Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

III. Zeit und Geschichte

6. Der soziologische Aspekt

(S254)   Die Darstellungen  des letzten Kapitels sollen im Folgenden dadurch vervollständigt werden, daß eine Skizze des soziologischen Aspektes der Entwicklung in den drei mittleren Epochen der Geschichte zu ihnen hinzugefügt wird. Vor allem soll dadurch noch von einer neuen Seite her die Eigenart unsrer gegenwärtigen fünften Epoche ins Licht gesetzt und gezeigt werden, was mit der Behauptung gemeint ist, daß in dieser als derjenigen, in welcher das Wesen der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit überhaupt zur reinsten und vollsten Ausprägung gelangt, die menschliche Individualität zum Repräsentanten des Menschlichen schlechthin aufrücken soll.

   Aus den vorangehenden Ausführungen ist wohl ersichtlich geworden, daß durch die Einbeziehung von Urzeit und Vorgeschichte in den Horizont der Betrachtung in der Art, wie es hier geschehen ist, sich nicht nur - wie wir im ersten Kapitel behaupteten - ein bestimmterer, konkreterer Begriff der Geschichte im ganzen ergibt, als es vor dieser Einbeziehung möglich war, sondern auch die einzelnen Epochen, in welche die Geschichte sich gliedert, in einem noch bestimmteren und tieferen Sinne ihre Eigentümlichkeiten und ihre Unterschiede offenbaren. Allein aus sich heraus enthüllt eben die Geschichte - das hat sich am Historismus gezeigt - nicht die volle Tiefe ihrer Geheimnisse, sondern erst wenn sie auf dem Hintergrund der mehr als nur geschichtlichen bzw, "übergeschichtlichen" gesamtirdischen Menschheitsentwicklung betrachtet wird.

   Wenn nun im Folgenden speziell ihren soziologischen Aspekt zu skizzieren versuchen, so soll auch dies wiederum vom selben Gesichtspunkt aus geschehen. Dadurch wird sich diese Skizze grundsätzlich unterscheiden z.B. von einer solchen Darstellung, wie sie - allerdings in breiter Ausführung - Alfred Weber in seiner "Kulturgeschichte als Kultursoziologie" gegeben hat. Weber faßt in ihr zusammen, was sich einer - freilich mittels einer soziologischen Kategorienbildung in ihrer Unterscheidungs- und Vergleichungskraft geschärften - realistisch-pragmatischen Betrachtung unmittelbar der Geschichte selbst an soziologischen Gestaltungen und Wandlungen darbietet. Hier dagegen soll das Geschichtlich-Tatsächliche im Zusammenhang mit dem Urbildlich-Archetypischen betrachtet werden, das sich - im Sinne der vorangehenden Ausführungen - in den einzelnen Epochen abbildet. Wir möchten jedoch nicht unterlassen, an dieser Stelle nochmals auf die - schon im Vorwort erwähnten - bisher auf acht Bände gediehene, ebenfalls vom (S255)  soziologischen Aspekt aus entworfene Darstellung der Menschheitsgeschichte hinzuweisen, die Karl Heyer unter dem Titel "Beiträge zur Geschichte des Abendlandes" veröffentlicht hat. Diese, gleichfalls auf den Ergebnissen der anthroposophischen Geisteswissenschaft fußende Darstellung beschränkt sich jedoch nicht auf den speziellen, durch das Zeitproblem bestimmten Gesichtspunkt, den wir in diesem Teil unsres Buches einnehmen.


I

   Was zunächst die ersten geschichtlichen Hochkulturen betrifft, so bewegt sich ihre soziologische Charakteristik heute weitgehend in der Richtung der Auffassung, die in besonders eindringlicher Weise als das aus der vor- und frühgeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte für ihn resultierende Fazit Alexander Rüstow dargestellt hat in dem 1950 erschienenen ersten Bande "Ursprung der Herrschaft" seines großen Werkes "Ortsbestimmung der Gegenwart". Wohl das hervorstechendste soziologische Merkmal dieser ersten Hochkulturen liegt ja in der Ausbildung einer in Klassen (Kasten) geschichteten Gesellschaft, welche ein System der Herrschaft bzw. Dienstbarkeit zwischen ihren verschiedenen Schichten begründet. Rüstow führt ihre Entstehung zurück auf den Vorgang einer Überschichtung, durch welchen kulturell höherstehende, seßhafte, ackerbauernde Bevölkerungen durch eindringende primitivere nomadische Eroberer unterworfen wurden. Solche Überlagerungen finden nach ihm auf den verschiedenen Stufen kultureller Entwicklung statt und begründen auch schon die vor- und frühgeschichtlichen Sozialformen. Zur Grundlage und zugleich zur entscheidenden Bedingung für die Entfaltung von Hochkulturen werden sie erst dann, wenn sowohl auf seiten der Eroberer wie der Unterworfenen bestimmte Voraussetzungen vorhanden sind. Diese bestehen bei den letzteren darin, daß wir es nicht mehr mit primitivem Pflanzertum, sondern mit vollentwickeltem Bauerntaum (Ackerbau und Viehzucht) d.h. mit einer bäuerlichen Dorfkultur zu tun haben. Bei den ersteren dagegen darin, daß vom primitiven Jägertum bereits der Übergang stattgefunden hat zum Hirtentum, zunächst zum Rinder- und zuletzt zum Pferdehirtentum. Denn erst durch diese Fortschritte wird das Bauerntum wirtschaftlich produktiv genug, um erhebliche Überschüsse über seinen eigenen Mindestbedarf hinaus zu erzeugen, und bildet sich innerhalb des Hirtentums jene Herrengesinnung, aber auch jene weiträumige Beweglichkeit und kriegerische Macht aus, die es zur Herrschaftsgründung befähigen. Ganz besonders tritt dies dann ein, wenn zur Zucht der Rinder die der Pferde hinzukommt. Die letztere ermöglicht die Entwicklung des (von Pferden gezogenen) Streitwagens und endlich des Reitertums mit seiner (S256) Fähigkeit, in Wander- oder Kriegszügen mit großer Schnelligkeit weite Räume zu überwinden. Die pflanzerisch-bäuerlichen Kulturen weisen überwiegend eine matriarchalische, die Hirtenkulturen dagegen fast durchweg eine patriarchalische Sozialordnung auf. Jenes gibt die Herrschaft von Mystik und Magie das Gepräge, diese kennzeichnet eine nüchtern intellektuelle Geistesart.

   Rüstow unterscheidet drei große Flutwellen von Nomadenstürmen, die durch die fortschreitende Austrocknung Mittelasiens, von wo sie ihren Ausgang nehmen, verursacht wurden:

   Eine erste um 4000 v.Chr., eine Wanderung von Rinderhirten, welcher die frühgeschichtlichen Kulturen von Ägypten, Kleinasien, Mesopotamien, Indien (Induskultur) u.a. ihre Entstehung verdanken. Eines zweite, eine Auswanderung von Streitwagenvölkern, um 2000 v.Chr., denen er die Italiker, Jonier, Achaier, Hethiter, Kossäer, die Hyksos u.a zurechnet. Eine dritte, von Reitervölkern, seit 1200 v.Chr., zu denen er die Illyrier, Dorer, Chaldäer, Perser, die Arier in Indien u.a. zählt, und die ihre letzten Nachzügler in Türken und Mongolen gehabt haben.

   Jede Entfaltung höherer Kultur setzt Arbeitsteilung und Spezialisierung voraus. Diese aber wir erst bei einer bestimmten Größe der Bevölkerung möglich, da sonst jeder, zumal bei der anfänglich noch extensiven Wirtschaft, ausschließlich mit der Nahrungsbeschaffung beschäftigt ist. Die notwendige Massierung der Bevölkerung aber entsteht eben erst durch Überlagerung. Dabei lagert sich immer relative "Unkultur" über relative "Kultur". Allerdings haben beide ihre Licht- und Schattenseiten.

"Von Klagen über das niedrige Kulturniveau, die barbarische Roheit und die räuberische Angriffigkeit der Nomaden sind die ältesten Geschichtsquellen seßhafter Völker voll. Umgekehrt empfinden die Nomaden die seßhafte Kultur, besonders die Städte, zwar einerseits als unwiderstehliche Verlockung, aber andrerseits als gefährlich, überfeinert, degeneriert, zersetzt, morbid. Beide Seiten hatten dabei weitgehend recht. Solches wechselseitig abwertende Bewußtsein kulturellen Gegensatzes führt auf nomadischer Seite immer wieder zu der Warnung vor den Versuchungen des seßhaften Lebens und zu dem enthaltsamen Entschluß, der Unverdorbenheit und Schlichtheit der eigenen Tradition die Treue zu wahren. Der berühmte alttestamentliche Fluch auf den Ackerbau bei der Vertreibung aus dem Paradies entspringt... solcher nomadischen Abwertung des seßhaften Bauerntums und seines Zwanges zu schwerer körperlicher Arbeit, die den Nomaden verhaßt und verächtlich war" (a.a.O.S81).

   Jedoch findet ein allmählicher Ausgleich - und vielfach auch eine Vermischung - statt. Die Eroberer können sich, weil sie von der wirtschaftlichen Arbeit befreit sind, politischer, militärischer, aber auch geistig-religiöser (S257) Betätigung widmen. Die Unterworfenen gelangen in den Genuß einer politisch-staatlichen Organisation, eines militärischen Schutzes gegen außen, einer geistigen Führung. Die anfängliche Brutalität der Unterjochung mildert sich, in der Blütezeit des Herrschaftssystems und in seinen besten Vertretern werden die Fürsten zu wahren "Völkerhirten" und "Landesvätern", zu Hütern des Rechts und Förderern der kulturellen Entwicklung. Dennoch bleibt das Herrschaftssystem zwiespältig, mit dem Fluch seines Urspungs beladen, ja die eigentliche "Erbsünde" aller Kultur; denn die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen verletzt sein unaufhebbares Recht auf Freiheit, - und das Prinzip der Herrschaft widerspricht wahrer Gemeinschaft, zu welcher der Mensch bestimmt ist. "Der allerschärfste und tiefstgreifende Widerspruch geradezu antinomischen Charakters besteht aber zwischen dem ausgesprochen herrschaftliche, ja gewalttätigen Ursprungs- und Ausgangscharakter der gesamten Entwicklung aller Hochkulturen und der für die Vollendung der gleichen Entwicklung unumgänglichen und für das wahre unverbildete Wesen des Menschen unabdingbaren Forderung der Freiheit. Nach dem furchtbar gewalttätigen und hemmungslos brutalen Anfangsstadium der Überlagerung setzt zwar regelmäßig eine immer weiter fortschreitende Entwicklung in Richtung auf Gemeinschaft, auf die Ideale der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit hin ein. Aber noch nie wurde dieser Weg zu Ende gegangen, noch nie das Ziel erreicht, das Gift des universal-geschichtlichen Sündenfalles der Überlagerung noch nie aus dem Sozialkörper ausgeschieden. Ganz im Gegenteil gab es immer von neuem Rückfälle, die alles bis dahin mühsam Erreichte wieder in Frage stellten, und vor dem weitaus schwersten und bedrohlichsten dieser Rückfälle in brutalste und virulenteste Überlagerung stehen wir heute. Gerade diese schwerste Antinomie zwischen Ursprung und Ziel aller Hochkultur ist also noch niemals restlos gelöst und überwunden worden, und gerade dies ist die Aufgabe, vor die uns heute, unter sehr erschwerenden Umständen, aber unausweichlich das weltgeschichtliche Schicksal stellt" (a.a.O.S275).

   Es immer verdienstlich und fruchtbar, wenn auf irgendeinem Erkenntnisgebiet eine entdeckte Wahrheit bis zu ihren äußersten Konsequenzen durchgeführt und bis zu ihren letzten Ergebnissen hin ausgeschöpft wird, - wie dies in bezug auf das durch Überlagerung entstehende Herrschaftsprinzip durch Rüstow in seinem Buche geschieht. Andrerseits ist nicht zu verkennen, daß Rüstow dabei demselben Fehler verfällt, der in fast allen solchen Fällen begangen wird: eine Wahrheit, die eine begrenzte Gültigkeit hat, zu verabsolutieren. Das Herrschaftssystem wird für ihn zum universellen Erklärungsprinzip für alles, was in soziologischer Beziehung, ja auch auf religiösem, ethischem, philosophischem Gebiete an Erscheinungen in der Geschichte aufgetreten ist, - und im Maße dieser ihrer Überspannung wird die (S258) von ihm aufgewiesene Wahrheit wieder zur Unwahrheit. Hinzu kommt, daß auch Rüstow eine wirkliche Einsicht in die eigentliche Bedeutung des geschichtlichen Prozesses, - nämlich die volle "Ich"-Werdung des Menschen in dem in den vorangehenden Kapiteln geschilderten Sinne - fehlt. Auch ihm bleibt das menschliche Wesen im Lauf der Geschichte unverändert dasselbe. Daher bemerkt er nicht, daß "Gemeinschaft" in den verschiedenen Epochen Verschiedenes bedeuten und verschiedenen Entstehungsbedingungen unterliegen muß.

