Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

 Anhang II

Rudolf Steiner: Zur Aufgabe der fünften Kulturperiode

aus 'Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums' GA 124, Berlin 7.11.1910 In diesem Vortrag  wird die Gliederung unserer Zeit und gleichzeitig unseres Lebenslaufes deutlich und dabei besonders die Überkreuzung der ab- und aufsteigenden Entwicklungsströmungen, die mit dem Christus-Impuls gegeben ist. Er ist hier im Zusammenhang mit der vorstehenden Behandlung des 'Historiogenetischen Grundgesetzes" zu sehen.

 

   Wir haben öfter in verschiedener Beziehung jene Entwicklung der Menschheit betrachtet, welche in dem sogenannten nachatlantischen Zeitrum, also eben in unserer Zeit, seit der atlantischen Katastrophe geschehen ist. Wir haben ja verschiedene Epochen, verschiedene Perioden dieser nachatlantischen Entwicklung angegeben. Wir haben hingewiesen aus die alte indische Zeit, auf die urpersische Zeit, auf die ägyptisch-chaldäische Zeit, auf die griechisch-lateinische Zeit und dann auf unsere eigene Epoche, die eben der fünfte Zeitabschnitt der nachatlantischen Entwicklung ist. Wir haben dann darauf aufmerksam gemacht, daß bis zum Hereinbrechen einer weiteren großen Katastrophe zwei weitere Zeiträume verfließen werden, so daß dann sieben solcher Zeitabschnitte der Erdenmenschheit zu zählen sein werden. Es ist begreiflich, daß wir in verschiedenen Hinsichten diese Epochen der Erdenmenschheit schilderten. Denn wir können, indem wir uns als Menschen der Gegenwart gewissermaßen über unsere eigenen Aufgaben orientieren wollen, nur dann eine Empfindung dafür haben, welcher Zukunft wir entgegengehen, wenn wir wissen, wie wir hineingestellt sind in diese verschiedenen Zeitalter.

   Nun wird ja in der verschiedensten Weise immer wieder betont, daß man unterscheiden kann zwischen dem einzelnen Menschen als einer kleinen Welt, einem Mikrokosmos, und zwischen der großen Welt, dem Makrokosmos. Und es wird mit Recht betont, daß der kleine Kosmos, der Mensch, nach jeder Richtung hin ein Abbild ist der großen Welt des Makrokosmos. Obwohl dies eine Wahrheit ist, ist es doch zunächst eine recht abstrakte Wahrheit, und wie sie gewöhnlich vertreten wird, ist auch mit ihr nicht viel anzufangen. Sie wird erst dann bedeutsam, wenn wir im einzelnen darauf eingehen können, inwiefern dies oder jenes, was uns am Menschen entgegentritt, wirklich als eine kleine Welt aufzufassen ist und in Beziehung zu setzen ist mit einer anderen, großen Welt.

       (S49) Nun gehört der Mensch der Gegenwart im Grunde genommen allen sieben Zeitaltern der nachatlantischen Epoche an, denn er war und wird in allen diesen Zeiträumen inkarniert. Wir sind durchgegangen durch die vergangenen Zeiten in unsern früheren Inkarnationen, und wir werden durchgehen in folgenden Inkarnationen durch die späteren Zeiträume. In jeder Inkarnation nehmen wir auf, was uns der betreffende Zeitraum geben kann. Und indem wir dies aufnehmen, tragen wir in einer gewissen Beziehung in uns selber die Ergebnisse, die Früchte der vorangegangenen Entwicklungen, so daß im Grunde genommen das Intimste, was wir in uns tragen, das sein wird, was wir uns durch die Zeiträume, die genannt worden sind, angeeignet haben. Denn man muß sagen: Was sich jeder einzelne Mensch in diesen Zeiträumen angeeignet hat, fällt schon mehr oder weniger in das gegenwärtige menschliche Bewußtsein herein, während in der Tat das, was wir während unserer Inkarnationen in der atlantischen Zeit im allgemeinen uns als Menschen angeeignet haben, doch ganz andere Bewußtseinszustände hatte, so daß es schon mehr oder weniger ins Unterbewußte hinuntergedrängt worden ist und nicht mehr so rumort wie das, was wir später, in der nachatlantischen Zeit, uns angeeignet haben. In gewisser Beziehung ist der Mensch in der atlantischen Zeit viel mehr davor geschützt gewesen, selber dies oder jenes zu verderben an seiner Entwickelung, weil das Bewußtsein noch nicht so erwacht war wie in der nachatlantischen Zeit. Was wir daher in uns tragen als Früchte der atlantischen Entwickelung, das ist viel korrekter, ist viel mehr der Weltordnung angemessen als das, was den Zeiten entstammt, wo wir selber schon etwas an uns in Unordnung bringen konnten. Gewiß, es haben auch schon in der atlantischen Zeit die ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten Einfluß gehabt. Aber auch diese wirkten damals in ganz anderer Art auf den Menschen. Der Mensch war damals nicht imstande, sich gegen sie zu wehren.

   Daß dieses immer mehr und mehr ins Bewußtsein hereintritt, ist das Wesentliche der nachatlantischen Kultur. In dieser Beziehung ist die Entwicklung der Menschheit von der atlantischen Katastrophe bis zur nächsten großen Katastrophe gewissermaßen auch ein Makrokosmisches.(S50) Wie ein großer Mensch entwickelt sich die ganze Menschheit durch die sieben nachatlantischen Zeiträume hindurch. Und das Wichtigste, was im menschlichen Bewußtsein entstehen soll durch diese sieben Kulturepochen hindurch, das durchlebt im Grunde genommen auch wieder ähnliche Perioden, wie der einzelne Mensch sie durchlebt.

