Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Geistesgeschichtlicher Aspekt + Anthroposophie 

 

     Bevor geschichtliche Erwägungen in betracht kommen, sollte erst das Wesen der Zeit als solcher behandelt werden. Wie gestaltet sich Zeit in der Natur, aber auch einstmals in der Ur- und Vorgeschichte? Wie haben der Mondaustritt und die noch früheren planetarischen Auseinandergliederungen den Zeitverlauf auf der Erde geändert? Unser gewohntes Zeitgefühl setzt die gegenwärtigen Verhältnisse der Planeten zueinander voraus und dieser Zeitablauf würde sich bei anderen Umlaufzeiten sofort ändern. Ist es also wissenschaftlich zulässig, den Ablauf der Zeit unter den heutigen Bedingungen und planetarischen Verhältnissen um Jahrmillionen in die Vergangenheit zu prolongieren? Besonders da man heute um

das Austreten des Mondes aus der Erde weiß. Und was kennzeichnet die Geschichte als eigentliches Zeitgeschehen, das sich immer mehr zu überstürzen scheint? Inwieweit ist ein Geschehen von vergangenen Entwicklungen her determiniert und wo ist Freiheit überhaupt möglich? Fließt Zeit nur nach vorne, oder auch aus der Zukunft, so daß von einem Doppelstrom der Zeit gesprochen werden kann? (2.0 Anmerkungen) Solche Fragen suchen Rahmenbedingungen für das Geschehen innerhalb der menschlichen Geschichte und es wird in unserer Postmoderne ja auch das Ende derselben postuliert (LI.3). Auch den Maya-Kalender, der den Ablauf einer großen Periode in unserer Zeit postuliert, instrumentalisierten manche als Hinweis auf das Weltende überhaupt.

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     Geschichte meint im allgemeinen die Zeit in den Grenzen zwischen Prähistorie und einer zukünftigen, metahistorischen Zeit. Letztere ist naturgemäß nicht faßbar und bleibt die Angelegenheit künftiger Gestaltungen. Wenn heute Historiker zusammenkommen, dann kann man den Eindruck haben, daß es da nur um Deutungshoheiten und eitle Besitzstandswahrungen geht, statt dem Leben richtungsweisende Ratschläge aus Rückschlüssen zu geben, die nur den Historikern möglich sind, und die man von ihnen erwarten zu dürfen meint. In der Berichterstattung über ihre Kongresse bleibt der Laie unaufgeklärt - die Koryphäen werden in ihrem behaviour geschildert, ihre Anschauungen dagegen nur verkürzt dargestellt, weil sie letztlich nicht ernstgenommen werden (2.1a). Der herrschende Historismus bleibt unhinterfragt, der seine Erklärungen nur noch aus dem Status Quo, aus

den Resultaten des geschichtlichen Ablaufs nimmt und damit hinter das Zeitalter der Aufklärung zurückfällt    . Er klebt wie eine Schnecke am Boden des chronologischen Ablaufs der Geschehnisse, vertrocknete Spuren seiner Artgenossen untersuchend und vergleichend. Was dagegen in der Geschichte im Fluge errungen wird, bleibt für den Historismus unwahrnehmbar, weil seine Vertreter über den vordergründigen Fakt nicht hinauskommen (2.1.b). Man braucht, über sorgfältiges Quellenstudium und akribische Quellenkritik hinaus Phantasie und Inspiration, sonst reduziert sich der Historiker auf den Bildchenverfertiger der Chronik. Ein Goethe ging auf das Sinnbild bzw. Symbol aus, das sich in der Geschichte ausspricht, Rudolf Steiner führte weiter zum Begriff des Symptoms bzw. der Symptomatologie. (2.1c Anmerkungen , s.a. Kap.5d).

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   Die Neuzeit beginnt mit dem Übergang von der spirituell-religiösen zur materialistisch-wissenschaftlichen Weltauffassung um 1500nC (2.2a Anmerkungen). Zunächst mechanistisch immer mehr in die anorganische Welt eindringend, kommt das abstrakte Denken auch in die Welt der Unternatur: Magnetismus, Elektrizität und Atomenergie. Zunächst wurde die Empirie, die sinnliche Erfahrung durch die Denker,aber auch von Künstlern wie Raffael, Michelangelo und daVinci in der Zeit in das geistige Leben der Renaissance eingeführt. So erscheint sie heute eher als die Zeit künstlerischer Leistungen als wissenschaftlicher. Nicht geglaubt wurde weiterhin nur, was Orthodoxie, Autorität und Sitte vorgaben, sondern die Aufmerksamkeit wurde auf das Faktische und dessen begriffliches Aufarbeiten gelenkt. Dafür wurde zum exakten Erfassen die Mathematik herangezogen. Viele dogmatische (glaubensgemäße) Wahrheiten, Rituale und Gebräuche blieben auf der Strecke, sie geben dem Mittelalter oft die düstere Färbung der fehlgeleiteten fanatischen Anbetungshaltung. Im Vatikan informierte man sich damals schon durch gedruckte 'Zeitungen' über den bekannten Weltkreis. ..."Es ist durchaus nicht zu weit gegangen, wenn man das Aufklärungszeitalter als wesentlich mitbedingt durch den Buchdruck ansieht. In Gutenbergs Mainzer Werkstatt wurde der Grund gelegt zu der Gesinnung, welcher der Philosoph Kant einen monumentalen

