Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Anhang von Hermann Beckh und Nachwort von Dieter Lauenstein zu dem


Hymnus an die Erde

aus dem Atharvaveda

übersetzter Text siehe vorstehende Seiten


Das Christentum und die Christuswesenheit im Atharvaveda-Hymnus


1

   Zum Eigenartigen und Bedeutsamen des Atharvaveda-Hymnus gehört vor allem auch dieses, wie hier aus einer lange vor Christus liegenden Zeit gewisse Weistümer der Erde und ihres Zusammenhangs mit dem Kosmischen zu uns herüberklingen, die von uns heute als Christusmysterien empfunden werden können, auch wenn der Christusname erst einer viel späteren Kultur, der griechisch-lateinischen Kultur der Zeitenwende, angehört.

   Gleich in der ersten Strophe, im ersten Beginn des Hymnus, können wir uns da von der Christuswelt berührt fühlen, wo unter den das Leben der Erde geistig tragenden Mächten an erster Stelle genannt wird satyam brhat "die große Weltenwahrheit". Hier ist Wahrheit oder Wahrhaftigkeit (satyam) nicht mehr ein abstrakter Begriff, nicht mehr etwas Theoretisches, sondern eine geistig-wesenhafte Macht, die den Fortbestand der Erde trägt und verbürgt.

   Im Indischen ist die Rede von sieben Welten, deren unterste die sinnlich-sichtbare Erdenwelt (bhurloka) ist; S57 die zweite ist dann die "Zwischenwelt" (bhuvarloka), die dritte die himmlische Lichtwelt (svarloka).

   Dann folgen: maharloka "Welt des höheren Lichtes", janarloka "Welt der höheren Menschheit", taparloka "Welt der höchsten Askese" (vielleicht: der letzten Prüfung oder Anstrengung). Die siebente und höchste Welt ist satyaloka "Welt der Wahrhaftigkeit", in unserem Sinne die Christuswelt.


2

   In der Nähe der Christus-Erden-Geheimnisse fühlen wir uns besonders auch da, wo uns jenes Wort begegnet, das Ackerfeld, Saatfeld und andererseits Menschenstamm, Menschheit heißt, das Wort krsti, das wie aus den Lauten des Christusnamens aufgebaut scheint und an drei Stellen im Hymnus vorkommt (Vers 3,4,42). Man kann darauf achten, wie an allen diesen Stellen deutlich zugleich vom Ackerbau, von der Ackersaat und von der Menschheit, der "Menschensaat", die Rede ist (man denke hier an das Gotische, wo manaseths, eigentlich "Menschensaat", das Wort für Menschheit ist). In Strophe 3 suchte unsere Übersetzung dem Sinn und Wortlaut des Indischen daher gerecht zu werden durch die Wiedergabe: "Die Erde ... auf der in Ackersaat für Menschensaat die Nahrung wächst." Auch das Wort anna "Nahrung" findet sich an allen drei Stellen.

   Zunächst muß man sich davor hüten, aus bloßen Lautanklängen zwischen verschiedenen Sprachen irgendwelche weitgehenden Schlüsse zu ziehen. Es gibt eine gewisse S58 unsolide, unwissenschaftliche Art von Sprachforschung, von der in dieser Richtung viel Unfug verübt wird. Was das Wort Christus betrifft, so kann man zunächst wissen, daß es der griechischen Sprache entstammt, vom griechischen chriein "salben" abgeleitet ist, christos also "der Gesalbte", der gesalbte König ist, und wir erkennen, daß es sich nicht um irgendein äußeres Königtum dabei handeln kann, sondern daß das innere Königstum, das Königtum im Ich, gemeint ist (Joh.18,36). Es darf darauf hingewiesen werden, daß auch der Atharvaveda-Hymnus in einer für indische Verhältnisse höchst überraschenden Weise dieses "Königtum im Ich" stark betont, vgl. Vers 11 ("auf ihr will stehen unüberwindlich, ungetroffen, unverletzt, auf dieser Erde, ich", wo wir im Indischen dieselbe Wortfolge, denselben Abschluß der Strophe mit aham "ich" haben) und Vers 53ff, besonders 54 "ja ich, der Mensch, ich bin's" usw., so daß in Vers 8 rastre uttame "zu höchsten Herrschertums Inbegriff" sinngemäß übersetzt werden könnte "zur höchsten Herrschermacht im Ich".