   Wir haben die Lebensalter des Menschen dahin unterschieden - und in der 'Geheimwissenschaft' ist wieder darauf hingewiesen -, daß wir die ersten sieben Lebensjahre von der Geburt bis zum Zahnwechsel als die erste Periode rechnen. Wir haben gesagt, daß in dieser Zeit der physische Leib des Menschen endgültig seine Formen erlangt und daß mit den zweiten Zähnen im wesentlichen diese Formen festgestellt sind. Dann wächst der Mensch zwar noch innerhalb dieser Formen, aber im wesentlich haben die Formen ihre Richtungen. Es ist der Ausbau der Form, was sich in den ersten sieben Jahren vollzieht. Solche Rhythmen müssen wir richtig nach allen Seiten hin verstehen. Wir müssen daher auch gesetzmäßig unterscheiden die ersten Zähne, die der Mensch in den ersten Lebensjahren bekommt und die dann ausfallen und ersetzt werden durch die zweiten Zähne. Diese zweierlei Arten sind in bezug auf die Gesetzmäßigkeit des Leibes etwas ganz Verschiedenes: Die ersten Zähne sind vererbt, die stammen sozusagen als Früchte aus den früheren Organismen der Vorfahren, und erst die zweiten Zähne sind aus der eigenen physischen Gesetzmäßigkeit heraus. Das müssen wir festhalten. Nur wenn wir auf solche Einzelheiten eingehen, können wir uns klarwerden, daß hier wirklich ein Unterschied besteht. Die ersten Zähne bekommen wir, weil unsere Vorfahren sie uns vererben mit der Organisation; die zweiten Zähne erhalten wir, weil unser eigener physischer Organismus so beschaffen ist, daß wir sie durch ihn bekommen können. Das erstemal sind die Zähne direkt vererbt; das zweitemal ist der physische Organismus vererbt, und der erzeugt seinerseits die zweiten Zähne.

   Darnach haben wir einen zweiten Lebensabschnitt zu unterscheiden, der vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife geht, bis zum vierzehnten, fünfzehnten Jahr also. Er bedeutet die Ausbildung des Ätherleibes. Der Zeitstrom, der bis zum einundzwanzigsten, (S51) zweiundzwanzigsten Jahr geht, stellt dar die Ausbildung des Astralleibes. Dann folgt die Ausbildung des Ich, fortschreitend von der Ausbildung der Empfindungsseele zur Ausbildung der Verstandesseele und der Bewußtseinsseele. So unterscheiden wir die Lebensalter beim Menschen. Innerhalb dieser Lebensalter ist ja, wie Sie wohl wissen, regelmäßig nur das, was sich auf die ersten Lebensabschnitte bezieht. Das muß so sein und ist auch für den gegenwärtigen Menschen so richtig.

   Eine solche Regelmäßigkeit in der Unterscheidung wie für die ersten drei Lebensabschnitte findet für die folgenden dann nicht statt; wie sind auch in ihrer Lage durchaus nicht so genau anzugeben. Und wenn wir uns nach dem Grunde fragen, müssen wir uns klar sein, daß überhaupt immer in der Weltentwickelung nach den drei ersten Abschnitten von sieben Abschnitten gewissermaßen eine Mitte liegt. Wir sind jetzt hineingestellt in den nachatlantischen Zeitraum, haben die Früchte der vier ersten Zeiträume, also gewissermaßen die Früchte der ersten drei Zeiträume und des vierten, schon in uns, leben gegenwärtig im fünften und leben dem sechsten entgegen.

   Nun können wir sehr wohl in ganz berechtigter Weise eine Art Ähnlichkeit finden zwischen der Entwickelung der nachatlantischen Zeiträume und der Entwickelung des einzelnen Menschen, so daß wir auch da wieder das Makrokosmische von dem Mikrokosmischen recht gut unterscheiden können. Nehmen wir einmal das, was uns insbesondere die erste nachatlantische Epoche charakterisiert, die wir als die alt-indische bezeichnen, wie sich beim indischen Volke der Charakter der nachatlantischen Entwickelung ganz besonders ausprägte. In dieser ersten Epoche - das werden Sie belegt finden durch verschiedenes, was ich schon gesagt habe - gab es vor allen Dingen ein hohes, umfassendes, weitverzweigtes uraltes Wissen, eine uralte Weisheit. Was die sieben heiligen Rishis in Indien lehrten, war im Prinzip dasjenige, was die natürlichen Seher und auch ein großer Teil des Volkes wirklich damals in der geistigen Welt sahen. Dieses alte Wissen war in der indischen Zeit als eine Erbschaft von früher vorhanden. Während der atlantischen Zeit war es hellseherisch erfahren worden. Jetzt war es mehr eine uralte, vererbte Weisheit geworden, (S52) die aufbewahrt war und von denjenigen, die sich durch die Initiation wieder zu den geistigen Welten hinaufrangen, von den Rishis verkündet wurde. Im wesentlichen war das, was in das menschliche Bewußtsein hereindrang, durchaus ein vererbtes Gut. Daher hatte es auch gar nicht irgendwie den Charakter unseres heutigen Wissens. Man macht sich eine falsche Vorstellung, wenn man die wichtigsten Sachen, die in der ersten nachatlantischen Kulturperiode von den heiligen Rishis verkündet worden sind, in solchen Formen auszudrücken versucht, wie wir unser Wissen in der heutigen Wissenschaft ausdrücken. Das geht kaum. Denn die wissenschaftlichen Formen, die wir heute haben, sind erst in der nachatlantischen Kultur selber entstanden. Das Wissen der alten Rishis war ganz anderer Art. Es war ein solches, daß der, welcher es mitteilte, fortwährend fühlte, wie es in ihm arbeitete, in ihm gärte, wie es im Augenblick entstand. Und ein Charakteristikon müssen wir vor allen Dingen festhalten, wenn wir verstehen wollen, wie damals das Wissen war. Dieses Wissen war nämlich gar nicht auf Gedächtnis gebaut. Gedächtnis spielte dabei noch gar keine Rolle. Das bitte ich Sie ganz besonders ins Auge zufassen. Heute spielt das Gedächtnis die größte Rolle in der Mitteilung von Wissen. Wenn ein Universitätsprofessor den Katheder oder ein öffentlicher Redner die Rednertribüne besteigt, so muß er dafür gesorgt haben, daß er das, was er sagen will, vorher gewußt hat und nachher aus dem Gedächtnis wiederholt. Es gibt zwar Leute, die heute sagen, sie tun es nicht, sie folgen ihrem Genius, aber mit dem ist es nicht weit her. Heute ist Mitteilung des Wissens wirklich zum allergrößten Teil auf Gedächtnis gebaut.