   Vor allem aber kommt in seiner ganzen Darstellung eine materialistisch-rationalistische Weltauffassung zum Ausdruck. Auch für ihn ist Religion im Grande nur "ideologischer Überbau" soziologischer Machtverhältnisse. Und die ganze geschichtliche Kulturentwicklung der Menschheit ist ihm ausschließlich durch die Anstöße bedingt, die in jenen außermenschlichen Umweltsfaktoren liegen, welche nach dem Abfluten der Eiszeit sich herausbildenden geographisch-klimatisch-wirtschaftlichen Verhältnisse darstellen. Inwiefern im Innern des Menschenwesens selbst vor sich gehende Wandlungen sie verursachen, wird völlig übersehen.

   Von seiner Theorie eingenommen, vermag Rüstow daher, trotz des außerordentlich reichen und vielseitigen Tatsachenmaterials, das er heranzieht, dennoch gewisse Tatsachen nicht unbefangen nach dem, was sie aussagen, aufzufassen. Er sieht zwar, welche dominierende Rolle in den ersten Hochkulturen Vorderasiens und Ägyptens die Religion gespielt hat. Ja, er stellt sogar fest, daß selbst noch die gewaltigen Eroberungs- und Überlagerungszüge, zu welchen das Arabertum nach der Begründung des Islams aufgebrochen ist, ihren Ausgang genommen haben von dem "charismatischen Propheten und dessen religiöser Lehre." "Die unwiderstehlichen Reiterscharen Omars, die seit 634 die östliche Ökumene überfluteten, was unterschied sie von den Araberstämmen, die bis 632 fast geschichtslos dahingelebt hatten, wenn nicht der Islam, der religiöse Aufruf Muhammeds, des Propheten?" (S77). Dennoch ist ihm "ein Priestertum als Urheber, Träger und Verteidiger der Herrschaftstheologie" nur "die historisch ursprünglichste und idealtypisch anschaulichste Versuchsanordnung. Keineswegs aber die notwendige oder einzig mögliche. Jede Gewaltherrschaft, die sich stabilisieren will, braucht dazu die geistige Hilfe einer Theologie, und wo sie keinen Priesterstand zu ihrer Verfügung hat, schafft sie sich anderweit, so gut oder so schlecht es gehen mag, ihren 'Mythus' und ihre Orthodoxie" (S255).

   Nun haben wir bereits in den vorangehenden Kapiteln darauf hingewiesen, wie nicht nur in der atlantisch-vorgeschichtlichen Zeit die geistige Impulsierung und Führung des menschlichen Lebens von den damaligen "Orakeln" ausgegangen, sondern wie auch die Inaugurierung der nachatlantisch-geschichtlichen Entwicklung der Fortsetzung jener Orakel, dem "Mysterienwesen", (S259) zu verdanken ist. Wir schilderten, wie allerdings in Mittelasien, in der Gegend des später zur Wüste ausgetrockneten Tarimbeckens, das Inspirationszentrum gelegen hat, von welchem durch "Mysterienkolonisationen" den verschiedenen Bevölkerungen der damaligen Zeit die neuen Impulse eingepflanzt worden sind, die zu jener Entwicklung des Denkens und damit der menschlichen Persönlichkeit allmählich führen sollten, welche das "Grundthema" der Geschichte ausmacht. Diese Mysterienkolonisationen entsprechen durchaus in gewisser Weise jenen Wanderungswellen nomadischer Stämme aus dem Innern Asiens, welche Rüstow unterscheidet. Denn es handelte sich dabei jeweils nicht um einzelne "Missionare", sondern um Bevölkerungsgruppen, welche zu Trägern dieser Mysterienimpulse deshalb werden konnten, weil sie die vorgeschichtlich-atlantische Kultur nicht bis zu ihrer letzten Reife und schon in die Dekadenz versinkenden Überreife mitentwickelt hatten. (Eine ins einzelne gehende Darstellung dieser Wanderungsgruppen hat Rudolf Steiner in dem Vortrag "Die Wanderung der Rassen", abgedruckt in "Gäa-Sophia", Jahrbuch der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum Dornach Bd.III,1929 gegeben). Diese Volksstämme erschienen, verglichen mit denen, die sie "überlagerten", primitiv. Sie standen damals noch auf verschiedenen Stufen des Nomadentums, waren Rinder- bzw. Pferdehirten. Sie trugen aber, in verschiedener Art, die Keime zur Intellektualität in sich, welche im Lauf der Geschichte zur vollen Entfaltung kommen sollten. Dagegen waren jene Bevölkerungen, zu deren Beherrschern sie dann wurden und mit denen sie sich später mehr oder weniger stark vermischten, schon früher zu Seßhaftigkeit, zum primitiven Pflanzer- und Bauerntum fortgeschritten, bewahrten aber im übrigen noch weitgehend den durch die Herrschaft von Mythus und Magie bezeichneten Charakter des vorgeschichtlichen Lebens. Diesen hatten sie bis zu einer hohen Stufe, ja bis zu einer schon in die Dekadenz versinkenden Überreife entwickelt, und seine Dekadenz zeigte sich vor allem darin, daß sie ihre magischen Praktiken vornehmlich zu niederen, verwerflichen Zwecken verwendeten. Aus diesen Tatsachen heraus werden die im obigen Zitat Rüstows geschilderten Empfindungen der beiden einander gegenübertretenden Bevölkerungstypen durchaus verständlich. Es erklären sich hierdurch aber auch die jahrhundertelangen Kriege und Kämpfe, die zwischen ihnen stattgefunden haben.

   Bei den letzteren wirkte allerdings noch ein anderes Moment mit, auf das Rudolf Steiner aufmerksam gemacht hat. Die Impulse, welche die "jungen" Völker in sich trugen, waren ihren einzelnen Gliedern selbstverständlich keineswegs vollbewußt. Sie wurden zwar von den Eingeweihten ihrer Mysterien mit Bewußtsein gepflegt und gefördert. Aber was sich innerhalb der Mysteriengemeinschaften abspielte, blieb für die Masse der Bevölkerung ins Geheimnis gehüllt. Diese wurde von den Mysterien aus im Sinne jener (S260) Impulse geführt. Nur in den religiösen Lehren und Kulten, in den von den Mysterien inspirierten Kulturerrungenschaften, kam die Richtung dieser Führung zum Ausdruck. Nun hatten es diese Völker aber gerade wegen ihrer "Jugendlichkeit" zunächst schwer, zur Bewußtheit und Besonnenheit sich hinzuentwickeln. Ihre strotzende Vitalität hätte die Entwicklung zur intellektuellen Besonnenheit, die sie bringen sollten, unmöglich gemacht, wenn sie nicht das Element des Abbaus, des Todes, in sich aufgenommen hätten. Dieses Element konnten sie noch nicht aus sich selbst entwickeln. Sie waren darauf angewiesen, daß es ihnen von außen entgegenkam. Und es trat ihnen dadurch entgegen, daß sie mit jenen älteren, dekadenten, in gewisser Weise das Todeselement in sich  tragenden Bevölkerung zusammenstießen und sich zusammenlebten, - aber auch dadurch, daß sie im kriegerischen Kampfe mit diesen Tod un Vernichtung verbreiteten und erlitten. Steiner führt hierüber aus ("Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung", S27ff):

"Einer großen Anzahl von Menschen der Gegenwart erscheint es... barbarisch, wie es in Asien etwas ganz Selbstverständliches war, daß eine Völkerschaft... oftmals mit großer Grausamkeit eine andre, die schon seßhaft war, sich untertan machte, deren Land eroberte, die Bevölkerung zu Sklaven machte. Das ist überhaupt im weiteren Umfange der Inhalt dieser orientalischen Geschichte über ganz Asien. Während diese Menschen eine hohe spirituelle Anschauung hatten..., verlief die äußere Geschichte in fortwährenden Eroberungen fremden Landes, deren Bevölkerung untertänig gemacht worden ist... Wenn heute auch noch irgendwie Eroberungskriege vorhanden sind, so hat man doch dabei, selbst diejenigen, die sie verteidigen, nicht ein ganz gute Gewissen... In der damaligen Zeit hatte man gegenüber den Eroberungskriegen das allerbeste Gewissen, und man fand, daß dieses Erobern überhaupt gottgewollt ist... Aber diesem Prinzip der Zeit war eben... der Mensch auch im Verhältnis zu den andern Menschen und zur Welt in einer ganz andern Lage als heute. Gewisse Unterschiede in den Bevölkerungsteilen der Erde haben heute ihre prinzipielle Bedeutung verloren; damals waren sie in einer ganz andern Weise vorhanden als heute...

   Was lag da eigentlich vor? In den charakteristischen Fällen, welche die eigentliche geschichtliche Entwicklung im Fluß erhielten, war immer die Bevölkerung, die erobernd auftrat, als Volk jung, - voller Jugendkraft. Was heißt heute unter den Menschen der gegenwärtigen Erdenentwicklung jung sein? Gegenwärtig heißt jung sein so viel Todeskräfte in jedem Augenblick seines Lebens in sich tragen, daß man die Seelenkräfte, die die absterbenden Vorgänge des Menschen brauchen, versorgen kann. Wir haben ja spießende, sprossende Lebenskräfte in uns; die machen uns aber (S261) nicht besonnen, sondern die machen uns gerade ohnmächtig, bewußtlos. Die abbauenden, die Todeskräfte, die fortwährend auch in uns wirken, die nur immer von den Lebenskräften während des Schlafes überwunden werden, so daß wir eben nur am Ende des Lebens zusammenfassen all die Todeskräfte, die fortwährend in uns auch wirken, die nur immer von den Lebenskräften während des Schlafes überwunden werden, so daß wir eben nur am Ende des Lebens zusammenfassen all die Todeskräfte in dem einmaligen Tode, diese Todeskräfte müssen fortwährend in uns sein. Die bewirken die Besonnenheit, das Bewußtsein. Das ist aber eben ein Charakteristikum der gegenwärtigen Menschheit. Solch ein junges Volk, das litt an seinen überstarken Lebenskräften. Die Menschen hatten fortwährend das Gefühl: Ich drücke dauernd mein Blut gegen meine Körperwände. Ich kann es nicht aushalten. Mein Bewußtsein will nicht besonnen werden. Ich kann meine volle Menschlichkeit wegen meiner Jugendlichkeit nicht entwickeln. So sprachen allerdings nicht die gewöhnlichen Menschen, so sprachen aber die Eingeweihten in den Mysterien, die diese ganzen geschichtlichen Vorgänge dazumal noch leiteten und lenkten. Und so hatte eine solche Bevölkerung zuviel Jugend, zuviel Lebenskräfte, zu wenig von dem in sich, was Besonnenheit geben konnte. Dann zog sie aus, eroberte ein Gebiet, wo eine ältere Bevölkerung lebte, die schon in irgendeiner Weise Todeskräfte in sich aufgenommen hatte, weil sie bereits in die Dekadenz gekommen war, - zog aus und machte sich diese Bevölkerung untertänig. Es brauchte nicht eine Blutsverwandtschaft einzutreten zwischen den Eroberern und den zu Sklaven gemachten. Dasjenige, was sich unbewußt im Seelischen abspielte zwischen den Eroberern und den Versklavten, das wirkte verjüngend, - und auf die Besonnenheit hin wirkte es. Und der erobernde Mensch, der sich seinen Hof begründet hatte, wo er nun seine Sklaven hatte, er brauchte nur hinzulenken seinen Sinn auf diese Sklaven, und ich möchte sagen, in der Sehnsucht nach der Ohnmächtigkeit wurde die Seele abgedämpft, und Bewußtheit, Besonnenheit trat ein.

   Dasjenige, was wir heute als individueller Mensch erreichen müssen, wurde damals im Zusammenleben mit den anderen Menschen erreicht. Man brauchte sozusagen um sich eine Bevölkerung, die mehr Todeskräfte in sich hatte, als eine herrisch auftretende, aber junge, nicht zu voller Besonnenheit kommende Bevölkerung sie haben konnte. Die rang sich hinauf zu dem, was sie als Menschen brauchten, dadurch, daß sie eine andre Bevölkerung überwanden. Und so sind diese oftmals so furchtbaren, uns heute so barbarisch anmutenden altorientalischen Kämpfe nichts anderes als die Impulse der Menschheitsentwicklung überhaupt... Die Menschheit hätte auf der Erde sich nicht entwickeln können, wenn nicht diese uns heute barbarisch anmutenden furchtbaren Kämpfe und Kriege vorhanden gewesen wären".