   Aber so einwandfrei richtig diese Ableitung des Christusnamens aus der griechischen Sprache ist, so sicher ist das andere, daß die Eingeweihten, die in der griechisch-lateinischen Kulturperiode diesen Namen gegeben haben, bei ihrer Namensgebung noch weitere Zusammenhänge im Sinne hatten, als nur diejenigen, die aus der Ableitung von chriein "salben" sich ergeben. Für den das Wort gestaltenden, aus der geistgemäßen Wortgestaltung wirkenden Sprachschöpfer kommt eben nicht nur die schulmäßige Ableitung, die historische Etymologie eines S59 Wortes in Frage, sondern dasjenige, was für ein naturgemäßes, noch vom Ursprachlichen angeregtes Lautempfinden im Lautgefüge eines Wortes sich unmittelbar offenbart.

   So sinnlos es wäre, ein solches urwortmäßiges Empfinden auf irgendwelche in Alltagszusammenhängen gebrauchte, abgegriffene Worte, auf Worte aus zweiter Hand, anzuwenden, so berechtigt ist jene Anwendung des Urwortgesichtspunktes bei Namen des Göttlichen, vor allem beim Namen des Christus, von dem uns die Bibel sagt, daß er selbst alle schöpferischen Geheimnisse de Weltenworts in sich schließt (Joh. I,1-5). Da ist es, neben der äußeren Etymologie, der ihre Berechtigung niemals abgestritten wird, schon auch berechtigt, bei der Deutung des Namens jenes Lauterleben heranzuziehen, das noch unmittelbar aus dem Ursprachlichen, Urworthaften jedes einzelnen Lautes schöpft (Näheres in des Verfassers Schrift "Etymologie und Lautbedeutung", enthalten in "Neue Wege zur Ursprache". Verlag Urachhaus, Stuttgart 1954).

   Fragen wir einmal einen Eingeweihten, der in neuerer Zeit mit am allertiefsten in die Christus-Erden-Geheimnisse eingedrungen ist, fragen wir Jakob Böhme, wie er, aus jenem Urworthaften der Sprache und der Laute heraus, den Sinn des Christusnamens versteht. Da finden wir in dem Buche De Signatura Rerum im 7. Kapitel Ziffer 31 das Folgende - wobei der so sehr naturverbundene, aus allen Naturerscheinungen, "aus allen Blumenkelchen" möchte man sagen, die Geheimnisse der Welt erlauschende Jakob Böhme das Wort "Natursprache" S60 ganz im Sinne dessen gebraucht, was wir hier "das Ursprachliche", das Urworthafte der Laute nannten -: "Christus, das heißet in der Natursprache ein Durchbrecher: dem Grimm seine Gewalt nehmen, ein Schein des Lichtes in der Finsternis; eine Transmutation, da die Liebelust über die Feuerlust, als über den Grimm herrschet, das Licht über die Finsternis."