   Wie in der alt-indischen Zeit das Wissen mitgeteilt wurde, davon macht man sich eine richtige Vorstellung, wenn man sich sagt: Das Wissen entstand erst in dem Kopfe dessen, der es mitteilte, während er es mitteilte. Früher bereitete man das Wissen nicht auf dieselbe Weise vor, wie es heute vorbereitet wird. Der alte Rishi bereitete es nicht so vor, daß er in sein Gedächtnis aufnahm, was er zu sagen hatte. Er bereitete sich dadurch vor, daß er sich selber in eine heilige Stimmung versetzte, sich sozusagen in eine fromme Stimmung versetzte, daß er das, was er mitteilte, so auffaßte: Ich muß meine Seele (S53) erst fromm machen, mit heiligen Stimmungen durchziehen! Die Stimmung bereitete er vor, die Gefühle, aber nicht das, was er zu sagen hatte. Und dann war es wie ein Ablesen in dem Momente des Mitteilens aus einem Unsichtbaren heraus. Zuhörer, die etwa mitschreiben würden, wären undenkbar gewesen in der damaligen Zeit. Das war etwas absolut Ausgeschlossenes, denn man würde es so aufgefaßt haben, daß das, was man auf diese Weise mitbringt, nicht den allergeringsten Wert hat. Nur das hatte einen Wert im Sinne der damaligen Zeit, was man in seiner Seele mittrug, und was einen anregte, nachher in ähnlicher Weise die Sache zu reproduzieren, wie es der welcher es vorgebracht hatte, selber reproduziert hatte. Es wäre eine Entheiligung des Mitgeteilten gewesen, wenn man etwas aufgeschrieben hätte. Warum? Weil man im Sinne der damaligen Zeit ganz mit Recht der Ansicht war: Was auf dem Papier steht, ist nicht dasselbe wie das Mitgeteilte, kann es gar nicht sein!

   Diese Tradition hat sich lange Zeit hindurch erhalten, denn solche Dinge erhalten sich ja in den Gefühlen viel länger als in dem Verständnis. Und als im Mittelalter die Buchdruckerkunst noch zur Schreibkunst hinzukam, da wurde sie vom Volke zunächst als schwarze Zauberei empfunden, weil in den Volksgemütern noch alte Empfindungen rumorten; weil man ein Gefühl davon hatte, daß das, was von Seele zu Seele leben soll, nicht in einer so grotesk profanen Art aufbewahrt werden sollte, wie es geschieht, wenn man es mit Druckerschwärze aufmalt auf weiße Blätter, so daß man es gewissermaßen erst in ein Totes verwandelt, um es dann, vielleicht in einer recht wenig erbaulichen Weise, wieder zu beleben. Also diese unmittelbare Strömung von Seele zu Seele müssen wir als ein Charakteristikon der damaligen Zeit auffassen. Das war ganz und gar eine Tendenz der ersten nachatlantischen Zeit, und die muß man in der rechten Weise auffassen, wenn man zum Beispiel verstehen will, wie die alten Rhapsoden in der griechischen und auch noch in der altgermanischen Zeit herumzogen und ihre langen, langen Dichtungen vortrugen. Hätten sie ihr Gedächtnis dazu gebraucht, so hätten sie es nicht immer wieder wieder so vortragen können. Denn es war die Seeleneigenschaft, die Seelenkraft, die ihnen zugrundelag, (S54) eine viel lebendigere. Wenn heute jemand ein Gedicht vorträgt, hat er es vorher gelernt. Diese Leute aber erlebten, was sie vortrugen, und es war wirklich eine Art Nachschaffen in diesem Momente vorhanden. Das wurde auch dadurch unterstützt, daß in ganz anderem Umfange, als es heute der Fall ist, die mehr seelischen Elemente noch mit in den Vordergrund traten. Heute wird - mit einem gewissen Recht für unsere Zeit - alles Seelische unterdrückt. Wird heute etwas vorgetragen, so handelt es sich um den Sinn; es wird der Wortsinn herausgearbeitet. So war es noch nicht einmal, als der mittelalterliche Sänger das Nibelungenlied vorgetragen hat. Der hatte noch ein gewisses Gefühl für den inneren Rhythmus, er stampfte sogar mit dem Fuße, indem er den Takt der Hebungen und Senkungen, auf- und abgehend, markierte.

   Das sind aber nur Nachklänge dessen, was in der alten Zeit vorhanden war. Dennoch würden Sie sich eine falsche Vorstellung von den alten indischen Rishis und ihren Schülern machen, wenn Sie glauben wollten, sie hätten das alte atlantische Wissen nicht treu vermittelt. Die Schüler in unseren Hochschulen, wenn sie auch das ganze Kollegheft vollgeschrieben haben, geben das Gesagte nicht so treu wieder, wie das alte Wissen damals von den indischen Rishis wiedergegeben wurde.   Das sind aber nur Nachklänge dessen, was in der alten Zeit vorhanden war. Dennoch würden Sie sich eine falsche Vorstellung von den alten indischen Rishis und ihren Schülern machen, wenn Sie glauben wollten, sie hätten das alte atlantische Wissen nicht treu vermittelt. Die Schüler in unsern Hochschulen, wenn sie auch das ganze Kollegheft vollgeschrieben haben, geben das Gesagte nicht so treu wieder, wie das alte Wissen damals von den indischen Rishis wiedergegeben wurde.

   Die nächsten Zeiträume sind dann dadurch charakteristisch, daß im wesentlichen das alte atlantische Wissen aufhörte zu wirken. Bis zum Untergang der uralt-indischen Kulturperiode war es wirklich so, daß das Wissen, welches die Menschheit wie eine Erbschaft erhalten hatte, immer weiter und weiter wuchs. Es war noch ein Wachstum des Wissens vorhanden. Das war aber im wesentlichen mit dem ersten nachatlantischen Zeitraum abgeschlossen, und man konnte nach der indischen Zeit kauf irgend etwas Neues herausbringen aus der menschlichen Natur, was nicht schon dagewesen wäre. Also eine Vermehrung des Wissens war nur in dem ersten Zeitraum möglich, dann hörte das auf. Und in dem urpersichen Zeitraum begann bei denen, die beeinflußt waren vom Zarathustrismus, mit Bezug auf die äußere Wissenschaft dasjenige, was sich nun vergleichen läßt mit dem zweiten menschlichen Lebensabschnitt und was man so auch am besten (S55) verstehen wird. Denn die alt-indische Kulturperiode läßt sich wirklich vergleichen mit dem ersten Lebensabschnitt des Menschen, mit der Zeit von der Geburt bis zum siebenten Jahre, wo sich alles an Formen herausbildet, während alles Spätere nur ein Wachstum innerhalb der festgestellten Formen ist. Und was jetzt in der urpersischen Epoche folgte, das läßt sich nunmehr vergleichen mit einer Art von Lernen. Wie der Mensch in seinem zweiten Lebensabschnitt sein schulmäßiges Lernen betreibt, so läßt sich die urpersische Zeit auch mit einer Art von Lernen vergleichen. Nur müssen wir uns klarwerden, wer die Schüler und wer die Lehrer waren. Da möchte ich eines sagen.