   Erscheinen, so gesehen, diese gewaltsamen Überlagerungen für die damalige Zeit noch in einer tieferen Bedeutung gerechtfertigt, so ist für das, was sich (S262) aus ihnen als Herrschaftssystem und Gesellschaftsschichtung allmählich herausbildete, noch ein anderes zu berücksichtigen. Wir schilderten im vorigen Kapitel, wie die Epoche der ersten Hochkulturen durch ihren "Rückblick" auf die "Urzeit" sowohl im weiteren Sinne derselben als der Kosmogonie wie auch im engeren als der in der lemurischen Zeit zum Abschlusse kommenden physisch-leiblichen Menschwerdung charakterisiert ist. Man könnte auch sagen: Die Kulturverhältnisse dieser Epoche erhielten ihr Gepräge durch das urbildlich-archetypisch gestaltgebende Wirken der Geschehnisse jener "Urzeit". Was damals im Elemente der Anthropogenie sich abgespielt hatte, bildete sich jetzt im Medium der Geschichte ab. Die einstmalige Bildung bzw. Vollendung des dem Räumlich-Natürlichen angehörenden Menschenleibes wiederholte sich jetzt in der Ausbildung des im Zeitlich-Geschichtlichen lebenden Sozialleibes. Dieser Prozeß, als dessen Vermittler man sich das Mysterienwesen der damaligen Zeit vorzustellen hat, ist in einem zweifachen Sinn zu verstehen.

   Wie in der "Urzeit" unter den Wesen der räumlich-natürlichen Welt erst die durch ihre Aufrechtheit gekennzeichnete Menschengestalt in die physische Erscheinung getreten war, so bildete sich jetzt innerhalb der in der vor- und frühgeschichtlichen Menschheit bestehenden Sozialformen erst die das wahrhaft Menschliche repräsentierende soziale Struktur heraus. Ihr waren Gemeinschaftsformen vorausgegangen, die durch die seelisch-magische Verbundenheit ihrer Glieder mit bestimmten Erscheinungen der Natur, namentlich des Tierreiches, gekennzeichnet waren, und die sich im Totemismus der Primitiven in dekadenter Form weitererhalten haben. Selbst in den ersten Hochkulturen (Ägypten, Indien) lebten ihre Reste in den mit ihren Tierkulten zusammenhängenden Clan-Verbänden, von der neuen Sozialstruktur freilich immer mehr in den Hintergrund gedrängt, noch eine Zeitlang fort. Wie aber der Mensch überhaupt sich jetzt seelisch immer mehr von der Natur ablöste und seines Menschentums innezuwerden begann - nimmt doch auch in der Kunst dieser Zeit die Darstellung der physischen, sitzenden oder schreitenden Menschengestalt mit dem menschlichen Antlitz ihren Anfang -, so löste sich jetzt auch die Sozialstruktur von solcher Verbundenheit los und gründete sich ausschließlich auf das gegenseitige Verhältnis der Menschen zueinander.

   Andrerseits aber ist es bezeichnend, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit jetzt als Leib empfunden wurde, dessen einzelnen zusammengehörige (und damit auch aufeinander angewiesene) Glieder ihre verschiedenen Klassen ausmachten. Von hier aus fällt nochmals ein Licht auf das im obigen Zitat Steiners geschilderte Angewiesensein der verschiedenen, diese Klassen bildenden Bevölkerungsgruppen aufeinander für das "volle Menschwerden" ihrer Angehörigen. Dieser "Leib" repräsentierte in soziologischer Hinsicht in (S263) seiner klassenmäßigen Gliederung ebenso das Allgemein- bzw. Gesamt-Menschliche, die "menschliche Gattung", wie in physischer Hinsicht der Urmensch "Adam" die zum "Ebenbild Gottes" erschaffene allgemeine Menschengestalt dargestellt hatte. Es ist daher nicht eine bloße "Herrschaftstheologie", sondern in diesen Beziehungen begründet, wenn das indische Kastensystem, in welchem diese Gesellschaftsschichtung unter allen Völkern die entschiedenste und dauerhafteste Ausprägung erlangt hat, im Rigveda (X,90) in der Weise auf den Urmenschen "Puruscha", das Gegenstück des biblischen Adam, zurückgeführt wird, daß die Brahmanen aus seinem Munde, die Kshatrijas aus seinen Armen, die Vaishijas aus den Schekeln, die Sudras aus seinen Füßen entstanden seien. Daß man es hierbei nicht mit einer bloßen "Herrschaftstheologie" zu tun hat, geht auch aus der Tatsache hervor, daß das indische Kastensystem, wenn es auch seine letzte, volle Ausgestaltung erst durch die "Überschichtung" der vorarischen dunkelhäutigen Bevölkerung Indiens von seiten der arischen erlangt hat, sich aus dieser allein doch nicht erklären läßt. Denn die unterworfene Bevölkerung bildete nur die dienende Kaste der Sudras; die drei oberen Kasten die Priester, der Krieger und der das Wirtschaftsleben Besorgenden gehörten alle der arischen Herrenschicht an und bestanden dem Keime nach schon zur Zeit ihres Eindringens nach Indien. Nach H.v.Glasenapp (Brahma und Buddha, 1926) liegt "die Entstehung des Kastensystems immer noch im Dunkel und bedarf dringend der Aufhellung". Diese ergibt sich aber nur durch den Blick auf den archetypischen Hintergrund dieser Epoche.

   Ein Weiteres kommt noch hinzu. Das Geistige des Menschen, das seinen Wesenskern bildet, hatte sich - wie wir in einem früheren Kapitel schilderten - in der "Urzeit" zunächst in der Herausbildung der Menschengestalt als solcher manifestiert. Er hatte diese Herausbildung noch in Einheit mit dem schöpferischen Urgrund des Gesamtkosmos zusammenwirkend zustandegebracht. Er war mit diesem Urgrund noch verbunden. Auch in seelischer Beziehung war der Mensch damals noch mit der ganzen Natur verbunden, - wie der Paradiesesmythus, die Sage vom Goldenen Zeitalter bezeugen. Aus dieser Verbundenheit heraus hatte er ja die Ursprache geschöpft. Zu selbständigem Dasein hatte sich am Ende der Urzeit erst der menschliche Leib aus seiner ehemaligen Weltverbundenheit herausgesondert. Man könnte auch - von der andern Seite her gesehen - sagen: das Seelische und das Geistige des Menschen wirkten noch unmittelbar bildend und gestaltend in diesem Menschenleibe. Sie gelangten ihm gegenüber noch nicht zu einer selbständigen, speziellen Offenbarung. Es bestand noch jene volle leiblich-seelisch-geistige Einheit, die wir als das Charakteristikum des in die Vorgeschichte eintretenden Menschen an früherer Stelle hervorgehoben haben. Auch diese bildet sich jetzt, in der Zeit der ersten Hochkulturen, im Medium (S264) des Geschichtlich-Sozialen ab. Der sich herausgestaltende, in Klassen gegliederte Sozialleib stellt noch eine sinnlich-geistige Einheit dar. Er ist nicht nur ein soziologischer Tatbestand im äußerlich-pragmatischen Sinne, sondern zugleich auch ein geistig-moralischer. Seine einzelnen Glieder erfüllen nicht nur - im Sinne der Arbeitsteilung - verschiedene soziologische Funktionen, sondern verwirklichen zugleich bestimmte moralische Ideale. Der Träger des Moralischen ist noch nicht die einzelne, "kleine" Persönlichkeit, sondern der allgemeine, "große" Mensch, den dieser Sozialleib repräsentiert. Die "Tugenden", die er zu entwickeln hat, ergeben sich aus dem verschiedenen Charakter seiner einzelnen Glieder.

   Es läßt sich dies am besten aufweisen an dem Bilde, das von diesem Gesellschaftsleibe Plato in seinem "Staat" entworfen hat. Denn wie wir schon früher gesehen haben, daß Plato in seiner Ideenlehre, allerdings in philosophischer Gestaltung, die "Ontologie" gezeichnet hat, welche eigentlich dem noch halbmythischen Bewußtsein der vorgriechischen ersten Hochkulturen entspricht, so bedeutet auch sein Staatsideal eine in philosophisch-begriffliche Form gegossene Darstellung jener Sozialstruktur, welche den ersten Hochkulturen das Gepräge gegeben hat. Für den Zusammenhang diese Staatsideals mit jener Ontologie ist es denn auch bezeichnend, daß Plato (am Ende des 9. Buches seines "Staates") selbst bemerkt, daß das "Urbild" des von ihm geschilderten Staates "im Himmel aufgestellt sei". Wenn sein Versuch, dieses Staatsideal in Sizilien zu verwirklichen, scheiterte, so lag darum die Ursache hierfür nicht darin, daß die Zeit hierfür noch nicht reif war, sondern darin, daß sie damals - wenigstens innerhalb der griechischen Kultur - im wesentlichen schon vorbei war. Und wenn er in seinem Buche den berühmten Ausspruch getan hat, daß die Übel des damaligen, allerdings schon im Verfalle befindlichen, griechischen Staatslebens nur überwunden werden könnten, wenn die "Philosophen" zu Herrschern würden, so kam darin im Grunde nur die Forderung zum Ausdruck nach Wiederherstellung jener dominierenden Stellung, welche die Repräsentanten der "Weisheit": die Mysterienpriestergemeinschaften in den Kulturen Vorderasiens, Ägyptens, Indiens usw. eingenommen hatten. War doch die von ihm selbst begründete Akademie im Grunde eine dem Zeitalter der Philosophie entsprechend umgewandelte Fortsetzung der einstigen Tempelgemeinschaften!

   Nun verhalten sich aber nach der Darstellung Platos die drei Klassen der Philosophen oder Herrscher, der Krieger oder Wächter und der Handwerker bzw, der Lehr-, Wehr- und Nährstand zueinander wie Kopf, Brust und Rumpf des menschlichen Leibes. Im Kophe, dem Organ unsres Wahrnehmens und Denkens, haben wir die Weisheit zu entwickeln; die Brust, mit den Armen bewehrt und dem Herzen als Zentralorgan, ist der Sitz der Tapferkeit, der Beherztheit; im Unterleib, der Sphäre der Ernährungs- und (S265) Stoffwechselprozesse, haben wir Mäßigkeit zu üben. Entsprechend sind die Tugenden, welche die drei Stände auszubilden haben. Die Sittlichkeit, die Verwirklichung des Guten, ist also nicht Sache des einzelnen Menschen als solchen, sondern des "Staates", d.h. der also gegliederten menschlichen Gesellschaft im Ganzen, und sie wird in um so höherem Maße erreicht, als der einzelne Mensch seinen persönlichen Eigenwillen aufgibt und ausschließlich zum Repräsentanten seines Standes wird; daher, zumal für die Vertreter der beide oberen Stände, die Forderung der Weiber- und Gütergemeinschaft, die strengen und ins einzelnste gehenden Vorschriften über Erziehung und Unterricht, über die Bildungsmittel (Gymnastik und Musik), über die zu verwendenden Musikinstrumente, Versmaße und so fort, die Plato aufstellt. Und wenn er schließlich als die höchste, umfassendste Tugend, die aus der rechten Entwicklung der übrigen resultiert, die Gerechtigkeit geltend macht als den Ausdruck des rechten Verhältnisses der drei Stände zueinander, so ist mit diesem im wesentlichen das des Herrschens gemeint, zu dem die oberen, und des Dienens, zu dem die unteren Stände bestimmt sind. Diese Beziehungen zwischen oben und unten sind aber für Plato nichts anderes als die soziale Widerspiegelung der Aufrechtheit der Menschengestalt, - der Ausdruck dafür, daß das Höhere, Geistige im Menschen über das Niedere, Leibliche herrschen soll. Und insofern jenes Höhere, Geistige in den vorderasiatischen Kulturen durch die Träger des religiösen Lebens repräsentiert war, bildete das in ihrer Sozialstruktur zum Ausdruck kommende Herrschaftssystem jene Theokratie bzw. Hierarchie, als welche es ja auch stets bezeichnet wird. In wie verschiedenen Varianten sie auch bei den einzelnen dieser Völker ausgebildet war: ob als das durch die Oberherrschaft der Brahmanen bestimmte indische Kastensystem oder als des Priesterkönigtum der ägyptischen Pharaonen, als der Gottesstaat des sumerischen oder das Gottkönigtum des akkadischen Reiches oder schließlich als die geistige Führung des Auserwählten Volkes durch Jahve, - immer und überall handelt es sich um die Herrschaft eines irgendwie erscheinenden oder vertretenen Göttlichen, welche durch die von ihm entfaltete kriegerische Macht geschützt oder ausgebreitet wird, und welcher die dienenden Klassen durch entsprechende Abgaben, Frondienste usw. die wirtschaftlichen Grundlagen zu beschaffen haben. Im übrigen wirkt in diesem Herrschaftssystem noch in verwandelter Form jene "Spaltung" der Menschheit in die große Masse der Geführten und die aus dem Orakel- und Mysterienwesen heraus geistig Führenden nach, welche wir als das Charakteristikum der vorgeschichtlichen Zeit hervorgehoben hatten.