   Von alledem führt uns dann die Betrachtung noch einmal an die Geheimnisse des an das rein Lautliche des Christusnamens so eigenartig anklingenden Wortes kristi (krsti), das, an mehreren Stellen des Atharvaveda-Hymnus vorkommend, sowohl Ackerbau, Saatfeld wie Menschenstamm, Menschheit bedeutet. Es wäre, so sagten wir, nicht berechtigt, aus bloßen zufälligen lautlichen Übereinstimmungen in phantastischer Weise zu weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen. Aber hier, wo es sich um die Geheimnisse des Christusnamens und die in ganz bewußter Weise von Eingeweihten (christlichen wie indischen) aus dem Ursprachlichen geschöpften Namengebungen handelt, liegt der Fall doch anders. Hier darf, im Anschluß an dasjenige, was über Jakob Böhmes Erklärung des Christusnamens (Christus, der Durchbrecher oder Durchbringer) gesagt wurde, doch auf die eigentliche Bedeutung und ursprüngliche Ableitung des indischen Wortes kristi (Saatfeld und Menschheit) hingewiesen werden. Es kommt nämlich von einer Wurzel krs (sprich krisch) "durchziehen, durchbrechen, durchfurchen, durchdringen, überwinden", die zunächst vom Ziehen der Ackerfurche durch den Pflug, dann aber auch in einem höheren, geistigen Sinne gebraucht wird. Also das Bild S61 des Durchfurchens der Erde mit dem Pflug, des Ziehens der Ackerfurche mit dem Pflug steht in dem indischen Worte krsti, das dreimal auch im Erdhymnus vorkommt, vor uns. Und wenn wir hinschauen auf die eigenartige Doppelbedeutung des Wortes, so müssen wir uns von den Christus-Erden-Geheimnissen, die den Atharvaveda-Hymnus ganz erfüllen, in eigenartiger Weise berührt fühlen. Die Bilder des Johannes-Evangeliums (Kapitel 12 Vers 24) von Christus als dem Weizenkorn oder Samenkorn, das in die Erde versenkt wirt, das sterbend in die Erde aufgenommen viele Früchte bringt, treten uns vor die Seele. Und damit die ganzen Zusammenhänge, die zwischen Christus und Erde, Christus und Menschheit, Menschheit und Erde überhaupt bestehen, Zusammenhänge, die wir im Sinne heutiger christlicher Erkenntnis als die Geheimnisse des Brotes bezeichnen können, Geheimnisse, wie sie schon in den eleusinischen Mysterien der Griechen geahnt wurden und einen bedeutsamen Ausdruck dort gefunden haben. Auch im Atharvaveda-Hymnus kann uns der "Herr des Brotes" (Vers 40, indisch Bhaga; es findet sich das kurz vor der Strophe 42, in der dann die Geheimnisse von kristi wieder anklingen) an diese Zusammenhänge erinnern. Und es kann als recht bedeutsam empfunden werden, wenn in Strophe 3 neben jenem "Geheimnis des Brotes" auch das "Kelchgeheimnis" (das dann in Vers 60 noch einmal einen ganz unmittelbaren und tiefsinnigen Ausdruck gefunden hat) anklingt; denn jenes purvapeye dadhâtu am Schlusse der Strophe, das wir mit "sie lasse uns von ihrer unberührten Frische trinken" übersetzten, heißt ganz wörtlich: "sie (die Erde) S62 lasse uns zum ersten Trunk (aus ihrem Becher oder Kelche) zu".

   Zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, wie die dem Worte krsti (das uns an das Lautliche des Christusnamens erinnert und "Saatfeld" wie "Menschheit" bedeutet) zugrunde liegende Wurzel krs auch die Wurzel des Namens Krischna (Krsna) ist, also diesen Namen des indischen Heiland teilnehmen läßt an Christuszusammenhängen, die sich hier ergeben haben. Als Adjektiv hat krsna die Bedeutung "schwarz" (es findet sich in dieser Bedeutung auch in Vers 2 des Atharvaveda-Hymnus: "auf braunem, schwarzem, rötlichem, vielfarb'gem Erdengrunde..."), und es wird wohl das Richtige sein, an die schwarze Farbe der vom Pfluge in der Ackerfurche aufgelockerten Erde dabei zu denken.