   Ist es Ihnen nicht schon merkwürdige aufgefallen, wie ganz anders Zarathustra, der eigentlich Führer der zweiten nachatlantischen Kulturepoche, vor uns steht als die indischen Rishis? Während uns die Rishis erscheinen wie von uralt heiligem Altertum geweihte Persönlichkeiten, in die sich hineinergießt das alte atlantische Wissen, erscheint Zarathustra als die erste Persönlichkeit, die initiiert ist mit dem nachatlantischen Wissen. Es tritt also ein Neues ein. Zarathustra ist tatsächlich die erste nachatlantische Persönlichkeit - als historische Persönlichkeit -, die in jene Form des Mysterien-Wissens, das eigentlich nachatlantisch ist, eingeweiht war, in welcher das Wissen so präpariert wird, daß es im Grunde genommen erst verständlich wird für Vernunft und Verstand der nachatlantischen Menschheit. Es war allerdings in den Zarathustra-Schulen in der ersten Epoche so, daß man ein eminent übersinnliches Wissen erlangte. Aber es trat in diesen Zarathustra-Schulen zum ersten Male so auf, daß es anfing, in menschliche Begriffe sich zu formen. Während das alte Rishi-Wissen, nicht wiedergegeben werden kann in den Formen unserer heutigen Wissenschaft, ist dies schon eher möglich bei dem Zarathustra-Wissen. Das ist zwar ein ganz übersinnliches Wissen, handelt auch von dem Wissen der übersinnlichen Welt, aber kleidet sich in Begriffe, die ähnlich sind den Begriffen und Ideen der nachatlantischen Zeit überhaupt. Und bei seinen Anhängern entsteht jetzt hauptsächlich das, was man nennen kann: es wird systematisch (S56) ausgebildet das Begriffs-System der Menschheit. Das heißt, es wird der uralt heilige Weisheitsschatz genommen, der sich bis zum Ende der indischen Epoche entwickelt und sich von Generation zu Generation fortgesetzt hat. Neues kommt nicht mehr hinzu, aber jetzt wird das Alte ausgearbeitet. Und die Aufgabe der Mysterien des zweiten nachatlantischen Kulturzeitraums können wir uns vorstellen durch einen Vergleich, wie wenn heute zum Beispiel irgendein okkultes Buch erscheint. Es könnte natürlich jedes okkulte Buch, das wirklich auf den Forschungen in den höheren Welten beruht, ganz in logische Auseinandersetzungen gekleidet werden, könnte heruntergebracht werden auf den physischen Plan ganz in logische Auseinandersetzungen hinein. Das könnte geschehen. Dann hätte aber zum Beispiel meine 'Geheimwissenschaft' ein Werk von fünfzig Bänden werden müssen und jeder Band so groß wie der eine Band selbst. Auf diese Weise würde man jedes Gebiet ganz genau auseinanderhalten und in logische Formen kleiden können. Das ist alles drinnen und kann gemacht werden. Aber man kann auch in einer anderen Weise denken: daß man nämlich dem Leser gleichsam etwas übrigläßt und daß er versucht, darüber nachzudenken. Denn das muß schon heute versucht werden; sonst würde man überhaupt nicht im Betriebe des Okkultismus weiterkommen. Heute im fünften nachatlantischen Zeitraum hat der Mensch schon die Möglichkeit, mit den Vernunftbegriffen, die die Menschheit entwickelt hat, an ein solches okkultes Wissen heranzugehen und es zu verarbeiten. Aber während der Zarathustra-Epoche mußte man erst die Begriffe finden für diese Tatsachen. Da wurden sie nach und nach herausgearbeitet. Solche Wissenschaften, wie es sie heute gibt, gab es damals nicht. Es gab etwas wie einen Überrest aus der Zeit des alten Rishi-Wissens, und es trat etwas ein, was kleidbar war in menschliche Begriffe. Aber die menschlichen Begriffe selbst mußten erst gefunden werden; darin wurde das Übersinnliiche erst hineingegossen. Diese Nuance, Übersinnliches in menschliche Begriffe zu fassen, kam erst auf. Daher kann man sagen: Die Rishis sprachen durchaus noch in der Art, wie man überhaupt nur übersinnliches Wissen aussprechen kann. Sie sprachen in einer variablen Bildersprache, in (S57) einer imaginativen Sprache. Sie gossen gleichsam ihr Wissen von Seele zu Seele, indem sie vollsaftige Bilder sprachen, die immer wieder und wieder entstanden, wo sie ihr Wissen mitteilten. Von Ursache und Wirkung, von andern Begriffen, wie wir sie heute haben, von irgendeiner Logik war gar nicht die Rede. Das kam alles erst später auf. Und mit Bezug auf das übersinnliche Wissen begann man damit in der zweiten nachatlantischen Kulturperiode. Da fühlte man sozusagen erst den Widerstand des materiellen Daseins, da fühlte man die Notwendigkeit, das Übersinnliche so auszudrücken, daß es Formen annimmt, die der Mensch denkt auf dem physischen Plan. Das ist auch im wesentlichen die Aufgabe der urpersischen Kulturepoche gewesen.