   Wenn wir im Vorangehenden bei der Darstellung des platonischen Staatsideals uns der aus dem christlichen Mittelalter stammenden Bezeichnungen des "Lehr, Wehr- und Nährstandes" bedient haben, so ist dies durch den (S266) Umstand gerechtfertigt, daß jenes Staatsideal in der mittelalterlichen Ständeordnung dadurch nochmals eine gewisse Verwirklichung erfahren hat, daß die germanischen Völker, die ja erst durch die Völkerwanderung ins volle Licht der Geschichte eingetreten waren, während des darauf folgenden Jahrtausends - gewissermaßen in einer kurzen rekapitulierenden Wiederholung - jene Entwicklungsstufe durchschritten, welche im Gange der allgemeinen Menschheitsgeschichte die vorgriechisch-orientalischen Kulturen repräsentieren.


II

   Wenden wir uns nun aber der ureigenen Leistung der griechisch-römischen Antike in soziologischer Hinsicht zu, so ist die von den orientalischen "Reichen" und "Weltimperien" so sehr sich unterscheidende Stadtstaatenbildung ins Auge zu fassen, die sich, freilich in sehr unterschiedlicher Art, in Griechenland, in Rom und zuletzt, wie in einem späten Nachfahren, noch in der spätmittelalterlichen Städtekultur namentlich Mitteleuropas entwickelt hat. "Stadtluft" machte nicht erst "frei" in der mittelalterlichen Stadt, sondern in gewisser Weise auch schon in der griechischen Polis und in der römischen Urbs, - freilich in einer Folge von Stufenschritten. Daneben erhielten sich die Reste der älteren Klassenschichtung in den Unterschieden der Freien und Hörigen bzw. der Patrizier und Plebejer sowie der Sklaven noch fast durch die ganze Antike hindurch, - ja sogar in der neueren Geschichte in der verschiedenen Rechtsstellung des Adels, des Bürgertums und des zuletzt noch in die Leibeigenschaft versinkenden Bauerntums. Insofern dauerte das aus den Anfängen der Geschichte stammende Herrschaftssystem in der Tat bis in unsre Zeit herein fort. Die im Griechentum zuerst aufkeimende "Freiheit" aber kam einerseits darin zum Ausdruck, daß das eigentlich politische Leben sich von der ehemaligen Oberherrschaft des Priestertums emanzipierte, ja dieses zum Teil - wie in Rom - sich selbst untertänig machte oder wie im Mittelalter, wo durch die Entstehung der christlichen Kirche das Priestertum zu neuer Macht emporstieg, jahrhundertelang mit diesem im Kampfe um den Primat der weltlichen Herrschaft lag. Jedenfalls trat jetzt eine deutliche Zweiheit zwischen der geistig-religiösen und der politischen Sphäre auf. Diese Differenzierung spiegelte sich darin, daß das ehemalige, durch Propheten (Moses) oder Könige (Hamurabi) verkündigte Göttergebot, das zugleich Moralgebot und Staatsgesetz war, sich spaltete in das rein moralische Ideal und in das im Politischen waltende Element des Rechts.

   Innerhalb des staatlichen Lebens selbst aber trat die Freiheit dadurch in Erscheinung, daß an Stelle der durch verschiedene Blutszugehörigkeit bedingten (S267) Rechtsungleichheit die auf die Persönlichkeit als solche begründete Rechtsgleichheit in jahrhundertelangen Kämpfen Schritt für Schritt erobert wurde. Zugleich machte das Herrschaftsprinzip als solches eine Wandlung durch. Hatte die Herrschaft des Höheren über das Niedere in alten Zeiten diejenige der Repräsentanten des geistig-religiösen Lebens über jene des materiell-wirtschaftlichen Lebens bedeutet, so wurde sie jetzt identisch mit der Herrschaft der Gesamtheit, der durch den Staat repräsentierten "Allgemeinheit" (z.B. des populus romanus) über die einzelnen. Der Nimbus, der innerhalb der älteren Volksreligionen die Nationalgötter umgeben hatte, ging jetzt auf den Staat über. Er wurde gleichsam zum irdischen Gott. Und die Verehrung, die ehemals die Priester als die Stellvertreter oder Werkzeuge der Volksgötter genossen hatten, wurde jetzt den Repräsentanten des Staates als der irdischen Gottheit entgegengebracht. Diese Repräsentanten waren anfänglich die Könige (Monarchie), später der Adel bzw. das Patriziat (Aristokratie), zuletzt in der Ära der Demokratie, konnte jeder einzelne durch Bekleidung eines Regierungsamtes für befristete Zeit ein solcher werden. Das Herrschaftsprinzip als solches also blieb bestehen, nur bedeutete es jetzt die Herrschaft des Allgemeinen über die einzelnen. Denn so wie früher das Göttliche gegenüber dem Menschlichen selbst das Allgemeine gegenüber dem einzelnen als das Höhere gegolten hatte, wurde jetzt innerhalb des Menschlichen selbst das Allgemeine gegenüber dem einzelnen Menschen als das Höhere betrachtet. Die staatlichen Körperschaften, Magistrate usw. vertraten also nicht - wie in dem Repräsentativsystem der modernen Demokratie - die "Interessen" der einzelnen, wie sie durch die politischen Parteien, zu denen sich diese zusammenschließen, geltend gemacht werden, sondern die Ansprüche und Forderungen des Staates der Allgemeinheit als solcher gegenüber den Interessen der einzelnen. Diese Gegenüberstellung bedeutete aber dennoch zugleich die Anerkennung der Einzelpersönlichkeit als des einen Elementes bzw. Poles des staatlichen Lebens, - der Einzelpersönlichkeiten, die ehemals überhaupt noch nicht als solche, sondern nur als Glieder ihrer Kasten und d.h. ihrer Blutsverbände gezählt hatten, welch letztere allein die "Teile" ausgemacht hatten, aus denen sich das "Ganze" des sozialen "Leibes" zusammengesetzt hatte. Jetzt handelte es sich nicht mehr um das "Ganze" und seine "Teile", sondern um das "Allgemeine" und das "Einzelne" - nämlich innerhalb des Menschlichen. Und so wie nach Aristoteles die Dinge zusammengesetzt sind aus dem Formelement, welches das Gattungsmäßig-Allgemeine an ihnen ausmacht, und dem Stoffelement, durch welches sie ein Einzelnes sind, so wurde jetzt auch gegenüber dem Menschen empfunden, daß er nur dadurch im vollen Sinne "Mensch" sei, daß er nicht nur ein einzelner ist, sondern teilhat an dem Allgemein-Menschlichen, das der Staat repräsentiert. (Ihren höchsten und umfassendsten Sinne erlangte diese Empfindung, als das römische Reich, zunächst als heidnisches, in der (S268) christlichen Ära dann als "heiliges", zum Weltreich und sein Oberhaupt zum "Weltkaiser" geworden war). Insofern liegt nach Aristoteles das Menschentum des Menschen darin begründet, daß er ein Zoon politikon, ein in staatlicher Gemeinschaft lebendes Wesen ist. Mensch sein und Staatsbürger sein war darum für Griechen und Römer noch ein und dasselbe. Die Beteiligung am Staatsleben bedeutete ihnen die Schule zur vollen Menschwerdung. Hierin liegt es begründet, daß trotz des traurigen Anblickes, den die politische Geschichte des Griechen- und auch des Römertums über weite Strecken hin darbieten, in ihrem staatlichen Leben dennoch der "Mensch" mehr zur Geltung kommen konnte als jemals vorher oder nachher. Der Staat war nicht mehr ein theokratisches Herrschaftsinstrument und noch nicht zum bürokratischen Verwaltungsapparat geworden.

   Der "Einzelne" bildete sich allerdings erst allmählich zu einem eigenen Pol des sozialen Lebens gegenüber dem "Allgemeinen" heraus. Im Griechentum überhaupt, namentlich aber etwa in Sparta, verblieb er noch fast ganz ein bloßes Glied der Polis. Er gehörte mit seinem ganzen Wesen dem Staate. Erst in der athenischen Demokratie gewann er freieren Spielraum. Eine eigentliche "Privatsphäre" aber kannte das Griechentum, wenigstens in der Blütezeit seiner Kultur, noch nicht. Diese als eine eigene gegenüber der öffentlichen Sphäre herausgebildet zu haben, ist die große Leistung des Römertums, - wie es denn auch in seiner Rechtsschöpfung erst den Begriff des Rechtssubjektes herausgebildet hat. Für das Griechentum als das Denkervolk war das "Recht" noch die objektive, in der Verfassung zum Ausdruck kommende, "göttliche" (Plato) oder "natürliche" (Aristoteles) Ordnung des Staates. Das Rämertum als das Willensvolk hat das Recht erst ganz ins Menschliche hereingeholt und es einem Träger zugeordnet, der es als den Inbegriff seiner "Berechtigungen" in Anspruch nimmt und ausübt. Hierbei gliederte es sich ihm aber auseinander in die beiden Sphären des öffentlichen oder Staatsrechts und des Privat- oder Zivilrechts. Subjekt des öffentlichen Rechts ist ausschließlich der Staat selbst (als Repräsentant der Allgemeinheit). In dieser Sphäre hat der einzelne nur Pflichten. Subjekt des Privatrechts dagegen ist der einzelne (als natürliche oder als juristische "Person"). Hier hat der Staat nicht hineinzureden. Er hat lediglich die Pflicht, die Rechte durch seine Richter (Prätoren) zu formulieren und vor Verletzung zu schützen. Und es ist charakteristisch für das römische Recht, daß es so, wie es in der öffentlichen Sphäre keine Pflichten des Staates gegenüber dem einzelnen kennt, in der privaten einseitig auf die Ausgestaltung und Sicherung der Rechtsbefugnisse des einzelnen ausgeht. Vielleicht das bezeichnendste Beispiel hierfür stellt die Ausbildung des Rechtes dar, durch letztwillige Verfügung über das eigene Vermögen zu testieren, dem aber wiederum das Recht der zu Erben Eingesetzten gegenübergestellt wurde, die Erbschaft auszuschlagen (S269). Überhaupt bezog sich, wie zu einem Teile des öffentlichen Rechts die Ordnung des religiösen Lebens geworden war, das private vornehmlich auf die Sphäre des wirtschaftlichen, - was in der zentralen Stellung zum Ausdrucke kommt, die innerhalb desselben das Eigentums- und das Vertragsrecht einnimmt. Wie aber dort das religiöse Leben ganz in den Dienst des Subjekts des öffentlichen Rechts gestellt war, so diente hier die Ordnung des wirtschaflichen ganz den rein juristischen Interessen des Subjekts des zivilen Rechts. Ob es sich z.B. beim Eigentum um bewegliches oder unbewegliches (Grund und Boden), um Vieh oder Sklaven handelte, die unumschränkte Verfügungsgewalt über dasselbe war ganz die gleiche.