3

Wir können die Betrachtung der Christus-Erden-Zusammenhänge im indischen Atharvaveda-Hymnus an die Erde nicht beschließen, ohne jener bedeutsamsten aller Christusstrophen zu gedenken, in der auch vom Kelchgeheimnis der Erde gesprochen wird. Es ist die Strophe 60, wo uns der indische Dichter, ähnlich wie in Strophe 24, wo vom Duftgeheimnis der Erde im Zusammenhang mit der bei der Hochzeitfeier der Sonnengöttin von Göttern bereiteten Duftessenz die Rede war, noch einmal tief in Schöpfungsgeheimnisse, in Urschöpfungszusammenhänge des Irdischen blicken läßt. Mit zwei Namen wird der Weltenschöpfer hier genannt. Der eine ist der Name Prajâpati (sprich Pradschapati, Ton auf der drittletzten S63 Silbe), der "Erstgeborene der hohen Weltenordnung"; also hier, wie überall im Indischen, ist der Schöpfergott nicht der Vater, der hier mit der heiligen Weltenordnung, dem Rta - siehe Erläuterung zu Vers 1 - selbst gleichgestellt wird, sondern der Sohnesgott, der Erstgeborene und "Eingeborene" des Vaters, der bei der Urschöpfung zuerst "auf einem Lotosblatt schwimmend" ans Licht trat.

   Und dann vor allem erscheint diese Wesenheit des schöpferischen Sohnesgottes gleich im Eingang der Strophe mit dem Namen Wischwakarman (Visvakarman), wörtlich: der "Allschöpfer". Dieser Wischwakarman, an den zwei Lieder (X,81+82) des indischen Rigveda gerichtet sind, gilt den Indern vor allem als der himmlische Zimmermann - als der "Weltbaumeister". Der künstlerische Gesichtspunkt des Weltschöpferischen findet in diesem indischen Namen Wischwakarman seinen besonderen Ausdruck, weshalb der - dem abendländischen Leser zunächst ja fremde - Name in unserer Übersetzung mit "der göttlich-schöpferische Weltenkünstler" wiedergegeben wurde. Der zweite Teil des Namens enthält as indische Wort karman, das, von kr "tun, machen, schaffen" abgeleitet und mit lateinisch creare "schaffen" verwandt ist.

   Im Zusammenhang mit den Schöpfungsgeheimnissen der Wischwakarman-Christus-Wesenheit berührt der Atharvaveda-Hymnus in dieser Strophe das Geheimnis der Erde in tiefsinniger Weise als Kelchgeheimnis: "Du (Erde) bist das Kelchgefäß", das, als die Erde noch irdischen Sinnen sich verbarg, gleichsam noch wie in einem Versteck, in einer bergenden Hülle verschlossen war.



Nachwort des Herausgebers


   Der "Hymnus an die Erde" ist das reifste Übersetzungswerk des Indologen Hermann Beckh. Während des ersten Weltkrieges hatte er sich in seine Lehrtätigkeit als Professor an der Universität Berlin mit Arbeiten über den Buddha eingeführt, die als die besten in deutscher Sprache auf diesem Felde gelten dürfen. Eine umfassende Gelehrsamkeit allein hätte ihm das nicht ermöglicht, wenn es nicht in der Tiefe zu einer Wesensberührung zwischen Hermann Beckh und der Gestalt des großen Inders gekommen wäre.

   Die äußeren Schicksale Hermann Beckhs scheinen sich zu wiederholten Malen an seinen geistigen Begegnungen entschieden zu haben. Dabei war die Begegnung mit Rudolf Steiner für ihn die bedeutendste. In ihrer Folge entstand in Hermann Beckh, der Entschluß, zusammen mit Friedrich Rittelmeyer und einer Schar sehr junger Theologen im Jahr 1922 die Christengemeinschaft zu begründen. Das war ein opfervoller Entschluß. Hermann Beckh gab seine errungene Stellung und Laufbahn, einen Teil seiner Geltung als Gelehrter und den Zusammenhang mit seinen Fachkollegen auf, um als Einsamer in eine Kreis Wagemutiger zu treten, die äußerlich vor dem Nichts standen, die sich ihr Arbeitsfeld erst selbst begründen mußten. Der Wagemut aber kam aus S65 begeistertem Herzen. Das hat auch für Hermann Beckh schöne innere Früchte getragen.