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Ausdruck verlieh durch die Worte: 'Habe die Kühnheit, dich deiner eigenen Vernunft zu bedienen'. Denn diese Vernunft mußte erst allmählich herangezogen werden zu solcher Kühnheit. Das konnte sie nur, wenn sie sich ständig Kunde zu verschaffen wußte von dem, was in der Welt vorgeht. Und wer einen Nutzen davon haben will, daß er sich seiner eigenen Vernunft bedient, der muß auch darauf rechnen können, daß auf sein Mitreden gehört wird. Das 18. Jahrhundert durfte und konnte aufgeklärt sein, weil das 17. eine öffentliche Meinung entwickelt und einen Wert derselben begründet hat"...(2.2b Anmerkungen). Man fühlte sich also aufgeklärt und war es auch allmählich,was dann durch Lessing und andere richtig wirksam wurde. Vielfach wurde aber doch der alten Glaubenshaltung bei letzten Fragen wieder der Vorzug gegeben, weil sie letztlich nicht reflektierbar schienen. Auf den Feldern der Unternatur, die beim Siegeszug der Naturwissenschaften erschlossen wurden, kann allerdings höchstens von einer Empirie der Meßinstrumente und Experimente gesprochen werden, denn die Unternatur emanzipiert sich von der Erfahrbarkeit sozusagen nach unten weg (2.3 Anmerkungen). Damit sind der Empirie Grenzen gesetzt, deren Unüberwindbarkeit auf dem Feld der Unternatur nicht eingestanden wird, die aber unüberwindlich sein sollen gegenüber dem Gebiet des Übersinnlichen. Oder dieses wird kurzerhand als nicht existent erklärt.

   Empirie bzw. Beobachtung wird a priori, d.h. unabdingbar an den Anfang wissenschaftlicher Arbeit gestellt. Es gilt sie also auch auf spirituellem Gebiet zu realisieren, wenn auch naturgemäß hier keine sinnlich-positivistische Erfahrung zu machen ist (2.4). Soll Wissenschaft wirklich wertfrei sein, dann darf sie aber auch nicht denkerische Erfahrungen mit dem Attribut subjektiv belegen und damit entwerten, denn gerade ein solches Urteil wird im Wissenschaftsbetrieb ja auch nur von beschränkten Subjekten gefällt, wenn diese dogmatischen Damen und Herren sich recht verstehen würden. Letztlich kommt man mit Steiner zu dem Urteil, daß das Denken selbst nicht subjektiv oder objektiv ist, eben weil es diese Beurteilungen ja erst vornimmt. Damit sind in der anthroposophischen Erkenntnismethode die Forderungen der Aufklärung nicht übersprungen, sondern erfüllt: Das Denken muß dem Wissenschaftler empirisch ebenso als Tatsache gegeben sein wie sonstige Forschungsgegenstände. Da kann aber nicht passives Verhalten im puren Beobachten greifen, sondern nur aktives, sonst gibt es auf diesem Erfahrungsfeld ja auch nichts zu beobachten. Nur weil Wissenschaftler träge sind, kann man einem Lebensgebiet aber doch nicht die Existenz absprechen! Und der Konstruktivismus, wo man sich wie

Münchhausen subjektiv eine objektive Welt zurechtlegt; oder die Konsenstheorie, wo man sich über die Wahrheit einigt, belegen auch nur, daß die Wahrheit und Wirklichkeit des Geistes nicht gefunden wird. Nach Steiner gehört nur guter Wille dazu, das Denken zu beobachten! Er stellt zunächst 7 Beobachtungen dar, die er aber nicht quantifizierend benennt, weil es hier vorrangig um eine begriffliche Vernetzung und Erfahrung geht. Da wird eine vollständige und exakte Methodologie nach naturwissenschaftlicher Methode gegeben, eine Verständigung des philosophischen Bewußtseins mit sich selbst - und das ganz locker, man kann sich fühlen wie im Gespräch in einem Wiener Cafehaus, wo Steiner sich oft und gerne aufgehalten hat. Da waltet nicht Pedanterie, aber durchaus eine profunde und exakte Lebensweisheit (2.5 Anmerkungen). "Wir erleben ein Erkennen, das sich zu gleicher Zeit als ein inneres Tun erweist, das als ein Inneres Außenwelttun werden kann, das also unbedingt überströmen kann in das soziale Leben" (2.6a Anmerkungen). Und schließlich kann man auf den christologischen Aspekt der 'Philosophie der Freiheit' Rudolf Steiners aufmerksam werden, wie ihn Priester der von ihm geförderten religiösen Erneuerungsbewegung herausgestellt haben (2.7a Anmerkungen ).