   Auch diese ganze staatlich-rechtliche Entwicklung der griechisch-römischen Antike und ihres mittelalterlichen "Postludiums", soweit sich jene in diesem eben fortsetzte, vollzog sich in instinktiver Weise, gewissermaßen wie ein geschichtlicher Naturprozeß. Wer der vorangehenden Schilderung aufmerksam gefolgt ist, dem wird jedoch nicht entgangen sein, wie sich in ihr ebenso die durch die Beziehung des Menschen zu den "universalia in rebus" bestimmten archetypischen Verhältnisse der Vorgeschichte im Medium des Geschichtlich-Soziologischen abbildeten, wie dies in der Sozialstruktur der ersten Hochkulturen mit den durch die Beziehung zu den "universalia ante res" gekennzeichneten Verhältnissen der Urzeit der Fall gewesen war. Die Unterscheidung und gleichzeitige innige gegenseitige Durchdringung des gattungshaft-formgebenden Allgemeinen und des Stofflich-Einzelnen, die nun innerhalb der soziologischen Sphäre auftritt, weist deutlich auf diesen Zusammenhang hin. Auch die Rolle, welche innerhalb dieser staatlich-rechtlichen Welt sowohl bei Griechen (Demosthenes) wie bei Römern (Cicero) das Element des Wortes spielte, und die hohe Ausbildung, welche die Kunst der Rede gerade innerhalb dieser Sphäre erfuhr, deutet als ein Teilphänomen jener "Neugeburt der Sprache" im Medium des Gedankens, die in dieser Zeit überhaupt stattfand, auf jene Vorzeit zurück, in welcher ja die Sprache ursprünglich und urbildlich entstanden war. Wie die Entstehung der Ursprache der Ausdruck dafür gewesen war, daß damals der Mensch sich seelisch schrittweise gegenüber der Natur verselbständigte, so spiegelte sich jetzt in dieser ganzen staatlich-rechtlich-sprachlichen Entwicklung auf höherer Stufe, im Bereiche des Gedankens bzw. des Geschichtlich-Soziologischen diese seelische Verselbständigung des Menschen als Persönlichkeit wider.


III

   Bei der Knappheit des hier zur Verfügung stehenden Raumes müssen wir uns, wie schon bei der Charakteristik der vorangehenden, so auch bei der (S270) nun zu skizzierenden der neueren Zeit darauf beschränken, nur diejenigen Erscheinungen hervorzuheben, in denen von dem hier eingenommenen Gesichtspunkt des Zeitproblems aus die Eigenart der einzelnen Epochen charakteristisch sich ausprägt.

   Die neuere Zeit d.h. der Beginn der fünften unter den Epochen der nachatlantisch-geschichtlichen Entwicklung bringt, mit dem Verfall der mittelalterlichen Ständeordnung, zunächst in Gestalt des Fürstenstaates der Renaissance (Macchiavelli) und des Absolutimus, die Rezeption des altrömischen Staatsbegriffes mit sich. Wenn es auch den "Fürsten" dabei anfänglich nur um die rücksichtslose Aufrichtung ihrer Herrscherstellung ging, und in der Glanzzeit ihres Herrschaftsabsolutismus (roi soleil) sogar noch einmal ein später Widerschein des orientalischen Gottkönigtums aufleuchtete, so fühlten und betätigten sich doch die letzten und besten Vertreter desselben (Friedrich II. von Preußen, Kaiser Joseph II.) als die Wahrer und Förderer des Gesamtwohles, der Allgemeininteressen gegenüber den Spezialinteressen der einzelnen Stände (namentlich des durch sie um seine frühere Herrschaft gebrachten Adels). Und in der französischen Revolution, in welcher die Souveränität der Fürsten durch diejenige des Volkes ersetzt wurde, kam dann in der (Rousseauschen) Idee des Staates als des Repräsentanten der "volonté générale", in welcher die Willensstrebungen der einzelnen (volonté de tous) auf- bzw. untergehen, der altrömische Gedanke der Herrschaft des "Allgemeinen" über die "Einzelnen" wieder vollends zum Durchbruch. Freilich war diese "Allgemeinheit" jetzt nicht mehr die einer Stadtbevölkerung, auch nicht mehr die der Christenheit schlechthin, wie in der mittelalterlichen Weltmonarchie (Dante), sondern die einer einzelnen Nation, und so lebte der altrömische Staatsgedanke (mit seinen Consuln, seinem Senat, seinen Legionen und seinen Triumphbögen usw.) jetzt - insbesondere in Frankreich - in Gestalt des modernen Nationalstaates wieder auf, der allerdings durch den absolutistischen Fürstenstaat schon vorgebildet worden war. Und gleichzeitig wurde im Code Napoleon jetzt auch das im Corpus juris civilis niedergelegte altrömische Privatrecht in gewisser Weise erneuert.

   Dies ist aber nur der eine der in der französischen Revolution wirkenden Impulse. Ein andrer ist derjenige, der in der aus dem Naturrecht stammenden Lehre vom Staat als dem Gesellschaftsvertrag zum Ausdrucke kommt, welche zwar schon von Hobbes, Althusius, Locke u.a. vertreten worden war, aber erst durch Rousseau jene zündende Formulierung erhielt, die eine politische Umwälzung in Bewegung zu setzen vermochte. Diese Lehre stellt eigentlich eine privatrechtliche Konstruktion des Staates dar. Die Privatsphäre der einzelnen, die im Römertum erst aus der noch im Griechentum allein vorhandenen öffentlichen herausgeboren worden - genauer gesagt: dadurch entstanden war, daß die öffentliche eines Teiles ihres (S271) Geltungsbereiches "beraubt" (privare) worden war, erscheint jetzt als die primäre, ursprüngliche, diejenige des Staates dagegen als die aus ihr hergeleitete sekundäre. Die noch von Aristoteles vertretene Auffassung, daß der Staat vor den Einzelnen dagewesen sei, wird jetzt in ihr Gegenteil umgekehrt. Zuerst sind die einzelnen als solche mit den ihnen "von Natur aus" zukommenden, angeborenen Rechten (auf Leben, Eigentum, Freiheit usw.) da. Der Staat entsteht (aus einem vorstaatlichen Zustand) dadurch, daß sie zum gegenseitigen Schutz ihrer natürlichen Rechte einen Vertrag schließen, womit sie allerdings zugleich einen Teil ihrer Rechte an den dadurch entstehenden Verband abtreten bzw. übertragen. In dieser Vorstellung liegt ja die Wurzel der Idee von der Volkssouveränität.

   Wir wollen hier davon absehen, daß bei ihren älteren Vertretern, insbesondere bei Hobbes, mit der Idee des Gesellschaftsvertrags noch die des Herrschaftsvertrags verbunden war, worin noch das alte Herrschaftsprinzip fortwirkte, - so daß mit der Herrschgewalt, die dem mit dem Abschluß des Vertrags eingesetzten Herrscher übertragen wird, sich sogar der Fürstenabsolutismus aus dieser Lehre ableiten ließ. Wesentlich ist, daß aus diesen naturrechtlichen Vorstellungen - in ihrer älteren oder neueren Form - jener Staatsgedanke hervorgegangen ist, der in England sich verwirklichte und von da aus sich in gewisser Weise die moderne Welt eroberte, wenn er auch eine reine Ausprägung dennoch nur bei den englisch sprechenden Völkern gefunden und bewahrt hat. Es ist der Staatsgedanke, der auf der einen Seite dadurch gekennzeichnet ist, daß der Staat den Schutz der Interessen der einzelnen zur Aufgabe hat, soweit diese ihn mit diesem Schutz beauftragen. Diese Interessen werden von ihnen durch ihre Abgeordneten geltend gemacht im Parlament, und insofern ist diese Staatsform die parlamentarische, ist dieser Staat derjenige der Wähler. Die Verschiedenheit ihrer Interessen kommt in der Gegensätzlichkeit der politischen Parteien zum Ausdruck, zu denen sie sich zusammenschließen, und der Ausgleich zwischen ihren Interessen (der meist ein Kompromiß ist) wird dadurch erreicht, daß durch das politische Schaukelsystem, das im Zusammenhang damit entsteht, abwechselnd die eine und die andere an die Macht kommt. Außerdem aber werden in den Kreis derjenigen, welche den Staat eigentlich repräsentieren und deren Interessen durch ihn geschützt werden, im Laufe der Entwicklung immer weitere Schichten einbezogen. Anfänglich ist es im wesentlichen der höhere und niedere Adel, später kommt das städtische Bürgertum dazu, zuletzt endlich die Industriearbeiterschaft.

   Auf der andern Seite macht es das Eigentümliche dieses Staatsgedankens aus, daß der Kompetenzbereich des Staates wenigstens für lange Zeit ein verhältnismäßig engbegrenzter bleibt, und neben ihm die Privatsphäre als die primäre und ursprüngliche sich einen breiten Raum bewahrt. Der Kampf um (S272) die Freiheit dieses Raumes nahm in England besonders heftige Formen an im Zeitalter der Reformation, das, wie in den verschiedensten andern europäischen Ländern, so auch dort ein Staatskirchentum entstehen ließ. In diesem Kampfe, in dem das moderne England erst eigentlich geboren wurde, ist die freie Entscheidung und Betätigung des einzelnen in allen Belangen, die nicht in die Kompetenz des Staates fallen, erst zum bewußten Prinzip erhoben worden (Milton). Es geschah dies aus jenem Impuls der völligen Verselbständigung der menschlichen Persönlichkeit auf geistig-religiösem Gebiet heraus (Glaubens- und Gewissensfreiheit), welcher der Reformationsbewegung zutiefst zugrunde lag, und der in seiner sozialen Auswirkung im englischen Independentismus bis zu seiner letzten Konsequenz geführt wurde. Die Kehrseite dieses Freiheitsstrebens bildete das Ideal der Toleranz. Die Wurzel dieser Bestrebungen für die Unabhängigkeit eines staatsfreien Lebensraumes und für die ungehinderte Betätigung des einzelnen in diesem, wie sie seit dem 17. Jahrhundert sich geltend machten, lag also in den Lebensbedingungen, die sich für das geistig-religiöse Gebiet seit dem Beginn der neueren Zeit herausgebildet hatten. Diese ihre Herkunft verrät sich noch in den Erklärungen der Menschenrechte, wie sie zuerst in den nordamerikanischen Kolonien (Virginia u.a.) anläßlich ihrer Verselbständigung formuliert und dann auch der Verfassung der Vereinigten Staaten bei deren Begründung vorangestellt wurden. (Auch ist z.B. das Erziehungswesen sowohl in England selbst wie auch in USA bis in unser Jahrhundert herein weitgehend die Sache privater freiwilliger Vereinigungen bzw. Institutionen geblieben).

  Im Lauf der neueren Entwicklung aber stellt sich neben das geistig-religiöse Leben in seinem Unabhängigkeitswillen gegenüber dem staatlichen immer gewichtiger das wirtschaftliche hin. Im Grunde spielten die Interessen  beider schon von Anfang an ineinander. Daß aber das wirtschaftliche Leben gegenüber dem religiösen sogar zunehmend in den Vordergrund rückte, hatte seine Ursache einerseits in der machtvollen Entfaltung, welche das Wirtschaftsleben in neuerer Zeit überhaupt, namentlich aber in der westlichen Welt, erlangt hat. Andrerseits darin, daß in den aufeinanderfolgenden Formen, in denen sich diese Entwicklung vollzog, Kräfte und Fähigkeiten sich betätigten, welche an die menschliche Individualität als solche gebunden sind. Im Zeitalter des Merkantilismus, der entstehenden großen Handelskompanien, waren dies noch Abenteurertum, Piraterie und händlerischer Unternehmungsgeist. In der Ära des mit der modernen Technik sich entfaltenden Industrialismus kamen dazu technische Erfindungsgabe, Organisationstalent, Führungsqualitäten. Kurz: Eigenschaften, welche denen verwandt oder gleichartig sind, die auch im rein geistigen, wissenschaftlichen und religiösen Leben betätigt werden. Dennoch aber besteht ein Unterschied. Während innerhalb des letzteren diese Fähigkeiten gemäß den Bedürfnissen und Forderungen (S273) des "höheren Ichs" im Menschen, im selbstlosen Dienste allgemeinster Menschheitsinteressen am Werke sind, dienten und dienen sie weitgehend auch heute noch innerhalb des wirtschaftlichen Lebens den egoistischen Zielen des "niederen Ichs": dem wirtschaftlichen Gewinn- und Machtstreben. Dem homo religiosus steht der homo oeconomicus gegenüber, der nur seinen materiellen Nutzen und Vorteil im Auge hat. Im Hinblick auf diesen sprach schon Hobbes, einer der ersten Vertreter der Theorie vom Gesellschaftsvertrag, davon, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Und wenn er mit dieser die Idee vom Herrschaftsvertrag verband, so deswegen, weil er es nur dadurch für möglich hielt, dem ursprünglichen "Krieg aller gegen alle" mit der Staatsgründung ein Ende zu bereiten, daß die einzelnen der absoluten Herrschaft eines Regenten sich unterwerfen.