   Dann kam der dritte nachatlantische Zeitraum, die ägyptisch-chaldäische Kultur. Jetzt hatte man übersinnliche Begriffe. Das ist nun für den heutigen Menschen schon wieder schwer. Man soll sich vorstellen: keine physische Wissenschaft noch, sondern Begriffe vom Übersinnlichen, die man auch auf übersinnliche Weise gewonnen hatte. Man wußte, was in den übersinnlichen Welten vorging, und man konnte es sagen in den Denkformen des physischen Planes. Jetzt im dritten Kulturzeitraum fing man an, das, was man aus der übersinnlichen Welt gewonnen hatte, anzuwenden auf den physischen Plan selber. Das läßt sich wieder mit dem dritten Lebensabschnitt des Menschen vergleichen. Während der Mensch im zweiten Lebensabschnitt lernt, ohne daran zu gehen, das Gelernte anzuwenden, ist es im dritten Lebensabschnitt so, daß die meisten Menschen es schon wieder auf den physischen Plan anwenden müssen. Schüler des himmlischen Wissens waren die Zarathrustra-Schüler der zweiten Kulturepoche. Jetzt finden die Menschen an, das, was sie gewonnen hatten, auf den physischen Plan anzuwenden. Sagen wir, um es uns zu vergegenwärtigen: Nun hatten die Menschen gelernt aus den Schauungen des Übersinnlichen, wie man alles Übersinnliche dadurch fassen kann, daß man es ausdrückt in einem Dreieck - das Dreieck als Bild für das Übersinnliche; daß man die übersinnliche Menschennatur, die in die Physis hineingegossen wird, als eine Dreiheit auffassen kann. Und so hatte man andere Begriffe noch (S58) gelernt, so daß man physische Dinge auf Übersinnliches anwandte. Geometrie zum Beispiel ist zuerst so gelernt worden, daß man sie als symbolische Begriffe hatte. Nun waren sie da, und man wandte sie an: die Ägypter in der Feldmeßkunde auf ihr Feldbauen, die Chaldäer auf den Gang der Gestirne, indem sie die Astrologie, die Astronomie begründeten. Was früher nur für etwas Übersinnliches gegolten hatte, das wandte man nun an auf das, was man physisch-sinnlich sah. Man fing an, was man herausgeboren hatte aus dem übersinnlichen Wissen, auf dem physischen Plan herauszuarbeiten, so daß im dritten Kulturzeitrau, wenn wir so sagen wollen, die Anwendung des übersinnlich gewonnenen Wissens auf die Sinneswelt begann. Das ist erst im dritten Zeitraum der Fall gewesen.

   Im vierten Zeitraum, dem griechisch-lateinischen, ist nun insbesondere wichtig, daß der Mensch darauf kommt, daß die Sache so ist. Vorher tat er es, aber er war gar nicht darauf gekommen, daß die Sache so ist. Die alten Rishis brauchten nicht darauf zu kommen, denn sie hatten unmittelbar das Wissen aus der geistigen Welt einfließend. In der Zarathustra-Zeit verarbeitete man nur das geistige Wissen und wußte ganz genau, wie sich das übersinnliche Wissen selber formt. In der ägyptisch-chaldäischen Periode umkleidete man die Begriffe aus dem Übersinnlichen mit dem, was man aus dem Physischen gewonnen hatte. Und im vierten Zeitraum sagte man: Hat man ein Recht, das, was aus der geistigen Welt gebildet worden ist, auf die physische Welt anzuwenden? Paßt das, was im Geistigen gewonnen ist, auch wirklich auf die physischen Dinge? - Diese Frage konnte sich der Mensch erst im vierten Kulturzeitraum vorlegen, nachdem er eine Zeitlang in Unschuld das übersinnliche Wissen angewendet hatte auf die physischen Erfahrungen und physischen Beobachtungen. Da war er gegen sich selbst einmal gewissenhaft und fragte sich: Was gibt es für ein Recht, anzuwenden übersinnliche Begriffe auf physisches Geschehen, auf physische Tatsachen?

   Nun ist eigentlich immer eine Persönlichkeit in einem Zeitraum vorhanden, die irgendeine wichtige Aufgabe dieses Zeitraumes ganz besonders ausführt und der es ganz besonders auffällt, daß so etwas da ist. An einer solchen Persönlichkeit, der es auffällt: Hat man ein (S59) Recht, übersinnliche Begriffe auf physische Tatsachen anzuwenden? - kann man dann so recht sehen, wie sich das, was ich jetzt angedeutet habe, entwickelt. So können Sie zum Beipiel sehen, wie Plato noch einen ganz lebendigen Bezug hat auf die alte Welt und noch in der alten Form die Begriffe anwendet auf die physische Welt. Sein Schüler Aristoteles ist dann der, welcher fragt: Darf man denn das auch? - Daher ist er der Begründer der Logik.

   Die, welche sich gar nicht mit Geisteswissenschaft befassen, sollten sich einmal die Frage vorlegen: Warum ist denn Logik erst im vierten Zeitraum entstanden? Hat denn die Menschheit, wenn sie sich seit unbestimmten Zeiten entwickelte, gar keine Gründe gehabt, sich in einem bestimmten Zeitpunkt die Frage nach der Logik zu stellen? - Man kann überall, wenn man die Dinge real betrachtet, wichtige Knotenpunkte in der Entwickelung gerade in einem bestimmten Zeitpunkt angeben. So ist ein wichtiger Zeitpunkt in der Entwickelung zum Beispiel zwischen Plato und Aristoteles. Man möchte also sagen: Wirklich, in dem geschilderten Zeitraum haben wir etwas vor uns, was noch in einer gewissen Weise in Beziehung steht zu dem alten Zusammenhang mit der geistigen Welt, wie er noch in der atlantischen Zeit vorhanden war. Das lebendige Wissen erstarb zwar mit dem indischen Zeitraum Aber damit hatte man ein Neues heruntergebracht. Jetzt aber war man in einer gewissen Weise kritisch geworden: Wie darf man das Übersinnliche anwenden auf physisch-sinnliche Dinge? Das heißt, der Mensch war sich erst jetzt bewußt geworden, daß er selber etwas vollbringt, wenn er äußerlich die Welt beobachtet; daß er da etwas herunterträgt in die Welt. Das war ein wichiger Zeitraum.

   Von den Begriffen und Ideen kann man noch spüren, daß sie ein Übersinnliches sind, wenn man in dem Charakter der Begriffe und Ideen anfängt, eine Garantie zu sehen für die übersinnliche Welt. Aber die wenigsten spüren es. Es ist ein recht Dünnes, Fadenscheiniges für die meisten Menschen, was in den Begriffen und Ideen liegt. Und obwohl darin etwas lebt, wodurch ein voller Beweis für die Unsterblichkeit des Menschen erbracht werden kann, würde er doch nicht zur Überzeugung gebracht werden können, weil Begriffe und Ideen gegenüber der derben Realität, die der Mensch verlangt, (S60) wirklich ein recht dünnes Spinnengewebe sind. Es ist das Dünnste, was der Mensch nach und nach herausgesponnen hat aus der geistigen Welt, nachdem er heruntergeschritten ist in die physische Welt. Das Dünnste, der letzte Faden aus der übersinnlichen Welt, sind noch Begriffe und Ideen. Und in dieser Zeit, als der Mensch zu dem letzten, für ihn gar nicht mehr glaubhaften Gewebe heruntergeschritten ist, wo er sich ganz herausgesponnen hat aus der geistigen Welt, da haben wir nun zu verzeichnen den gewaltigsten Einschlag aus der übersinnlichen Welt: den Christus-Impuls. So geht herein in unsere nachatlantische Zeit die stärkste spirituelle Realität und tritt in einem Zeitraum auf, wo der Mensch selber in sich die geringste spirituelle Begabung hat, weil er nur noch die spirituelle Begabung hat für Begriffe und Ideen.