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Makrokosmois + Mikrokosmos

Makrokosmos + Mikrokosmos, Grundriß des Ersten Goetheanum


Georg Blattmann:

Aufbruch zu Christus im 20. Jahrhundert

 

  "...Das tiefste Wesensmerkmal unseres 20. Jahrhunderts ist von religiöser Art. Das wird sich erst so recht erweisen, wenn man aus größerer zeitlicher Entfernung darauf zurückblicken wird. Dann wird man eines Tages sagen: Es war das Jahrhundert der neuen Christus-Nähe. Diese Formulierung mag manchen Leser in Erstaunen setzen. Denn bei oberflächlicher Betrachtung der Gegenwart stehen ganz andere Erscheinungen im Vordergrund in diesem Jahrhundert des technischen Aufbruchs, der Weltkriege und des Völkermords. Immerhin spielen religiöse Motive an vielen Stellen des Weltgeschehens eine wesentliche Rolle; man braucht nur an die permanente Krisensituation im Nahen und Mittleren Osten zu denken oder an die gewaltigen sozialrevolutionären

Umschichtungen, die sich in Südamerika anbahnen, wobei offensichtlich nicht nur wirtschaftlich-materielle Probleme die Auslöser sind. Auch die Block-Kämpfe zwischen kommunistischen und kapitalistischen Weltmacht-bestrebungen, in welche die 'dritte Welt' mit hineingerissen wird, tragen unverkennbar ideologisch-glaubensmäßige Züge. Schließlich spricht die weltweite Nachfrage der jungen Generation nach Meditationspraxis, nach transzendentalem Training, nach autogener Schulung, nach Lebens- und Bewußtseinserweiterung mit allen Mitteln und um jeden Preis ihre deutliche Sprache: die Sprache der Sehnsucht nach 'religio', nach Wahrnehmung einer geistigen Realität.

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   Die wütende atheistische Gegenwehr ebenso wie der glühende Glaubenseifer der psychedelischen Generation weisen auf eine verborgene Wirklichkeit hin, die unterbewußt von den Seelen der einzelnen und der Völker gespürt wird. Wir alle tragen Verlangen nach 'Aufklärung' über die spirituellen Wurzelströme des Zeitgeschehens. Wir leiden Entbehrung, solange wir nicht wissen und verstehen, was das Wesentliche ist, das in unserer Mitte geschieht; solange wir nicht erkennen, daß ein Zeitalter der neuen Christus-Nähe angebrochen ist. Es leben ungezählte Menschen in unserer Welt, die Zeugnis davon ablegen könnten; doch die Seelen, die der Christus-Begegnung teilhaftig geworden sind, sprechen im allgemeinen nicht über das, was sie erlebt haben. Nur selten bricht einer sein Schweigen..." (2.7b Anmerkungen )

   Auch hier wird auf Empirie verwiesen, auf eine Wesenserfahrung! Und sie ist geschichtlich erst möglich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, mit dem Ablauf des sogenannten 'Kali Yuga': "...Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß es im Ablauf der Geschichte große Rhythmen, Äonen, Epochen, Umschwünge und Zeitwenden gibt. Altes geht zu Ende, Neues steigt auf. Aus uralter Weisheit ebenso wie durch eindringliche moderne Geschichtsforschung kommt man darauf, daß unser Jahrhundert gerade an einer solchen Grenzscheide der Zeitalter liegt. Die verflossenen fünftausend Jahre lassen sich zu einer einheitlich gekennzeichneten Periode zusammenfassen, dem 'Finsteren Zeitalter' der Gottesferne (Kali Yuga). Diese Zeitspanne, die sich ungefähr von 3100 v.Chr. bis 1900 n.Chr. erstreckt, ist wie überdeckt von einer Dunkelschicht, so daß der Anschluß der Menschenwelt an die über ihr wirkende Geistwelt nicht mehr wie in früheren Weltaltern gefunden werden kann. Der Einschnitt in der Bewußtseinsentwicklung an der Wende vom vierten zum dritten vorchristlichen Jahrtausend kann deutlich aus der Geschichtsschreibung belegt werden. Andererseits wird klar, weshalb der Beginn des zwanzigsten nachchristlichen Jahrhunderts als so entscheidender Anbruch einer neuen Zeit empfunden wird: Um das Jahr 1900 geht das Finstere Zeitalter zu Ende; es beginnt, mit anderen Worten, eine Epoche, in der die göttlich-geistige Welt neu zu den Menschen sprechen kann.

   Tatsächlich ist es überraschend, wie spontan sich die neue historische Situation bemerkbar macht. Alsbald, nachdem die Dunkelheit des 'Kali Yuga' gewichen ist, blitzt ein erster Lichtstrahl auf - eine offenbarende Einsicht 

fällt schlaglichtartig gleich auf das um sein Selbstverständnis in der Geistferne ringende Christentum. Die Erkenntnis, die da in das Geistesleben unseres Jahrhunderts hereinblitzt, ist in der Schrift 'Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums' von Rudolf Steiner niedergelegt. Dieses Büchlein reißt großzügige Horizonte auf. Der Titel ist bereits eine Antwort auf die Grundfrage der sich selbst nicht mehr begreifenden Christenheit..." (2.7b Anmerkungen)

"...Für diese grundsätzliche Neuorientierung ist es heute unausweichlich an der Zeit. Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, die christliche Religion nur in der Fortsetzungslinie der jüdisch-israelitischen zu sehen, die als eine Geistesrichtung unter vielen anderen, großen und kleinen, hochkultivierten und primitiven, welche nebeneinander existieren, sich bewähren mußte. Durch die Blickrichtung, die Rudolf Steiner einschlägt, wird auf einmal klar, daß das Christentum in einem prinzipiell anderen Verhältnis zu den vorbereitenden und umgebenden Mysterienreligionen steht. Es ist nicht eine Religion neben anderen. Vielmehr zeigt es sich als dasjenige, worauf alle anderen Mysterien zuleben. Es ist die Erfüllung zu dem, was die Religionen erwarten, worauf sie hoffen, das Ziel, auf das sie ihrem innersten Anliegen nach zugehen. Es ist die Verwirklichung aller Sehnsucht nach Gottesgegenwart.