   Bevor wir auf die Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens näher eingehen, sei hier jedoch noch auf den offen zu Tage liegenden Zusammenhang hingewiesen, welcher zwischen dieser neueren soziologischen Entwicklung und derjenigen des modernen Erkenntnislebens besteht, wie wir sie im ersten und zweiten Teile dieses Buches geschildert haben. Wir sprachen dort davon, wie die geschichtliche Phase überhaupt durch die Ausbildung der "universalia post res" charakterisiert sei, und wie diese Ausbildung erst in unsrer Zeit (in ihrer fünften Epoche) zu reinsten Ausprägung komme, weil eben das Wesen der geschichtlichen Phase überhaupt erst in dieser sich voll verwirklicht. Nun deuteten wir ja ebenfalls schon an, wie die seit dem 16. Jahrhundert ihre Kulmination erreichende Ausbildung der "universalia post res" zum Ausdrucke kam im Nominalismus des Spätmittelalters, der dann zur erkenntnistheoretischen Grundlage der modernen Naturwissenschaft geworden ist. Nach dieser Lehr kommt Wirklichkeit nur den sinnlich wahrnehmbaren "Einzeldingen" zu, während die "Allgemeinbegriffe" bloße "Namen" bedeuten, mit denen wir die Dinge gruppenweise zusammenfassen. Diese Auffassung, welche in der von den Einzeltatsachen ausgehenden induktiven Methode der modernen Naturwissenschaft sich in Forschungspraxis umgesetzt hat, bedeutet eine Abwertung des Allgemeinen, indem sie es als auf dem Wege der Abstraktion von den Einzelerscheinungen abgeleiteten "bloßen" Begriff deutet. Real sind ihr bloß die Einzeldinge; und da diese eben das durch die Sinne Wahrgenommene sind, so war mit ihr der Weg zum Materialismus eröffnet, dem als wirklich nur gilt, was sichtbar, tastbar, wägbar usw., kurz: stofflich ist. Man sieht die völlige Parallelität mit der oben geschilderten soziologischen Entwicklung, die in ihrem Gebiete ja auch eine Abwertung des "Allgemeinen" mit sich brachte, indem sie den diese Sphäre repräsentierenden Staat aus der Welt der isolierten einzelnen als der primären herleitete, diese einzelnen aber vornehmlich als bloß ihre egoistisch-materiellen Ziele verfolgende homines oeconomicos auffaßte. Nun (S274) haben wir an früherer Stelle aber auch schon darauf hingewiesen, daß mittels der Universalienlehre überhaupt und speziell ihrer nominalistischen Fassung Eigenart und Aufgabe der (in ihrer fünften Epoche kulminierenden) geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens nur zum Teil charakterisiert werden kann, nämlich nur insoweit sie sich von Urzeit und Vorgeschichte unterscheidet, nicht aber in ihrer Totalität, daß vielmehr zu diesem Teil derselben in ihrem Verlaufe ein Weiteres hinzukommt, für dessen Verständnis von etwas anderem ausgegangen werden muß. Wir werden auf dieses andere, das wir für die Erkenntnissphäre (S139ff) bereits auch schilderten, weiter unten zurückkommen. In seiner Spiegelung innerhalb der soziologischen Bereiches zeigt es sich, wenn wir die weitere Entwicklung verfolgen, welche die einzelnen Teilgebiete des letzteren in der jüngsten Vergangenheit genommen haben.

   Was zunächst das Wirtschaftsleben betrifft, so bahnte sich eine entscheidend neue Phase desselben mit der Entstehung des Industrialismus an. Durch die ungeheure Vergrößerung und Intensivierung der Produktion, welche er im Gefolge hatte, bildeten sich erst jetzt Produktion und Konsumtion in vollem Maße zu den durch Handel bzw. Zirkulation vermittelten Gegenpolen heraus, zwischen denen das wirtschaftliche Geschehen sich abspielt. Zugleich erlangte eben dadurch noch eine andre Polarität innerhalb des modernen Wirtschaftslebens erst ihre volle Ausprägung, nämlich diejenige zwischen der durch das schöpferische Wirken des menschlichen Geistes bestimmten technisch-industriellen und der durch das Zusammenwirken des Menschen mit der lebendigen Natur gekennzeichneten landwirtschaftlichen Produktion. Diese Polarität hat, wie die Aufhebung der Kornzölle in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts beweist, die Wirtschaftsgeschichte Englands und damit indirekt diejenige der modernen Welt überhaupt entscheidend beeinflußt. Denn sie bedeutete den Gegensatz zwischen einer in immerwährendem Fortschritt bzw. Wandel ihrer Erzeugungsmethoden begriffenen und zu immer weitergehender Arbeitsteilung, Spezialisierung und damit Fremdversorgung führenden Produktion und einer solchen, die durch ihr eigenes Wesen zur Stabilität ihrer Methoden und zur Selbstversorgung veranlagt ist. Indem aber diese Polarität immer schärfer sich herausbildete (obwohl durch den ungestümen Fortschritt von Technik und Industrie zugleich auch in die Landwirtschaft weitgehend die Gesinnung und die Methoden der technisch-industriellen Produktion eindrangen), stellte sich eine Arbeitsteilung eben auch zwischen diesen beiden Polen der Produktion selbst ein, und diese trug wesentlich dazu bei, daß das Aufkommen des Industrialismus den Rahmen der früheren relativ autarken Nationalwirtschaften sprengte und das Wirtschaftsleben im Laufe des 19. Jahrhunderts zu dem die ganze Erde umfassenden einheitlichen Weltwirtschaftsorganismus ausweitete. Durch alle diese (S275) Momente aber hat sich zu der in der Antike erfolgten Emanzipation des staatlich-politischen Lebens gegenüber dem geistig-religiösen in unsrer Zeit die Verselbständigung des Wirtschaftslebens gegenüber dem staatlich-politischen zu einer autonomen, ihre eigenen Funktionsbedingungen in sich tragenden Sphäre des sozialen Lebens hinzugesellt. Im modernen Wirtschaftsleben kommt nicht mehr wie in demjenigen der ersten Hochkulturen die Dienstbarkeit einer dienenden Klasse gegenüber der Herrschaft einer das geistig-religiöse oder das politisch-staatliche Leben besorgenden Klasse zum Ausdruck. Es trägt zwar auch heute noch materiell (in Form der Steuern) sowohl das politisch-staatliche wie auch das geistige Leben, wiewohl gerade dem letzteren, soweit es nicht mit vom Staate verwaltet und finanziert wird, die Mittel zu seiner wirtschaftlichen Existenz nur mehr in so geringen Maße zufließen, daß es sich kaum mehr am Leben erhalten kann. Im übrigen aber verschlingt heute die Wirtschaft selbst zum größten Teil ihre eigenen Erträgnisse und hat dadurch jene ungeheure und ungesunde Hypertrophie innerhalb des Ganzen des sozialen Lebens erlangt, welche unserem Zeitalter den Stempel aufprägt. Sie hat faktisch auch aufgehört, die Privatsache derjenigen zu sein, die in ihr tätig sind. Sie ist vielmehr im eminentesten Maße zur Sache der menschlichen Gemeinschaft geworden, und zwar in zweifachem Sinne. Einerseits der allmenschlichen Gemeinschaft der die Gesamterde bevölkernden Menschheit als des Trägers der Weltwirtschaft. Und zwar ist dies so zu verstehen, daß durch den Zustand der Fremdversorgung, den die bis zum äußersten getriebene Arbeisteilung für jeden Teil der Erdenbevölkerung herbeigeführt hat, jeder für seine wirtschaftliche Prosperität auf diejenige jedes andern Teiles derselben angewiesen ist. Jeder arbeitet heute im Prinzip für alle andern und wird selbst durch die Arbeit aller andern erhalten. Die Konfiguration des Wirtschaftslebens selbst schließt heute den wirtschaftlichen Egoismus des homo oeconomicus als treibende und bestimmende Kraft aus und verlangt an dessen Stelle wirtschaftlichen Altruismus. Es kann heute nicht mehr der Willkür eines einzelnen oder einer einzelnen Gruppe anheimgestellt bleiben, wie und wozu die natürlichen und künstlichen Produktionsmittel (Grund und Boden, Fabrikationswerkstätten, Geldkapital) verwendet werden. Es stellt sich vielmehr die Forderung, hierfür aus den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gesamtweltwirtschaft heraus Modalitäten der Regelung zu finden. Mit diesen Bedingungen steht allerdings in schreiendstem Widerspruch die Tatsache, daß Wirtschaft in neuester Zeit (wie weiter unten noch genauer zu schildern sein wird) in weitgehendem Maße in die Verwaltung durch die Nationalstaaten hineingezogen worden ist, wie sie sich insbesondere seit der französischen Revolution ausgebildet haben, und durch die Machtrivalitäten zwischen denselben in ihrem Funktionieren aufs schwerste beeinträchtigt wird. (S276)

   Auf der andern Seite ist sie zur Sache der Gemeinschaft in dem Sinne geworden, daß ihr Funktionieren von dem brüderlichen Zusammenwirken der Hand- und der Kopfarbeiter bzw. der Arbeitsleister und der Arbeitsleiter abhängt. Denn die Entwicklung des Menschen zur geistig auf sich selbst gestellten Individualität, die das geschichtliche Werden gerade in unsrer Epoche zu einem gewissen Gipfelpunkte geführt hat, macht es heute unmöglich, ein Verhältnis von Herrschaft und Dienstbarkeit zwischen Menschen weiterhin aufrechtzuerhalten. Und hier ist das andre zu nenne, was mit diesem Gemeinschaftscharakter des modernen Wirtschaftslebens in nicht weniger schreienden Widerspruche steht. Gerade dadurch, daß aus den naturrechtlichen Anschauungen heraus die wirtschaftliche Betätigung des Menschen als zu seiner Privatsphäre gehörig galt, wurden auch die technischen Produktionsmittel, als sie um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts aufkamen, als Privateigentum betrachtet und behandelt. Dadurch aber erlangten diejenigen, die sich in den Besitz von solchen zu setzen in der Lage waren, eine wirtschaftliche Übermacht über jene, welche zur wirtschaftlichen Produktion nur ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen konnten. Anstatt daß ihre manuelle Arbeit als Mitarbeit am wirtschaftlichen Produktionsprozeß gewürdigt wurde, nahm sie den Charakter einer Ware an, die der Produktionsmittelbesitzer ebenso kaufte, wie er die Rohstoffe für seine Produktion zu kaufen hatte. Dadurch verfiel der Handarbeiter mit einem Teil seines Wesens einer neuartigen rein wirtschaftlichen Sklaverei, die weder dadurch gemildert wurde, daß er selbst zugleich auch der Verkäufer seiner Arbeitskraft war, noch auch dadurch, daß er in der staatlichen Sphäre allmählich die politische Gleichstellung mit dem Kapitalisten erlangte. In Frankreich, wo die große Revolution die bürgerliche "Gleichheit" verwirklichte, wurde gleichzeitig durch die Rezeption des römischen Privatrechtes im Code Napoléon der Arbeitsvertrag rechtlich als "Dienstmiete" im Sinne der altrömischen Sklavenmiete definiert (Siehe Roman Boos: "Neugeburt des deutschen Rechts", 1933). Die Herrschaftsgesinnung war in der Tat auch jetzt noch nicht überwunden - trotz des Gleichheitsideals, das die Revolution zur Parole der Zeit erhoben hatte, und so bildete sich mit dem Aufkommen des Industrialismus eine neue, rein innerhalb des Wirtschaftslebens selbst entstehende Klassenschichtung mit Herrschenden und Dienenden heraus in der Gegensätzlichkeit der "Kapitalisten" und der "Proletarier".