   Für den Betrachter der Menschheitsentwickelung im großen gibt es eine recht interessante Zusammenstellung, die, abgesehen davon, daß sie, ich möchte sagen, gewittersturmähnlich auf die Seele wirken kann, auch wirklich wissenschaftlich außerordentlich interessant sein kann: wenn Sie nämlich die unendliche Spiritualität jenes Wesens, das in die Menschheit einschlägt mit dem Christus-Prinzip, dem zur Seite stellen, daß sich der Mensch kurz vorher gefragt hat, wie sein letztes spirituelles Spinnengewebe zusammenhängt mit der Spiritualität - das heißt, wenn Sie die aristotelische Logik daneben stellen, dieses Gewebe der allerabstraktesten Begriffe und Ideen, zu denen der Mensch heruntergeschritten ist. Man kann sich keinen größeren Abstand denken als zwischen der Spiritualität, die sich heruntersenkte auf den physischen Plan in der Wesenheit des Christus, und dem, was sich der Mensch selber gerettet hat an Spiritualität. Daher werden Sie es so begreiflich finden, daß es zunächst in den ersten Jahrhunderten des Christentums gar nicht möglich war, mit diesem Spinnengewebe von Begriffen, wie es in dem Aristotelismus vorhanden war, die Spiritualität des Christus zu begreifen. Und nach und nach entstand dann die Bemühung, die Tatsachen des Welt- und Menschheitsgeschehens so zu begreifen, daß die aristotelische Logik anwendbar wurde auf die Weltenvorgänge. Das war dann die Aufgabe der mittelalterlichen Philosophie.

   (S61) Wichtig aber ist es nun, daß der vierte nachatlantische Kulturzeitraum sich vergleichen läßt in den menschlichen Lebensabschnitten mit der menschlichen Ich-Entwicklung; daß das Ich der ganzen Menschheit selber hereinschlägt in die Menschheitsentwickelung und daß der Mensch als solcher eigentlich am weitesten weggerückt ist von der spirituellen Welt. Das ist auch der Grund, warum der Mensch zunächst gar nicht anders fähig war, den Christus aufzunehmen, als durch den Glauben. Daher mußte das Christentum zunächst eine Glaubenssache sein und fängt erst nach und nach an, zu einer Wissenssache zu werden. Es wird eine Wissenssache werden. Aber wir haben erst jetzt angefangen, die Evangelien mit dem Wissen zu durchdringen. Das Christentum war eine Glaubenssache durch Jahrhunderte und Jahrtausende, mußte es sein, weil der Mensch am weitesten heruntergekommen war von den spirituellen Welten.

   Wenn es nun auch im vierten nachatlantischen Zeitraum so war, so ist es doch notwendig, daß nach diesem weitesten Herunterkommen der Mensch jetzt wieder beginnt hinaufzusteigen. Der vierte Zeitraum hat den Menschen in einer gewissen Beziehung am weitesten heruntergebracht, hat ihm aber dafür gegeben den größten spirituellen Einschlag - der er natürlich nicht verstehen konnte, sondern der erst in den nachfolgenden Perioden wird verstanden werden können. Aber wir erkennen jetzt daran unsere Aufgabe: unsere Begriffe wieder von innen heraus mit Spiritualität zu durchdringen.

   Die Weltentwickelung ist nicht ganz einfach. Wenn nämlich eine Kugel ins Rollen gekommen ist nach einer gewissen Richtung hin, so hat sie die Trägheit weiterzurollen. Und soll sie nach einer andern Richtung weiterrollen, so muß ein anderer Impuls kommen, der sie in die andere Richtung stößt. So hatte die vorchristliche Kultur die Tendenz, das Heruntersausen in die physische Welt beizubehalten und hineinzutragen in unsere Zeit. Und die aufstrebende Tendenz ist einmal erst im Anfange, und außerdem braucht sie fortwährend Antriebe nach aufwärts. Besonders zum Beispiel im menschlichen Nachdenken können wir sehen, wie sich die Trägheit im Heruntersausen fortsetzt. Und ein großer Teil dessen, was man heute Philosophie nennt, ist nichts weiter als ein Fortrollen der Kugel nach unten. Aristoteles hatte (S62) wirklich noch eine Ahnung davon, daß tatsächlich mit dem Spinnengewebe der menschlichen Begriffe eine spirituelle Realität ergriffen wird. Ein paar Jahrhunderte nach ihm aber waren schon die Menschen überhaupt nicht mehr imstande zu wissen, wie das, was im menschlichen Kopfe beobachtet wird, zusammenhängt mit der Wirklichkeit. Und das Allerdürrste, das Trockenste in der Entwickelung des Alten ist der Kantianismus und alles, was damit zusammenhängt. Denn der Kantianismus stellt die Hauptfrage so, daß er sich überhaupt jeden Zusammenhang abschneidet zwischen dem, was der Mensch entwickelt als Begriff, zwischen der Vorstellung als Innenleben und dem, was die wirklichen Begriffe sind. Das ist alle Absterbendes, Altes, und ist daher gar nicht dafür veranlagt, das Belebende für die Zukunft zu geben. Jetzt werden Sie sich nicht mehr wundern, daß der Schluß meiner psychosophischen Vorträge einen theosophischen Hintergrund hatte. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß wir bei allem, was wir treiben, insbesondere für das Seelen-Wissen, die Aufgabe haben, das Wissen, welches vordem von den Göttern den Menschen geschenkt worden ist und heruntergetragen wurde so, daß wir uns davon haben anregen lassen -, daß dieses Wissen wieder hinzuopfern ist vor den Altären der Götter. Nur müssen wir uns solche Begriffe wieder aneignen, die aus der Spiritualität heraus kommen.