   In diesem Sinne kann man das Christentum überhaupt nicht 'eine Religion' nennen. Man muß es als Lebenstatsache ansehen, die als Menschheitsangelegenheit um den ganzen Erdball herum spürbar und erfahrbar wird..." (2.7b,S178 Anmerkungen)

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  Christuserfahrungen und auch Stigmata-Erlebnisse sind selbstverständlich umstritten. Unter dem Dogma der Erfahrung müssen sie geltengelassen werden. Nach dem Dogma der Wiederholbarkeit des Experiments und der statistischen Aufbereitung müssen sie abgelehnt werden. Dem Realisten müssen sie Fakt sein und auch dem Pragmatiker müssen solche Erfahrungen als Tatsachen gelten. Der Idealist will sie denken können, der Materialist in irgendeiner Weise messen und anfassen (siehe der 'ungläubige Thomas'), der Spiritualist will sie verinnerlicht ins Bild bekommen. Damit sind auch die modernen

Christuserfahrungen an das (weltanschauliche) Kreuz genagelt (2.8 Anmerkungen). Da es sich bei ihnen um ganz persönliche Erlebnisse handelt, weswegen sie meistens von den 'Probanden' selbst verschwiegen werden (s. 2.7b), kann man es aber auch nicht gelten lassen, wenn sie durch moderne Pharisäer von Amtswegen dubiosen spirituellen Praktiken wie Zeitreisen zugeordnet werden (2.9) oder nonnenhaftem Streben der 'Unio mystica', d.h. der unzeitgemäßen mittelalterlichen mystischen Vereinigung mit dem Herzjesulein, das so oder so immerhin männliche Züge aufweist.

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Empirie ist der einzige Maßstab, der zu Recht in unserer Zeit an alle Erfahrung angelegt werden darf, sei sie nun positivistisch, konstruktivistisch, materialistisch oder idealistisch, pragmatisch, rationalistisch oder spiritualistisch usw.

 

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Neues Weltbild - Vom Meer aufs Land

 

Im Ergebnis entstand nach 1500 ein neues Weltbild. Nach Karl Jaspers liegt da ein wesentlicher Einschnitt, eine Achsenzeit (3.1 Anmerkungen). Das ptolemäische Weltbild wurde ersetzt durch das kopernikanische und brachte die Wende zur Anschauung der Erde als des runden Weltkörpers. Die Erforschung der Welt durch die Seefahrt ist ein Sinnbild der Entwicklung – sie ging vom Meer aufs Land vor sich: Weil man vorher schon ostwärts nach Indien gekommen war, ergab sich jetzt denkerisch die Möglichkeit eines westlichen Seeweges dorthin. So wurde West-Indien gesucht, aber Amerika entdeckt. Die bei der Seefahrt erstellten Landkarten geben ein kenntnisreiches Bild all dessen, was man vom Wasser aus erkunden konnte. Mit den zusätzlichen Stichfahrten in die Flußgebiete ergaben sich detailreiche

Kenntnisse von Land und Leuten der neuentdeckten Kontinente im Umriß. Das Hinterland der Kontinente bestand dabei noch aus den weißen Flecken der Landkarte. Erst allmählich wurden auf kontinentalen Entdeckungsreisen diese Gebiete erforscht, und es begann die Kolonialisierung (3.2 Anmerkungen). Und ähnlich verfuhr die Naturwissenschaft in allen Gebieten: Erst wurde die sinnliche Seite der Welterscheinungen in Umrissen neu beobachtet und systematisiert. Nachfolgende Forschungen untersuchten auch das bis dahin im Detail Unbekannte. Die Erkenntnisse der Antike erwiesen sich dabei als fehlerhaft und unzureichend, auch weil die wiederholt übersetzten aristotelischen Texte dem griechischen Urtext verfremdet und daher mißverständlich waren (3.3 Anmerkungen).

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    Heute haben wir die ganze materielle Welt erforscht und entschlüsselt, es scheint keine weißen Flecken mehr zu geben. Sie sind dafür in den verlassenen seelischen und spirituellen Gebieten zu suchen, auch wenn es den meisten Zeitgenossen eher schwarz vor den Augen wird, wenn in diese Richtung gepeilt wird: "Du, Karle, geh' in Dich" - "Noi, des isch' mer z'weit!" (3.4 Anmerkungen). Bei solcher Antwort auf die Frage nach dem Menschen hätte die ägyptische Sphinx den Betreffenden gleich verschlungen. 'Erkenne Dich selbst', die Aufforderung aus griechischen Zeiten gilt heute noch für den Erkenntnis-Suchenden und erst recht sogar für den seiner selbst bewußt gewordenen Menschen der Neuzeit, der in der Entwicklung der sogenannten Bewußtseinsseele begriffen ist. Auch hier kann empirisch beobachtend geforscht werden. Das Fundament dafür hat Rudolf Steiner geschaffen (3.5, Anmerkungen  s.a.1.9). Es geht letztlich um den Aufbruch ins Unerwartete (3.6 Anmerkungen). Die Suche dreht sich um: Vom Land aufs Meer (3.7 Anmerkungen). Auch hier wird die Welt zunächst 'im Umriss' erforscht, aber ihre geistige Seite (3.8 Anmerkungen). Schon der Reichenauer Abt Waldo hat für Karl den Großen eine 'Meerfahrt' unternommen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um Forschung in den Gefilden der geistigen Welt, die Karl der Große an ihn als einen Vertreter esoterischen Christentums delegierte (3.9 Anmerkungen). 'Grenzerfahrungen' geschehen auch in der Meditation immer zwischen Bekanntem und