   Von vornherein lag es im Ideal dieses Kreises, ein universelles Christentum zu pflegen und den großen Gestalten auch der vorchristlichen Kulturen Bewunderung und Ehrfurcht zu zollen.

   Jetzt, nach dem Jahre 1922, erschienen von Hermann Beckh Übersetzungen aus dem Indischen und Alt-Iranischen, vor allem die Übersetzung des Mahâbaraníbhânasutta, dem heiligen Bericht vom Abscheiden Buddhas. Dazu kamen Aufsätze und Schriften, die in vergleichender Methode die großen religiösen Gestalten und Lehren Indiens, Alt-Persiens, Ägyptens, Israels und des Christentums behandelten. Je länger Hermann Beckh mit diesen alten Geistgestalten umging, um so mehr stellte er sie in ihren Besonderheiten dar. Er zeigte, wie alles Licht, das von den anderen Großen oder von so bedeutenden religiösen Kunstwerken wie z.B. dem "Hymnus an die Erde" auf die Hauptgestalt des Christentums fallen kann, diese in ihrer Einmaligkeit um so mehr heraustreten läßt, sie dem tieferen Verständnis erschließt und den Betrachter mit ihr ums so mehr verbindet. Bei universaler Weite war Hermann Beckh doch ferne von einer falschen Vermischung der Religionen. Es war ein Glück für die junge Bewegung für religiöse Erneuerung, diesen gelehrten Enthusiasten von Anfng an in ihren Reihen zu haben.

   Besonders lehrreich ist es, drei Werke Hermann Beckhs aus verschiedenen Zeiten seines Schaffens miteinander zu vergleichen: aus dem Jahre 1916 "Buddha, sein Leben S66 und seine Lehre", aus dem Jahre 1924 "De Hingang des Vollendeten" und "Der Hymnus an die Erde" aus dem Jahre 1934. In dem ersten Werke behandelte er aus den Pâli- und Sanskritquellen heraus den Inhalt fast aller alten buddhistischen Texte. Das ist ein kleiner Ozean an Literatur. Später richtete sich seine Arbeit mehr auf wenige ausgewählte Texte. Beckh wurde zum Übersetzer. Er drang in solche Tiefen der eigenen Seele vor, wo das dichterisch-schöpferische Wort geweckt wird. Zum ersten Male offenbarte sich diese neue Wortgewalt Herman Beckhs wohl im "Hingang des Vollendeten". Ihren reifsten Ausdruck fand sie später im "Hymnus an die Erde".