   Es ist nicht unbescheiden gesprochen, sondern aus der Gesetzmäßigkeit der Zeit heraus, wenn ich sage: Es ist notwendig, gerade die Seelenlehre so zu treiben, auch als Wissenschaft, daß sie herauskommt aus dem todesstarren Zustand, in den sie gekommen ist. Gewiß, es hat viele Psychologen gegeben, und gibt es auch noch heute, aber sie arbeiten alle mit den von der Spiritualität nicht belebten Begriffen. Daher ist es ein charakteristisches Zeichen, daß ein Mensch wie Franz Brentano 1874 nur den ersten Band seiner 'Psychologie' hat erscheinen lassen, dessen Inhalt, wenn auch manches darin schief ist, im allgemeinen richtig angelegt ist. Er hatte dann auch den zweiten Band bereits angekündigt, der noch in demselben Jahr herauskommen sollte; aber er ist damit nicht fertig geworden, er ist stecken geblieben. Schematisieren konnte er noch. Will man aber weiterkommen, so braucht man dazu den spirituellen Einschlag.

   (S63) Solche Psychologien, wie sie heute da sind zum Beispiel von Wundt und Lipps, sind eigentlich keine Psychologie, weil sie nur mit vorgefaßten Begriffen arbeiten; sie sind von Anfang an nicht darauf angelegt, daß aus ihnen etwas werden sollte. Die Psychologie Franz Brentanos dagegen war dazu angelegt, daß aus ihr etwas hätte werden können, aber sie mußte steckenbleiben. Und das ist das Schicksal aller absterbenden Wissenschaft. Bei den Naturwissenschaften wird es nicht so schnell gehen. Da kann man mit strohernen Begriffen arbeiten, weil man die Tatsachen sammelt und sie sprechen lassen kann. Bei der Seelenwissenschaft ist das aber viel weniger zu erreichen. Man verliert sogleich das ganze Substrat, wenn man mit den gewöhnlichen strohernen Begriffen arbeiten will. Den Herzmuskel verliert man nicht sogleich, wenn man ihn auch analysiert wie ein mineralisches Produkt, ohne sein wahres Wesen zu kennen. In gleicher Weise aber kann man nicht die Seele analysieren.

   So ersterben gleichsam die Wissenschaften von oben herunter. Und nach und nach werden die Menschen darauf kommen, daß sie zwar imstande sind, die Naturgesetze zu verwerten, daß das aber ganz unabhängig ist von der Wissenschaft. Konstruktionen von Maschinen und Werkzeugen, Telephonen und so weiter, das ist etwas ganz anderes, als die Wissenschaften richtig zu verstehen oder gar weiterzuführen. Es braucht jemand keinen Einblick zu haben in Elektrizität, und der kann doch elektrische Apparate konstruieren. Wirkliche Wissenschaft aber stirbt immer mehr und mehr ab. Und so stehen wir jetzt an dem Punkt, wo die äußere Wissenschaft tatsächlich durch die Geisteswissenschaft belebt werden muß. Gerade unser fünfter Kulturabschnitt hat auf der einen Seite die träg herabrollende Wissenschaft. Wenn die Kugel nicht weiter kann, bleibt sie eben stecken - wie bei Brentano. Daneben muß aber das Aufwärtssteigen der Menschheit immer mehr und mehr belebt werden. Und das wird es auch. Das kann nur dadurch geschehen, daß solche Bestrebungen fortgesetzt werden, die darin bestehen, das auch äußerlich gewonnene Wissen mit dem zu befruchten, was die spirituelle, die okkulte Forschung bietet.

   Es wird ja unser Zeitraum, als der fünfte nachatlantische, immer mehr einen solchen Charakter annehmen, daß, wie ich schon einmal (S64) betont habe, der alte ägyptisch-chaldäische Zeitraum wie eine Art Wiederholung innerhalb unseres eigenen Zeitraumes erscheinen wird. Da möchte ich Sie auf eines aufmerksam machen. In dieser Wiederholung sind wir auch heute noch nicht besonders weit, sondern recht sehr erst am Anfange. Wie wenig weit wir darin sind, das konnte Ihnen auch hervortreten, wenn Sie denkend betrachtet haben, was sich immerhin zugetragen hat auf verschiedenen Gebieten während unserer Generalversammlung. Da haben Sie zum Beispiel den Vortrag von Herrn Seiler über Astrologie gehört und konnten sich dabei die Empfindung doch immerhin bilden, wie Sie als Geisteswissenschaftler in der Lage sind, mit den astrologischen Begriffen gewisse Vorstellungen zu verbinden, während dies aber unmöglich ist mit den Begriffen der heutigen physischen Astronomie, ohne daß alles, was die Astrologie sagt, für Unsinn angesehen werden muß. Das ist nicht eine Folge der astronomischen Wissenschaft als solcher. Die astronomische Wissenschaft ist ja diejenige, welch am ehesten Gelegenheit hat, wieder zurückgeführt zu werden in die Spiritualität. Das ist bei ihr am ehesten möglich. Aber die Gesinnung des Menschen ist sehr weit entfernt, wieder zum Spirituellen zurückzukehren. Es gäbe leicht natürlich eine Methode, um aus dem was die Astronomie heute bietet, wieder zurückzukehren zu dem, was die Grundwahrheiten der heute so mißachteten Astrologie sind. Es wird aber noch eine Weile dauern, bis eine Brücke dazwischen geschlagen werden wird. Indessen werden ja allerlei Theorien ersonnen werden, die zum Beispiel die Planetenbewegungen und so weiter rein materialistisch erklären wollen. Schwieriger liegen die Dinge schon auf dem chemischen Gebiet und bei dem, was sich auf das Leben bezieht. Da wird die Brücke noch schwerer geschlagen werden können.