Unbekanntem. Da tauchen die Seelenrätsel auf und Rudolf Steiner hat dieses Motiv auch als Titel für ein grundlegendstes Buch gewählt, in dem nicht die zeitgenössische Resignation an Erkenntnisgrenzen geteilt wird (3.1 Anmerkungen 0). Die Grenze wird überschritten, aber nicht imperialistisch! Dafür sorgt nicht eine wohlaufgerüstete jenseitige Bevölkerung, sondern da gibt es von vornherein einen Grenzwächter: den Hüter der Schwelle (3.11 Anmerkungen). Und über die geistige Waffenrüstung kann bei Paulus gelernt werden (3.12 Anmerkungen). Wenn einer triumphiert, daß sein Hoheitsgebiet immer größer wird, dann hat er vielleicht nur nicht gemerkt, daß die geistigen Wesen sich von ihm zurückgezogen haben. Er ist bei solchem Beharren im Sinne des Wortes: von allen guten Geistern verlassen! Geduld und Ausdauer sind Wegbereiter der Inspiration, denn es geht darum, daß die geistigen Wesen sich erst zuneigen, wenn auch ihnen eine freilassende und selbstlose Haltung entgegengebracht wird, die das Erfolgsstreben als Opfer zu bringen bereit ist. Und vor allem: wer meditiert, sollte wissen, daß er das nicht im luftleeren Raum tut. Der Seelen- und Geistesraum ist bevölkert wie der physische Raum von Wesen aller Art. Wer da nur an seine Ausgeglichenheit und Entspannung oder seine Klugheit oder denkt, der macht sich blind für die Umgebung, auf die er sich eingelassen hat. Aber dazu in den folgenden Kapiteln mehr. 

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Aus Hans Erhard Lauer:

"Aggression und Repression - ihre Ursache und Überwindung in der heutigen Gesellschaft. Methodik und Grunderkenntnisse der Wissenschaft vom Menschen = Anthroposophie":

..."Wenn ich im Folgenden versuche, in gerafftester Kürze zunächst die Methodik der Wissenschaft vom Menschen zu charakterisieren, wie sie von Rudolf Steiner entwickelt und praktiziert worden ist, so möchte ich davon ausgehen, daß wir in jeder Wissenschaft zu unterscheiden haben ihr Subjekt d.h. den, der sie betreibt, und ihr Objekt d.h. das, was ihren Gegenstand bildet. In der Naturwissenschaft ist das Subjekt der Mensch, das Objekt die Natur, also etwas von jenem Verschiedenes: Sie trägt daher den Charakter der Fremderkenntnis. Daß sie entstehe, hat zur Voraussetzung, daß das Objekt dem Subjekt für dessen Erfahrung irgendwie gegeben wird. Dies geschieht in der Naturwissenschaft durch die sinnliche Beobachtung. Sie hat darum ihren geschichtlichen Siegeszug erst seit dem Moment angetreten, als sie die Sinnesbeobachtung mit Entschiedenheit zum Ausgangspunkt ihrer Forschung machte. Zustande kommt die Naturforschung dann dadurch, daß der Mensch den Inhalt der Sinnesbeobachtung denkerisch verarbeitet. In der Menschenwissenschaft ist das Subjekt der Mensch, das Objekt - abermals der Mensch. Beide sind hier also miteinander identisch. Sie trägt daher den Charakter der Selbsterkenntnis. Voraussetzung dafür, daß sie zustandekommt, ist auch hier, daß das Objekt dem Subjekt erfahrungsmäßig gegeben wird. Da jenes aber mit diesem identisch, d.h. der die Erfahrung denkerisch verarbeitende Mensch ist, kann die Erfahrung, die ihren Ausgangspunkt bilden muß, nicht eine äußerlich-sinnliche, sondern nur die innerlich-seelische Selbstbeobachtung des denkenden Menschen sein. Diese bildet in der Tat die einzige Eingangspforte, durch die man in eine wahre menschen-wissenschaftliche Forschung eintreten kann, gleichsam das einzige Nadelöhr, durch welches jeder hindurch muß, der diesen Eintritt vollziehen will. Die Forschung selbst kommt dann auch hier durch die denkerische Verarbeitung des also Beobachteten zustande.  Nun ist aber eine solche Selbstbeobachtung, wie Steiner gezeigt hat, dem heutigen Menschen nicht ohne weiteres möglich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens weil er im Zeitalter der Naturwissenschaft so sehr, so einseitig an die sinnliche Beobachtung der Außenwelt sich gewöhnt hat, daß die Fähigkeit der inneren Selbstbeobachtung fast völlig in ihm verkümmert ist. Diese Verkümmerung hat ihren Tiefpunkt in unserem Jahrhundert durch die Wirkung der Massenmedien erreicht, die den Menschen tagtäglich von früh bis spät ununterbrochen mit Sinneseindrücken des Auges und des Ohres überschütten. Der zweite Grund liegt darin, daß wir im Denken im eigentlichen Sinne des Wortes selbst tätig sind. Wir sind aber zunächst nicht in