   Die Sprache unseres Hymnus, die heilige Sprache Indiens, das Sanskrit, hat ihre kräftigste, urwüchisge und zugleich geistgewaltige Form in der Frühzeit besessen, aus welcher dieser Hymnus stammt. Später wurden auch ihre Worte immer mehr zu Formeln und Hülsen und zu bloßen Ding-Bezeichnungen, wie wir sie in unseren modernen europäischen Sprachen fast nur noch kennen. Die feinsinnige Ausdruckskraft, das seelisch Schwebende, das mancherlei Willensnuancen Andeutende, geistig Durchlässige in den formreichen Tätigkeitsworten der Sanskritsprache können wir in unseren Sprachen nicht mehr nachbilden und darum auch nur schwer nachfühlen. Unsere Verben sind zu formarm geworden, und unsere Seelen haben sich weitgehend auf diese Armut eingestellt. Der Formenreichtum im alten Sanskrit ist viele Male größer sogar als der des Alt-Griechischen, das ihm sonst nahe verwandt ist. Der Sinngehalt der vielfältigen Verben zieht seine Bilder nicht aus dem Bereich S67 mechanischer Bewegungen, sondern aus den Fluten des Lichtes in weiten Räumen, aus der lebenden Natur und aus den Gebärden des Menschen. Dadurch sind ihre Bereiche oft schwebend-vielseitig, aber sie sind lebendig. Und unter den Hauptworten der alten Sprache umfassen solche religiösen Grundworte wie brahman, tapas, rta, satya und viele andere, gleich seelische Großreiche, die uns heute verdunkelt sind, deren Grenzen wir gar nicht mehr wahrnehmen und ermessen. Aus solchen Ursachen heraus galten viele der ältesten Lieder aus den Veden, darunter auch unser "Hymnus an die Erde", bis dahin in der Fachwelt eigentlich als unübersetzbar. Was in den bekannten Übersetzungen steht, sind meist gelehrte hölzerne Gerippe, die nicht einmal in Begriffen, geschweige denn in den Empfindungen ahnen lassen, was die Originale enthalten. Auch geborene Dichter, wie der Orientalist Friedrich Rückert einer war, sind an der Übersetzung dieses Textes im Grunde gescheitert, so gefällig auch seine Verse klingen. Wir setzen zum Vergleich den Anfang unseres Hymnus in Rückerts Übersetzung hierher:

 

Das Wahre, Ew'ge, Recht, das Strenge, Weihe, Buß',

Andacht und Opfer halten diese Erde;

Sie, die Herrin des Wesenden und Werdenden,

Die Erde, möge weiten Raum uns geben!


Die ohn' Beengung, unbewegt von Menschen,

Hat Höh'n und Senkungen und Eb'nen viele;

Die vielfachkräftige Gewächse nähret,

Uns breite sich die Erde, sei uns willig!


S68 Auf der das Meer ist und der Strom, die Wasser,

Auf der Getreid' und Pflügerschaft entstanden,

Auf der sich freut, was atmet und sich reget,

Die Erde rüst' uns aus zu Opfervortrank!


Auf der vormalige Vorfahren tätig waren,

Auf der die Götter kämpften mit den Asura's,

Die Hegerin von Kühen, Rossen, Nahrung,

Die Erde geb' uns Glückes Anteil, Ehre.


Allnährerin, Guthalterin, Bestallte,

Goldbrüstige, Herberge der Geschöpfe,

Die Erde, die den Allmannsagni heget,

Und Indra hat zum Stier, setz' in Besitz uns!


Die Allhegerin Erde, die behüten

Die Götter, die schlaflosen, ohne Säumnis,

Die melke lieben Honig uns, und betrief' uns mit Ehrenglanz!


Sie, deren Herz ist im obersten Himmel

In wahres Wesen eingehüllt unsterblich,

Die Erde geb' uns Glanz und Kraft, und setz' in höchste Herrschaft uns!


Deine Höhen, die schneeigen Gebirge,

Deine Wälder, o Erde, seien lieblich!

Die braune, schwarze, rote, vielgestaltige,

Die feste, breite, indrabeschützte Erde

Mög' ich unwelkend, unversehrt bewohnen.


S69 O Erde, was dein Mittel, was dein Nabel,

Was Kräfte deines Leibes sind geworden,

Darein setz' uns, und beström' uns mit Reinheit!

Die Erd' ist Mutter, ich der Sohn der Erde,

Himmelsregen ist Vater, der ernähr' uns!


   Einige Verse in der Ursprache des alten Liedes sind diesem Büchlein vorausgeschickt, damit auch der Laie sich in den Ton des Liedes laut sprechend hineinfinden kann.

   Die Übersetzung Hermann Beckhs ist in dieser Neuausgabe unverändert abgedruckt. Philologische Gründe für Eingriffe liegen nicht vor.