   Beide hier angedeuteten Widersprüche zu den im Wesen des modernen Wirtschaftslebens selbst liegenden Forderungen zusammen haben dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die sozialistisch-kommunistische Bewegung entstehen lassen, die zuerst in der französischen Revolution von 1848 eine gewaltsame soziale Umwälzung herbeizuführen versuchte, nach dem Scheitern dieses ersten Versuches aber dann auf dem europäischen Kontinent immer allgemeiner in das Fahrwasser geriet, in welches die marxistische Lehre (S277) sie hineinlenkte. Die eine dieser Forderungen der modernen Wirtschaft: ihre Gestaltung nicht - im Sinne des liberalistischen "laisser faire" - vom einzelnen, sondern vom Ganzen her, - nicht als eine Sache der einzelnen, sondern der Gemeinschaft zu ordnen, glaubte sie dadurch erfüllen zu könne, daß sie das Prinzip der freien Konkurrenz- bzw. Marktwirtschaft ersetzte durch dasjenige der organisierten Planwirtschaft, die nun völlig dem Staat als dem Repräsentanten der "Allgemeinheit" überantwortet wurde. Der andern, welche die Überwindung des Herrschaftssystems bzw. jener neuen, rein wirtschaftlichen Sklaverei erheischt, die in dem Verkauf der "Ware" Arbeit auf dem "Arbeitsmarkt" zum Ausdrucke kommt, glaubte sie dadurch gerecht zu werden, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln restlos in das "Allgemein-Eigentum" in Gestalt des Staatseigentums übergeführt wird. So wurde also von zwei Überlegungen her die wirtschaftliche und die staatliche Sphäre zu einer einzigen verschmolzen und damit gerade dadurch, daß man den Lebensforderungen der modernen Wirtschaft die Erfüllung zu bringen versuchte, der weltgeschichtliche Vorgang der Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber dem Staat, welchen die neuere Zeit mit sich gebracht hatte, rückgängig gemacht. Damit versetzte man sich aber in einen neuen Widerspruch mit den Lebensbedingungen der modernen Wirtschaft, der nicht geringer ist als jene beiden, die im Vorangehenden geschildert wurden. Die Schädigungen, welche das Wirtschaftsleben durch diesen Widerspruch erleiden muß, kamen darin zum Ausdruck, daß überall da, wo eine solche totale Verstaatlichung der Wirtschaft durchgeführt - am meisten in Sowjetrußland -, anstelle der freien wirtschaftlichen Initiative und der Ausrichtung des wirtschaftlichen Geschehens auf die tatsächlich vorhandenen wirtschaftlichen Bedürfnisse ein schwerfälliger, staatlicher Gewaltmittel sich bedienender bürokratischer Dirigismus und eine Unterordnung des wirtschaftlichen Lebens unter die politischen Machtziele trat, welche von den betreffenden Staaten verfolgt werden, - "Kanonen sind wichtiger als Butter". Und auch in dem Sinne wurden die Forderungen der modernen Wirtschaft nicht erfüllt, daß an die Stelle der wirtschaftlichen Versklavung des Proletariats gegenüber den Kapitalisten, die der Privatkapitalismus begründet hatte und die bei ihm bloß eine solche gegenüber einzelnen war, nur die noch viel härtere und brutalere Versklavung der gesamten Bevölkerung gegenüber dem allein übrig gebliebenen, allmächtig gewordenen und mit allen politischen Gewaltmittel ausgestatteten Universalkapitalisten "Staat" gesetzt wurde.

   Aber nicht nur das Wirtschaftsleben selbst wird durch diese "Lösung der sozialen Frage" ruiniert, sondern auch das staatliche. Es hört völlig auf, eine bzw. die Sphäre des Rechts zu sein und verwandelt sich restlos in einen Machtapparat zum Zwecke der Verwaltung und Lenkung des gesamten menschlichen Lebens. Denn da durch ihn auf dem wirtschaftlichen Felde jede (S278) freie Regung eines einzelnen ausgeschaltet wird, so kann er eine solche natürlich auch auf dem Gebiete des geistigen Lebens, der Meinungs- und Urteilsbildung nicht dulden. Und so kennzeichnet sich denn diese Art von Kommunismus nicht weniger als durch die totale Verstaatlichung des wirtschaftlichen durch diejenige des geistigen Lebens und die restlose Unterwerfung desselben unter seine politischen Machtziele. Die Unterdrückung der freien Betätigung der einzelnen schädigt aber das geistige Leben noch viel schlimmer und radikaler als das wirtschaftliche, da ja, wie oben geschildert, das Ideal der Freiheit gerade auf seinem Felde seit dem Beginne der neueren Zeit als Lebensforderung zuerst aufgetreten ist. Innerhalb der politisch-staatlichen Sphäre jedoch bildet sich durch die Konzentration einer so schrankenlosen Macht unvermeidlich ein diktatorisches Regierungssystem heraus. Denn eine solche Macht kann nur mit den Mitteln äußerster Gewalt ausgeübt und aufrechterhalten werden. Von der Fürstendiktatur des einstigen Absolutismus, mit der dieses System viel Ähnlichkeit hat - wurden doch die Lenin und Stalin nicht mit Unrecht als "rote Zaren" bezeichnet - unterscheidet es sich jedoch dadurch, daß, während in jener die Nachfolge in dieser Machtposition durch das Blut geregelt war, in diesem mit Notwendigkeit Kämpfe um dieselbe entbrennen, die an Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit alles weit hinter sich lassen, was an Machtrivalitäten da auftreten kann, wo dem Staat als solchem nur ein beschränkter Bereich von Kompetenzen zukommt. Und so bilden denn die diktatorische Regierungsform und die Machtkämpfe zwischen den Rivalen um die Alleinherrschaft ein weiteres charakteristisches Merkmal dieses kommunistischen Systems.

   Alle diese Tatsachen, die hier nur in flüchtiger Skizze angedeutet werden konnten, zeigen, daß, was sich in neuerer Zeit, selbstverständlich in verschiedensten Abstufungen, an Sozalsystemen herausgebildet hat, und zwar ganz gleichgültig, ob es sich dabei um die kapitalistischen, freien Demokratien des Westens oder um die kommunistischen Volksdemokratien des Ostens handelt, den Lebensforderungen, wenn auch in verschiedener Art, widerspricht, die in soziologischer Hinsicht der gegenwärtigen Menschheit erwachsen sind. Den Tatsachenbeweis für diesen Widerspruch haben die sozialen Katastrophen geliefert, in welche diese ganze Entwicklung in unserm Jahrhundert einmündete, und deren Zerstörungsgewalten seither wellenartig immer von neuem über die gegenwärtige Menschheit hereinbrechen, ohne daß ihnen bisher Einhalt geboten oder in entsprechenden sozialen Neugestaltungen auch nur ein Damm aufgerichtet werden konnte, der wenigstens für die Zukunft eine Sicherung gegen sie zu verheißen vermöchte. Das Ungenügende aller dieser Sozialsysteme beruht darauf, daß sie alle, wenn auch in verschiedenartig umgebildeter Form, alte, genauer gesagt: aus den beiden vorangehenden Geschichtsepochen stammende Sozialstrukturen bzw. soziale (S279) Strukturprinzipien weitererhalten. Das eine derselben ist das aus der dritten Epoche (der ersten Hochkulturen) stammende Herrschaftsprinzip. Wie wenig dieses selbst vom Kommunismus überwunden ist, dessen Ziel ja ursprünglich gerade die Abschaffung jeglicher Herrschaft und die Verwirklichung einer "klassenlosen Gesellschaft" bildete, erhellt aus der Tatsache, daß die Diktatur des Proletariats über das Bürgertum, die anfänglich nur als unvermeidliche Übergangsphase der sozialen Revolution gedacht war, sich in dem "Staate der Arbeiter und Bauern" in einen permanenten Zustand verwandelt hat. Das andre dieser Prinzipien liegt in der aus der vierten Epoche (der griechisch-römischen Antike) stammenden Auffassung, daß der Staat als der Repräsentant der Allgemeinheit, der Gesamtheit, die eigentliche Sphäre des Sozialen, der Gemeinschaft darstelle, - gleichgültig ob man diese Sphäre als eine ursprüngliche oder erst im Verlaufe der Geschichte aus einem vorstaatlichen Zustand herausentwickelte auffaßt. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, wie diese Prinzipien auf Urbilder im leiblich-seelischen Menschheitswerden der Urzeit und Vorgeschichte hindeuten, die sich im Bereich des Soziologischen in den Sozialstrukturen der genannten geschichtlichen Epochen instinktiv ausprägen.


IV

   Was unsre fünfte Epoche verlangt, das ist die Ausbildung einer völlig neuen Sozialstruktur, - einer Sozialstruktur, die rein und restlos den gegenwärtigen Lebensverhältnissen und -bedingungen der Menschheit entspricht, von welchen wir gezeigt haben, daß in ihnen nichts sich abbildet, was der Geschichte als irgendeine frühere Stufe menschlichen Werdens vorangegangen ist, vielmehr das Wesen der geschichtlichen Phase selbst erst zur vollständigen Ausprägung gelangt. Es handelt sich daher auch bei dieser Sozialstruktur zwar um ein Urbildlich-Archetypisches, - aber nicht um ein solches, das von oben oder außen (bzw. aus einer vorgeschichtlichen oder urzeitlichen Vergangenheit) her sich dem gegenwärtigen Leben instinktiv bzw. durch Mysterienvermittlung formgebend einprägt, sondern um ein solches, das in den Lebensverhältnissen und -forderungen dieser Epoche selbst drinnen als Gestaltungstendenz west und webt und in ihnen entdeckt werden muß. Daß es entdeckt werden kann, hat daher ein Zweifaches zur Voraussetzung: erstens daß man ganz unbefangen und vorurteilslos die Lebensverhältnisse der gegenwärtigen Menschheit in soziologischer Beziehung anzuschauen und aufzufassen in der Lage ist, und zweitens, daß man einen Begriff vom Wesen des geschichtlichen Werdens überhaupt sich erworben hat, wie er in diesem Buche (auf den im Vorwort bezeichneten Grundlagen) darzustellen versucht wurde. Nur dann nämlich, wenn man dasjenige, was eine solche Anschauung (S280) der Gegenwartsverhältnisse ergibt, mit diesem Begriff vom Wesen der Geschichte sich gegenseitig ineinander spiegeln zu lassen vermag, springt jenes urbildlich-archetypische Prinzip sozialer Gestaltung hervor, welches unsrer Epoche entspricht. Damit ist zugleich auch schon gesagt, daß dieses soziale Ordnungsprinzip sich nur verwirklichen kann, wenn es zunächst im menschlichen Bewußtsein als erkenntnismäßig erfaßtes Strebensziel ausgestaltet wird. Es will sich zwar in den Lebensverhältnissen unsrer Zeit verwirklichen, kann dies aber nur in dem Maße, als seine Verwirklichung von den Menschen aus seiner vollbewußten erkenntnismäßigen Erfassung heraus durchgeführt wird. Daß es sich verwirklichen will, zeigt sich u.a. darin, daß es immer wieder in aus den Tiefen des Menschenwesens heraufdringenden abstrakten Idealen, die den Willen breiter Massen zu revolutionären Taten entflammen, auftritt. Ein Musterbeispiel hierfür - und damit weisen wir auf eine dritte Wurzel ihrer Bestrebungen hin - bildet die dreifache Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", welche die französische Revolution auf ihre Fahnen schrieb. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich in eklatanter Weise, wie das, was sich da verwirklichen will, wenn es nicht bis zur bewußten Erkenntnis erhoben wird, sich in seiner Durchführung in sein gerades Gegenteil verkehren kann. Dort dagegen, wo dieses Sozialordnungsprinzip eine erkenntnismäßige Bewußtmachung erfährt, tritt es, wie dies bei aller echten Erkenntnis der Fall ist, zunächst, in mehr oder weniger deutlicher und zureichender Gestalt, als geistige Errungenschaft einzelner Menschen auf. Man kann es daher seit etwa 150 Jahren in der Tat in mehr oder weniger keimhaften Ansätzen bei einzelnen Persönlichkeiten sich ins Bewußtsein ringen sehen: so etwa bei W.v.Humboldt in seiner Schrift über "Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", in den sozialpolitischen Schriften von Constantin Frantz u.a. Wenn es in unserm Jahrhundert in einzigartiger Klarheit von Rudolf Steiner aufgewiesen worden ist, so deshalb, weil dieser mit einem jahrzehntelangen, unbefangenen Anschauen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse der Menschheit verbinden konnte jenen Begriff vom Wesen der Geschichte, der den Darstellungen dieses Buches zugrunde liegt. Ebenso bezeichnend ist dagegen, daß sich dieses Prinzip sozialer Ordnung gerade bei den Vertretern des Historismus nirgends ausgesprochen findet; denn dem Historismus kann man zwar eine unbefangene Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen nicht absprechen; ihm fehlt aber - wie schon im vorigen Kapitel angedeutet - paradoxerweise doch gerade der urbildliche Begriff der Geschichte überhaupt, weil dieser nur von einer über das bloß Geschichtliche hinaus sich erweiternden "metahistorischen" Menschenerkenntnis errungen werden kann. Und die an der C.G.Jungschen Psychologie orientierte Geschichtsauffassung vermag für dieses Urbildliche auch kein Verständnis zu entwickeln, weil sie, obzwar den Begriff des Archetypischen wieder berücksichtigend, doch nur jene (S281) Urbilder als solche gelten läßt, die sich in den archaischen Kulturen abbilden, das Charakteristische der Geschichte aber nur darin sieht, daß sich in ihr keine Archetypen von dieser Art ausprägen. Daß der Mensch selbst in seinem Bewußtsein zum ursprünglichen Ausbildner eines Archetypischen werden kann und soll, - dieser Gedanke hat in ihren Vorstellungen keinen Raum.