der Lage, eine Tätigkeit auszuführen und dieses unser Tun gleichsam von außen als Beobachtung zugleich anzuschauen. Das wird erst dadurch möglich, daß wir die Intensität unserer Denktätigkeit weit über ihren üblichen Grad hinaus erhöhen. Und dies wiederum läßt sich nur dadurch erreichen, daß wir unser Denken in einer Art schulen, die Steiner einmal vergleichsweise als eine seelische Gymnastik bezeichnete. Wie wir nämlich die Muskelkraft unserer Glieder dadurch verstärken können, daß wir bestimmte Bewegungen derselben in regelmäßiger Übung durch längere Zeit immer wieder ausführen, so können wir auch die Intensität unseres Denkens dadurch bedeutend steigern (und im Gegensatz zur physischen Leiblichkeit unbegrenzt), daß wir bestimmte Denkakte durch eine entsprechende Zeit hindurch in regelmäßig wiederholter Übung vollziehen. Es handelt sich dabei um Denkakte, durch die uns irgendeinmal eine Erkenntnis aufgegangen ist, eine Wahrheit aufgeleuchtet hat. Es kommt dabei darauf an, daß man sich nicht nur an die betreffende Wahrheit immer wieder erinnert, sondern daß man den Gedankengang, der einen zu ihr geführt hat, immer wiederum vollzieht und sich das Erkenntniserlebnis, das er einem gebracht hat, immer wieder von neuem verschafft. Man kann sich einen solchen Gedanken selbst wählen oder von jemand empfehlen lassen, der Erfahrung auf diesem Gebiete hat. Auf diesem Wege verstärkt sich die Energie unseres Denkens in solchem Maße, daß man es, während man es vollzieht, zugleich innerlich als Tätigkeit wahrnehmend erlebt. Was erfährt man dadurch? Hier sei aus der Fülle der Erlebnisse zunächst nur eines herausgegriffen, das auf den ersten Blick banal erscheinen mag, aber doch von unermeßlicher Bedeutung ist. Es ist die Erfahrung, daß wir uns im Denken in einer uns allen gemeinsamen Sphäre bewegen. Um ein einfachstes Beispiel dafür zu nennen: daß 2 x 3 = 6 und 3 x 4 = 12 ist, gilt für uns alle in gleicher Weise. Man könnte dagegen einwenden: gewiß gilt dies für die Welt der Zahlen. Aber es gibt viele Gebiete, in denen die Gedanken verschiedener Menschen sich scharf widersprechen. Dem ist in der Tat so. Aber warum ist es auf einem Gebiet so, auf anderen wiederum anders? Der Grund davon liegt darin, daß wir hinsichtlich der Beziehungen der Zahlen zueinander gefühlsmäßig in keiner Weise engagiert sind, während wir auf den meisten anderen Gebieten mit unseren Sym- und Antipathien, mit unserem Triebleben an unserem Denken beteiligt sind und dieses dadurch, ohne uns dessen bewußt zu sein, lenken und bestimmen. In dem Maße, als es uns gelingt, diese Einflüsse aus unserem Denkens auszuschließen und "sine ira et studio" (ohne Zorn und Eifer) unsere Begriffe zu bilden, werden wir erfahren, daß wir diese auch in den schwierigsten Problemen zur

Übereinstimmung bringen können. Allerdings werden wir dabei zugleich eine andere Erfahrung machen: nämlich diese, daß in der Gedankenwelt in einer Beziehung dieselben Verhältnisse gelten wie in der sinnlichen Wahrnehmungswelt. Wie wir nämlich innerhalb der letzteren einen Gegenstand immer nur von einer Seite beobachten können, einmal von vorn, dann von hinten, dann von rechts und schließlich von links, und jedes Mal ein anderes Bild von ihm bekommen, das aber mit allen anderen zusammengenommen werden muß, damit wir die "ganze Wahrheit" über den Gegenstand erfahren, - so zeigt auch jeder Begriff, den wir von einer Sache bilden, in Wahrheit nur einen Aspekt derselben und muß durch andere, gegensätzliche Begriffe derselben ergänzt werden, damit wir die ganze Wahrheit über sie erfassen. Diese verschiedenen Begriffe widersprechen einander in Wahrheit nicht, sondern beleuchten die betreffende Sache nur von verschiedenen Seiten. Sie fordern dazu auf, die Stand- bzw. Gesichtspunkte zu eruieren, von denen aus sie gebildet wurden. In ihrer Beziehung zu diesen Gesichtspunkten enthüllt sich erst ihre eigentliche Bedeutung. Die Fähigkeit, in solcher Weise die Wahrheit über eine Sache zu erfassen, ist jedem Menschen in höherem oder geringerem Maße eigen. Durch sie erwerben wir uns das, was wir als "Erkenntnis" bezeichnen. Wir verstehen darunter, daß wir durch sie das Wesen, die gesetzmäßigen Zusammenhänge der Erscheinungen uns in begrifflicher Form in unserem Bewußtsein vergegenwärtigen. Sie ist ein spezifisches Charakteristikum aller Menschen. Aber diese Fähigkeit bzw. ihre Errungenschaften kommen dem Menschen nicht - wie die instinktiven Leistungen der Tiere - von selbst und für alle in gleicher Weise zu, sondern müssen individuell durch je eigene Anstrengung erworben werden. Und jede dieser Erkenntniserrungenschaften ist erstmals durch einen Menschen erlangt worden, mit dessen Namen sie für immer verbunden bleibt: so sprechen wir vom Pythagoräischen Lehrsatz, von der Aristotelischen Logik, von den Keplerschen Planetengesetzen, den Mendelschen Vererbungsgesetzen usw. Und doch bleiben solche Erkenntniserrungenschaften nicht Privateigentum der betreffenden Persönlichkeiten. Sie können vielmehr, sobald sie einmal ausgesprochen oder veröffentlicht wurden, von jedem anderen nachvollzogen werden und werden damit zum Allgemeingut der Menschheit. Es sind die betreffenden Persönlichkeit gleichsam nur die Werkzeuge, derer sich die Menschheit bedient, um sich die entsprechenden Erkenntnisse zu erwerben. Darum gehen auch die Autorenrechte an solchen Erkenntnisleistungen bzw. Geistesschöpfungen bald nach dem Tode ihrer Urheber an die Allgemeinheit über"...