*


   Die Leistung Hermann Beckhs ist erstaunlich. Einem schon geprägten Gelehrten brach nachträglich eine dichterische Wortkraft aus der Seele, die sich dem naiven Werk ältester indischer Dichtung gewachsen zeigt. Wir dürfen vermuten, daß dies mit der Opferkraft, mit dem begeisterten Mute zusammenhängt, die Hermann Beckh wiederholt in seinem Leben bewiesen hat, am deutlichsten bei der Begründung der Christengemeinschaft. Er hat dabei ein Feuer in die Tiefen seiner Seele hereingelassen, das ihm dann so schöne Seelenfrüchte gebracht hat. Er ist darüber zum Dichter geworden.

   Otto Strauß, damals Ordinarius für Indologie in Breslau, schrieb über Hermann Beckhs Übersetzung des "Hymnus an die Erde" in der fachlich maßgeblichen "Orientalistischen Literaturzeitung" (1935 Nr.8/9): "Die Übersetzung zeigt den feinen Sinn des Verfassers für S70 religiöse Lyrik, der schon aus seinem Werk in derselben Reihe 'Der Hingang des Vollendeten' (Christus aller Erde, Band 18/19, Stuttgart 1925) in der Wiedergabe des Mahâparanibbânasutta hervorging. Indem er gelegentlich den indischen Ausdruck paraphrasiert, um dem deutschen Leser seinen ganzen Gehalt deutlich zu machen, im allgemeinen aber ziemlich treu übersetzt, gelingt es ihm glücklich, die Schönheit des Originals im Deutschen herauszubringen. Um den Wert der Leistung zu ermessen, genügt ein Vergleich mit Whitneys Übersetzung in der Harvard Oriental Series 8."

   Aus dem Gesagten wird man verstehen können, daß in dieser letzten Schaffensperiode Hermann Beckhs seit 1922 sich auch die Einleitungen und Anmerkungen zu seinen Übersetzungsarbeiten veränderten. Seine Seele hatte sich verändert. Was er bei den Übersetzungen jetzt zu bedenken, durchzufühlen und zu schaffen hatte, das war so vielschichtig geworden, daß man die Einführungen und Anmerkungen mit philologischen Erwartungen und Maßstäben allein nicht mehr verstehen kann. Beckh hört jetzt oft feinere Seelentöne in Lied und Wort, als andere es vermögen. Er bewegt sich manchmal über Seelen- und Weltengrenzen hinweg, die wir meist gar nicht bemerken. Darum sind seine inneren Wege nicht leicht zu überblicken.


*


   Weil für den naiven Genuß seiner Übersetzungen solche besondere Kenntnisse und Anstrengungen aber gar nicht nötig sind, hat der jetzige Herausgeber sich erlaubt, in S71 diesen Begleittexten einiges zu kürzen. Aus der ersten Ausgabe fehlt in der Einleitung ein mittlerer Abschnitt; und im Anhang fehlt so vieles, daß gerade noch ein Fenster stehengeblieben ist, durch welches man einen Blick in den Seelenraum des Übersetzers tun kann, um zu ermessen, welche Gedanken und Empfindungen mannigfacher Art darin zusammenwirken und dem Werk der Übertragung auf den Weg halfen.

   Die Anmerkungen hinter dem Text legen philologische Rechenschaft über die Übersetzung ab. Sie geben vor allen Dingen aber auch manche Winke für das oft schwierige innere Verständnis des Textes. Aus diesem Grunde mögen sie auch dem Laien zur Lektüre empfohlen sein.

   Der Anhang bildet eine Erweiterung der Anmerkungen. - Wer noch tiefer in die Geisteswelt und in das Arbeitsfeld Hermann Becks eindringen möchte, der wird sich seinen persönlichen Werken zuwenden, die nach langem Fehlen wieder erschienen sind oder in absehbarer Zeit wieder erscheinen werden (siehe nächste Seite).


Dieter Lauenstein




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