   Wenn wir im Folgenden die von Steiner namentlich in seinem Buche "Die Kernpunkte der sozialen Frage" aufgewiesenen und von ihm selbst auch so bezeichneten "Urgedanken" skizzieren, die in der sozialen Gestaltung unsrer Zeit sich verwirklichen wollen, so können wir dabei an das anschließen, was wir im Vorangehenden als Tatsachen geschildert haben.

   Da ist an erster Stelle dieses zu nennen, daß im Laufe der geschichtlichen Entwicklung nacheinander das geistig-religiöse, das politisch-staatliche und zuletzt das wirtschaftliche Leben zu selbständigen Sphären des sozialen Lebens geworden sind. Diese Tatsache fordert in dem Sinne eine "Dreigliederung" des letzteren, daß jedes dieser drei Gebiete eine eigene, seinen spezifischen Funktionsbedingungen entsprechende Verwaltung bekommt. Das bedeutet, umgekehrt gesprochen, daß sowohl das wirtschaftliche wie auch das geistige Leben restlos aus der staatlichen Verwaltung, in die sie im Westen wie im Osten in neuerer Zeit immer mehr hineingezogen worden sind, entlassen werden.

   Das Wirtschaftsleben aber verlangt heute, wie schon angedeutet, eine Ordnung nicht vom einzelnen, sondern vom ganzen her. Diese kann jedoch nicht durch seine Verstaatlichung erreicht werden. Schon deshalb nicht, weil die Staaten, auch die größten unter den heutigen, immer nur Teile der Menschheit repräsentieren, das Ganze des Wirtschaftslebens aber heute die die gesamte Erdenbevölkerung umfassende Weltwirtschaft darstellt. Die geforderte Ordnung muß also, unabhängig von Staatsgrenzen, aus dem Wirtschaftsleben selbst heraus gefunden werden. Und sie kann dadurch entstehen, daß die einzelnen größeren und kleineren Teile der Erdbevölkerung, insofern sie im Wirtschaftsleben stehen, in freier Weise sich assoziieren, um ständig Informationen auszutauschen einerseits über die Konsumbedürfnisse, andrerseits über die Produktionsmöglichkeiten, die bei ihnen bestehen, und auf Grund dieser Informationen miteinander verhandeln und - nicht Gesetze erlassen, sondern - Verträge miteinander abschließen. Auf diese Weise würde das Ganze der Wirtschaft auch in dem Sinne zur Geltung kommen, daß sie nicht nur, wie es heute noch der Fall ist, von ihrer Produktionsseite her organisiert erscheint und vornehmlich den Produzenteninteressen dient, sondern ebenso auch von der Konsumentenseite her, und sich so die drei Faktoren, aus denen sie sich zusammensetzt: Produktion, Zirkulation, Konsumtion als gleichwertige, gleichstarke Verhandlungspartner gegenüberstehen bzw. zusammenwirken. (S282) Was aber als das brüderliche Zusammenwirken von Arbeitsleister und Arbeitsleiter durch das heutige Wirtschaftsleben gefordert wird, läßt sich nur dadurch erzielen, daß in bezug auf die Produktionsmittel (Grund und Boden, Fabrikationsstätten, Geldkapital) der heutige Eigentumsbegriff überwunden wird. In Wahrheit ist nämlich die wesentliche Frage, um die es sich für ihre wirtschaftliche Funktion handelt, gar nicht diese, wessen Eigentum - des einzelnen oder der Allgemeinheit - sie sind, sondern von wem sie verwaltet werden. Ihre Verwaltung aber ist dann die richtige, wenn das wirtschaftliche Ganze den größtmöglichen Nutzen von ihr hat. Das ist dann der Fall, wenn derjenige sie verwaltet, der für eine solche Verwaltung am beten qualifiziert ist. Dies aber zu entscheiden ist, weil es eine Frage der geistigen Fähigkeiten ist, nicht Sache des Wirtschaftslebens selbst, auch nicht des Staates, sondern jenes Teiles des geistigen Lebens, welchen eben die "Kopfarbeit" innerhalb der Wirtschaft darstellt. Die Berufung und Abberufung von Leitern wirtschaftlicher Betriebe muß daher Sache von Gremien werden, welche aus der Sphäre der Leitung wirtschaftlicher Unternehmungen (als eines Gliedes des geistigen Lebens) gebildet werden. Im deutschrechtlichen Begriff des "Lehens" bestand einstmals eine Rechtsform, die in entsprechend umgebildeter Gestalt zum Leitbild dessen werden kann, was die Produktionsmittel im heutigen Wirtschaftsleben bedeuten. Nur wenn in bezug auf sie der (römisch-rechtliche) Eigentumsbegriff überwunden wird und die Arbeitsleiter lediglich als ihr Verwalter fungiert, kann auf der andern Seite auch das Lohnverhältnis, durch welches die Arbeit des Arbeitsleisters zur Ware erniedrigt wird, aufgehoben und der Arbeiter als Mitarbeitender an der gemeinsamen wirtschaftlichen Leistung behandelt werden, mit welchem der Arbeitsleiter das Arbeitserträgnis nach einem angemessenen Schlüssel teilt. Auf diesem Weg allein kann das Ideal des Sozialismus bzw. der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben seine Verwirklichung finden.

   Den Gegenpol des wirtschaftlichen bildet das geistige Leben. Wie jenes vom ganzen, so will dieses vom einzelnen her geordnet, - oder anders gesagt: wie jenes auf die Brüderlichkeit, so will dieses in unsrer Zeit auf die Freiheit begründet werden. Es ist dies aus dem Grund der Fall, weil - wir wir ja schon mehrfach ausgeführt haben - die Erringung der im Begrifflichen webenden Erkenntnis, die Erfassung der im Denken zu ergreifenden Wahrheit, die zu entwickeln die Aufgabe der geschichtlichen (in ihrer gegenwärtigen Epoche kulminierenden) Phase des Menschheitswerdens darstellt, nicht mehr - wie die Ausbildung der Sprache in der Vorgeschichte - die Sache eines kollektiv wirkenden Allgemeingeistes ist, sondern diejenige des einzelnen Menschen, der geistig auf sich gestellten Individualität. Die letzte Instanz, die über Wahrheitsfragen entscheidet, spricht heute im Innern des einzelnen Menschen: in seinem im Erkennen sich betätigenden (S283) Wahrheitsgewissens. Diese Tatsache kam schon im Beginne der neueren Zeit in der Forderung der Glaubens- und Gewissensfreiheit auf religiösem Gebiete, der freien Forschung auf wissenschaftlichem Felde zum Ausdruck; in neuester Zeit hat sie sich in dem Postulat der Presse-, der Redefreiheit usw. Geltung verschafft. Das geistige Leben kann gemäß den Bedingungen, denen es in unsrer Zeit untersteht, seine Funktion innerhalb des Ganzen des sozialen Lebens nur dann in gesunder Art erfüllen, wenn es dem einzelnen die Möglichkeit des völlig freien Wirkens als geistig Schaffender gewährt. Diese Möglichkeit entsteht aber nur dann, wenn es nicht vom Staat, sondern von denjenigen verwaltet wird, die selber als geistig Produzierende in ihm drinnenstehen. Dies gilt heute insbesondere vom Erziehungs- und Bildungswesen auf allen seinen Stufen. Entscheidend ist jedoch, zu sehen, daß wenn das geistige Leben, in diesem Sinne verstanden, dem Staate gegenüber "Privatsache" des einzelnen ist, es an sich selbst durchaus nicht einen "privaten" d.h. aus der sozialen Sphäre ausgesparten Bereich darstellt, sondern durchaus einen Teil, ein Glied des sozialen Lebens selbst. Es ist eine Forderung des sozialen Lebens selbst, daß das Geistesleben im angedeuteten Sinn auf den einzelnen gestellt bzw. auf das Prinzip der Freiheit begründet wird. Es hat eben der soziale Organismus in sich selbst zwei Pole, an deren einem er von der Gesamtheit, an deren anderm er vom einzelnen her gestaltet werden will. Die Unterscheidung einer privaten (nichtsozialen) und einer öffentlichen (sozialen) Sphäre im Sinne des altrömischen Rechts hat ihre Anwendbarkeit gegenüber dem heutigen Leben verloren.

   Und damit tritt nun auch erst die völlig neue Funktion und Stellung hervor, die dem Staat innerhalb des Ganzen des sozialen Lebens in Gegenwart und Zukunft zukommen muß. Sie bedeutet nichts Geringeres als die völlige Überwindung des aus der Antike stammenden Staatsbegriffs. Der Staat kann in Zukunft nicht mehr der Repräsentant der "Allgemeinheit" sein, als welcher er dem "Einzelnen" gegenübersteht. So wie er in der "Mitte" steht zwischen dem wirtschaftlichen und dem geistigen Pol des sozialen Lebens, so hat er auch die ausgleichende Mitte zu bilden zwischen den vom Geistigen her zu stellenden Ansprüchen des einzelnen und den vom Wirtschaftlichen her geltend zu machenden Anforderungen der Gesamtheit. Dieser Ausgleich vollzieht sich im Elemente des Rechts, das insofern immer zugleich, wo es von der einen Seite her als Berechtigung erscheint, nach der anderen als Verpflichtung wirkt. Und das Ideal der "Gleichheit" in dieser Rechtssphäre liegt einerseits im Gleichgewicht zwischen Berechtigung und Verpflichtung. Und es beruht andrerseits darin, daß die Menschen nicht nur vor dem Gesetz als "gleiche" gelten, sondern daß die Gesetze selbst aus der Anerkennung der Gleichheit der Menschen im Elemente des Rechts heraus entstehen. Das bedeutet, daß über Art und Maß der Arbeit im Wirtschaftsleben nicht aus der (S284) wirtschaftlichen oder politischen Übermacht der einen oder andern Menschengruppe heraus entschieden wird, sondern aus der gleichen Mitbestimmung aller. Und es bedeutet, daß ebenso die Möglichkeiten der Erziehung und Bildung durch das geistige Leben aus der gleichberechtigten Mitwirkung aller rechtlich festgesetzt werden. Die Veranlagung dazu, den Staat als Rechtsinstitution in diesem Sinne aufzufassen, daß er Rechte und Pflichten der einzelnen und der Gesamtheit miteinander auszugleichen hat, bildet das Kennzeichen des germanisch-deutschen Rechts im Gegensatz zum altrömischen. Ihm war daher auch die Unterscheidung zwischen eine privaten und einem öffentlichen Recht fremd. Seine Wesensart kam zum Ausdruck in den mannigfaltigen genossenschaftlichen Bildungen, die aus ihm entstanden sind (Siehe Otto v. Gierke: "Deutsches Genossenschaftsrecht).

   Aber nicht nur die altrömische Staats- und Rechtsauffassung wird durch diese neue Sozialordnung überwunden, sondern auch - und zwar erst durch sie - das aus noch älterer Zeit stammende Herrschaftsprinzip. Denn sie stellt das geschichtliche Gegenbild bzw. den geschichtlichen Gegenpol dar zur Ständeordnung oder Klassenschichtung, in welcher dieses Prinzip sich ausprägte. In dieser wurden die Menschen in verschiedene Gruppen (Kasten) gegliedert, - in der neuen Sozialstruktur wird das soziale Leben in seine verschiedenen Funktionen gegliedert. Jeder einzelne Mensch aber hat an allen Funktionsgebieten desselben teil. In den einzelnen Menschen sind die letzteren miteinander verbunden, weil jeder ein leiblich-seelisch-geistiges Wesen ist. Dadurch kommt der einzelne Mensch innerhalb des sozialen Lebens erst nach dem ganzen Umfang seines Wesens zur Geltung, - erlangt innerhalb desselben erst seine volle Bedeutung, während er von der totalen Diktatur, zu welcher sich der moderne, Geistes- und Wirtschaftsleben in sich aufsaugende Einheitsstaat ausgewachsen hat und auswachsen muß, völlig ausgeschaltet oder erdrückt wird. Insofern bedeutet die soziale Dreigliederung zugleich auch das Gegenbild des heutigen Staatsmolochs, der die Einzelmenschen verschlingt. Ja, es wird durch die geschilderte Dreigliederung des sozialen Organismus der einzelne Mensch, weil er an allen Gliedern desselben teilhat und sie in sich zusammenfaßt, erst zu jenem Repräsentanten des Gesamtmenschlichen, zu dem aufzusteigen er in unsrer Epoche berufen ist. Und es bedeutet, so gesehen, diese neue Sozialstruktur nichts anderes als den soziologischen Ausdruck für dieses Aufrücken des Einzelmenschen zur Repräsentation des Gesamtmenschlichen. Insofern konnten die Darlegungen dieses Kapitels vom soziologischen Aspekt her das Bild dessen vervollständigen, was mit diesem Aufrücken eigentlich gemeint ist.

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