige ist ein Mörder des Menschenwesens vom Urbeginn und ist nicht bestanden in der Wahrheit (im Lichte der Weltenklarheit); denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner, und ein Vater derselbigen". Mehr als alles andere weckt das Wort von der Freiheit im Ich den wilden, wirren Konflikt in der vom Widersacher verdunkelten Menschenseele. Wie ein Bild des Weltgerichtes selbst erscheint der ganz aus der Gerichtsszene im Eingang hervorgegangene und überall an ihre Motive irdischer Gerichtsbarkeit anknüpfende (V.13-18) große Auftritt im achten Johannes-Kapitel, immer dramatischer, immer erschütternder spitzt er sich zu, bis die den ewigen Vater im Weltenlichte nicht mehr erkennenden Juden auf das ganz aus den Tiefen des ewigen Ich gesprochene Christuswort "Ehe denn Abraham ward, bin Ich" den Stein gegen den Christus Jesus aufheben. Das Kapitel, über dessen ganzem Inhalte das Geheimnis des Steines liegt, beginnt und endet mit dem Steinwurf. "Und er ging mitten durch sie hinweg".

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