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Praktische Folgen der geistigen Entwicklung

     Bei der sinnlich-materialistischen Erschließung der Welt wurden die neugewonnenen Erkenntnisse der Mechanik und Anorganik für das Leben praktisch angewandt und mittels vieler Erfindungen und daraufhin entwickelter Apparate technisch und wirtschaftlich nutzbar gemacht. Der bis dahin zweigliedrige Lebenszusammenhang von Kirche und Staat wurde um das selbständige Wirtschaften der Bürger in Zünften und Gilden der immer mächtiger gewordenen Städten bereichert. Dann kam es schließlich zur industriellen Revolution und der dreigliedrige soziale Organismus entstand, mit all den Problemen, die zwischen Arbeitern, Erfindern und Bürgern entstanden sind und seither ihrer Harmonisierung harren (4.1 Anmerkungen). Dazu ein Beispiel:

 "Die Demonstrationen in Israel zeigen: Das Land sorgt sich weniger um Sicherheit als um Wohlstand - Doch anders als beim Arabischen Frühling geht es beim Israelischen Sommer nicht um Freiheit und Demokratie - sondern 'bloß' um eine gerechtere Gesellschaft" (4.2 Anmerkungen) 

Hat hier noch niemand an das Grundeinkommen gedacht?

 

     Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bewegt auch heute die Menschen, wenn sie auch nicht an die historische Prägung dieser Ideale aus der Französischen Revolution angeknüpft werden. Eine Dreigliederung der Motive ist aber auch hier erkennbar und treibt die Menschen an. Auch die Globalisierung ist erst das neuzeitliche Ergebnis wirtschaftlich-technischer Errungenschaften, für die die Entfernungen auf unserem Globus (fast) keine Rolle mehr spielen. Die Zeitverschiebung macht den Osten zum billigen Zulieferer. Wenn in aller Frühe in Kasachstan und anderswo Brötchen gebacken, dann mithilfe der Zeitverschiebung scheinbar ohne Zeitverlust nach Europa gejettet und ab 7 Uhr morgens bei uns verspeist werden können, dann ist die Globalisierung praktische Tatsache geworden, die Kasachen werden dabei aber zu allerbilligsten Zulieferern gemacht. Ex oriente lux sagten die Alten: Aus dem Osten kommt das Licht, die Weisheit. Es ist dort jeden Tag früher hell als bei uns. Die Neuen haben entdeckt, daß auch die Brötchen dort früher gebacken werden können als bei uns. Mit der Globalisierung sollte es heißen Ex oriente pane: Aus dem Osten kommen die Brötchen und alles andere aus den ehemaligen Ostblockländern bis zu den Produkten made in China, Taiwan, Indien Japan usw.. Der Westen ist in der materiellen Produktion längst überrundet, die religiösen Potentiale des Ostens haben materiell Fuß gefaßt - Produktherstellung in religiöser Inbrunst (4.3a). Magere Löhne und unwürdige Rahmenbedingungen des Arbeitens werden dort noch klaglos hingenommen, Auch die krassen Umweltverschmutzungen sind kein Gegenstand öffentlicher Revolte. Wenn hier einmal ein Erwachen in Gang kommt, ist es aus mit der billigen Produktion. So sind viele, auch global agierende Unternehmen entstanden, die 'fair-trade' oder ähnliches auf ihr Logo schreiben. Ein Bericht bei 'arte' am 6.8.2013 deckte auf, wie schonungslos und kriminell viele dieser Lieferanten mit ihren angeheuerten Arbeitskräften umgehen. Die Macher erweisen sich als reine Profiteure, die sich selbstbeweihräuchernd mit einem sozialen Nimbus umgeben. Man wird erinnert an die Ausführungen von Rudolf Steiner: "...die Geisteswissenschaft zeigt gerade, daß alles menschliche Elend lediglich eine Folge des Egoismus ist und daß in einer Menschengemeinschaft ganz notwendig zu irgendeiner Zeit Elend, Armut und Not sich einstellen müssen, wenn diese Gemeinschaft in irgendeiner Art auf dem Egoismus beruht...". 

Und Walter Abendroth, fügt hinzu: "Was hier als gesinnungsmäßige Voraussetzung sozialer Gesundung unterstrichen wird, läuft - wie unschwer zu bemerken sein dürfte  idealistische Gesinnung von der materialistisch-utilitaristischen verdrängt, der Industrialismus hier wie dort das alles Leben regulierende Gesetz, der Wille zur Macht - ob offen oder geheim - die hier wie dort wirksame allgemeine Triebkraft nicht nur bei den Herrschenden, sondern bei den Völkern..." (4.3b Anmerkungen). Das ist 1977 geschrieben. Heute haben wir de facto lauter Billiglohnländer in den ehemaligen sozialistischen Ländern. Aber trotzdem ist die Möglichkeit auch einer organischen und menschenrechtlichen Entwicklung neu in der Weltgeschichte und stellt sich zunächst als Erkenntnisforderung. Im öffentlichen Leben scheint sie noch nicht bewußt geworden zu sein und daher ist gesellschaftliche Gestaltung bisher alles andere als organisch. Organische Entwicklung ist erst durch den epochalen Übergang von 2 zu 3 Gliedern des sozialen Lebens möglich, wo jetzt ein Mittleres – der Rechtsstaat – zwischen dem Gegensatz von Kultur und Wirtschaft ausgleichen kann (siehe nebenstehenden Text und den Beitext auf der Startseite, 4.4 Anmerkungen). Denn eine Zweiheit kann immer nur spannungsgeladene Polaritäten schaffen, die durch ihre Steigerung aber schließlich zu einer Dreiheit führen. Diese kann schließlich zu fruchtbarer Entwicklung führen (4.5 Anmerkungen), läßt aber auf gesellschaftlichem Gebiet auf sich warten, weil die neuzeitlichen Möglichkeiten noch nicht erkannt und ergriffen werden. Im Westen annektiert bisher der Staat das Kulturleben und andererseits beeinflusst die Wirtschaft diesen wiederum mehr oder weniger. Im Osten hat er Kultur und Wirtschaft gleichermaßen in den Griff genommen und so das Prinzip des lebensunfähigen Einheitsstaats auf die Spitze getrieben. Der 'Kapimat' und der 'Diamat' gleichermassen (kapitalistischer + dialektischer Materialismus) beschrieben bisher die Entwicklung jeweils aus ihrer Sicht, wobei historisch die Mehrheit der Arbeiter zum Diamat mit dem historischen Materialismus hinneigte, weil sie sich als besitzloser Stand darin besser wiederfand. Erst eine Gliederung wird den Einheitsstaat überwinden, sozialorganische - auf den Urgedanken des Kommunismus hinaus. Aber eben den Urgedanken, der niemals und nirgends verwirklicht, vielmehr bisher überall, wo er angeblich

praktiziert werden sollte, durch das primitive Mißverständnis des Gleichheitspostulats, durch tendenziöse Verirrungen des Wirtschaftsdenkens, durch ideologische Spitzfindigkeiten, partei- und kollektiv-egoistische Interessen sowie nackte Machtgelüste der vermeintlichen Freiheitsbringer tausendfach korrumpiert wurde und immer wird. Schon die ungeschönigten, eindeutigen Sinngehalte von Begriffen wie 'Klassenkampf' und 'Diktatur des Proletariats' lassen keinen Zweifel darüber, wohin in Wahrheit die Reise gehen soll. Denn die Versicherung, daß es sich dabei um vorübergehende 'notwendige Übel' handle, deren Gültigkeitsfrist abgelaufen sein werde, sobald die angestrebte neue, wahrhaft kommunistische Ordnung einmal gefestigt und keinen Rückschlägen mehr ausgesetzt sei - diese Versicherung ist bislang nirgendwo eingelöst worden. Sie widerspricht vor allem der unumstößlichen Erfahrung, daß alles sich nach dem Gesetze weiterentwickelt, nach welchem es angetreten, außer es mache auf seinem Wege in die Selbstverwirklichung eine durchgreifende innere Wandlung durch, nehme neuartige ideelle Impulse in sich auf. In diesem Sinne schlägt Steiner das Thema an".. und wenig später: "Was Mitteleuropa - von Rudolf Steiners Persönlichkeit und Wirken einmal abgesehen - versäumte, beizeiten durch geistige Mittlerschaft zu leisten: die Zusammenführung von Ost und West auf dem Boden einer weltgültigen modernen Spiritualität, das scheint sich nunmehr - ersatzweise - aus ganz anderen Impulsen und auf zugleich vermeintlich 'realerer' und zweifellos gefährlicherer, jedenfalls weit niedrigerer Ebene anbahnen zu wollen in Gestalt der noch lange nicht spruchreifen, aber sich in allerlei ideologischen Symptomen ankündigenden Annäherung zwischen modernem Kapitalismus und modernem Sozialismus, zwischen Diktaturen und Demokratien unter dem Zeichen der 'Industriegesellschaft'. Hier kommt die Konvergenztheorie wieder ins Gespräch, doch aus einer neuen Perspektive... Es liegt die Behauptung nahe, die Gegensätzlichkeit des westlichen wissens-/wirtschaftlichen Denkens und dem mystisch-metaphysischen Welterlösungstreben sei eine Sache der Vergangenheit; heute hingegen sei über den ganzen Erdball hin die religiöse, geisterfüllte Weltbetrachtung von der positivistisch-intellektuellen, die Entwicklungen ermöglichen und damit die Entwicklung auch wirklich in die Neuzeit führen (4.6 Anmerkungen).

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