   Am leichtesten wird es sein können auf dem Gebiete des Seelenwissens. Dazu wird nur nötig sein, daß das eingesehen wird, was den Schluß meiner 'Psychosophie' bildete: daß der Strom des Seelenlebens nicht nur von der Vergangenheit in die Zukunft, sondern auch von der Zukunft in die Vergangenheit fließt, daß wir zwei Zeitströmungen haben: das Ätherische, das in die Zukunft geht, während (S65) dasjenige, was wir als Astralisches dagegen haben von der Zukunft in die Vergangenheit zurückfließt. Auf dem Erdenrund wird vielleicht heute niemand da sein, der so etwas finden wird, wenn er nicht einen spirituellen Impuls hat. Erst wenn man einsehen wird, daß uns aus der Zukunft fortwährend etwas entgegenkommt, wird man aufsteigen zu einem wirklichen Begreifen des Seelenlebens. Anders ist es gar nicht möglich. Dieser eine Begriff wird notwendig sein. Dazu wird man sich allerdings jene Denkweise abgewöhnen müssen, die überhaupt nur mit der Vergangenheit allein rechnet, wenn sie irgendwo von Ursache und Wirkung spricht. Das werden wir nicht tun dürfen, bloß mit der Vergangenheit rechnen, sondern wir müssen von der Zukunft als von etwas Realem sprechen, das uns ebenso real entgegenkommt, wie wir nachschleppen die Vergangenheit.

   Es wird ja lange dauern, bis man diese Begriffe haben wird. Aber bis dahin wird es auch keine Psychologie geben. Das 19. Jahrhundert hat einen recht netten Begriff aufgebracht: Psychologie ohne Seele. Man ist ganz stolz auf diesen Begriff und will damit etwa folgendes sagen: Man studiere nur einfach die menschlichen seelischen Äußerungen, aber rede nicht von irgendeiner Seele, welche dem zugrunde liegt - Seelenlehre ohne Seele! Methodisch ginge das ja noch. Was aber dabei herausgekommen ist, das ist, wenn man einen derben Vergleich gebrauchen will, nichts anderes als eine Mahlzeit ohne Eßwaren; das ist die Psychologie. Nun sind zwar die Menschen wenig zufrieden, wenn man ihnen eine Mahlzeit gibt mit leeren Tellern, aber die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ist wunderbar zufrieden, wenn man ihr eine Psychologie auftischt, in der verhandelt wird ohne Seele. Das hat verhältnismäßig schon sehr früh begonnen. Und da wird erst überall hineinkommen müssen spirituelles Leben.

   So haben wir zu verzeichnen bei uns die Anfänge von ganz neuem Leben. Gleichsam versiegt ist das Alte, und neues Leben muß sich entwickeln. Das müssen wir fühlen. Wir müssen fühlen, daß eine uralte Weisheit uns gegeben war aus der alten atlantischen Zeit, daß diese nach und nach versiegt ist, und daß wir vor die Aufgabe gestellt werden, in unseren jetzigen Inkarnationen damit zu beginnen, immer mehr und mehr eine neue Weisheit zu sammeln, die für die Menschheit (S66) der späteren Zeiten vorhanden sein wird. Daß dies möglich ist, dazu ist der Christus-Impuls da. Der wird lebendige Wirksamkeit immerfort entwickeln. Und man wird aus dem Christus-Impuls vielleicht am meisten herausarbeiten, wenn alle Tradition und was sich äußerlich historisch daran knüpft hat, erstorben sein wird, wenn man zu dem wirklichen, echten, historischen Christus selber gekommen sein wird.

    So können wir sehen, daß sich wirklich die nachatlantische Zeitentwickelung auch vergleichen läßt mit einem einzelnen Menschenleben; daß es auch eine Art Makrokosmos ist, der dem Mikrokosmos Mensch gegenübersteht. Aber in einer sehr eigenen Lage ist der einzelne Mensch. Was bleibt ihm schließlich für die zweite Lebenshälfte, als das, was er sich selber in der ersten Hälfte angeeignet hat, zu verarbeiten? Und wenn es aufgezehrt ist, folgt der Tod. Sieger sein über den Tod kann nur der Geist, der in einer neuen Inkarnation das fortentwickelt, was allmählich, wenn wir die Hälfte unseres Lebens überschritten haben, anfängt abzusterben. Wir haben eine aufsteigende Entwicklung bis zu unserem fünfunddreißigsten Lebensjahr, dann beginnt eine absteigende Entwickelung. Der Geist aber steigt erst recht auf. Und was er dann in der zweiten Hälfte nicht mehr in die Leiblichkeit hineinentwickeln kann, das kann er in einer nachfolgenden Inkarnation zur Blüte bringen. So sehen wir nach und nach den Körper absterben und den Geist nach und nach zur Blüte kommen.

   Der Makrokosmos der Menschheit zeigt uns ein ganz ähnliches Bild. Bis zur vierten nachatlantischen Kulturperiode haben wir eine jugendlich aufwärts strebende Kulturentwickelung, von da ab ein richtiges Absterben. Tode überall in bezug auf die Entwickelung des menschlichen Bewußtseins, zu gleicher Zeit aber das Einschlagen eines neuen geistigen Lebens. Das wird sich wieder inkarnieren als geistiges Leben der Menschheit in dem auf den jetzigen Kulturzeitraum folgenden Zeitabschnitt. Da muß der Mensch ganz bewußt an dem arbeiten, was sich wieder inkarnieren soll. Das andere ist dabei abzusterben, richtig abzusterben. Und wir sehen prophetisch hinein in die Zukunft: Es entstanden und es entstehen viele Wissenschaften, (S67) zum Segen natürlich für die nachatlantische Kulturzeit, aber sie gehören zum Absterbenden. Dasjenige unmittelbare Leben, das hineingegossen wird in das menschliche Leben unter dem unmittelbaren Einfluß des Christus-Impulses, das wird in Zukunft so aufleben, wie das atlantische Wissen in den heiligen Rishis aufgelebt war.

   Vom Kopernikanismus kennt man heute in der äußeren Wissenschaft nur den Teil, der zum Absterbenden gehört. Der Teil, der weiterleben soll, was vom Kopernikanismus fruchtbar werden soll - nicht nur das, wodurch er durch die vier Jahrhunderte schon gewirkt hat, sondern was weiterleben soll -, das muß sich die Menschheit erst erobern. Denn des Kopernikus Lehre ist nicht so wahr, wie sie heute gegeben wird. Erst die geistige Forschung wird das ergeben. So ist es mit dem, was die Menschheit für das Wahrste hält, schon in der Astronomie. Und so wird es sein mit allem übrigen, was heute unter den Menschen als Wissen gilt. Und wahr ist es, was Sie als Wissenschaft heute finden, nutzbringend kann es sein, darin liegt die Nützlichkeit. Insofern die heutige Wissenschaft Technik wird, ist sie gerechtfertigt. Insofern sie etwas geben will für das menschliche Wissen, ist sie totes Produkt. Nützlich ist sie für das unmittelbare Handwerk der Menschheit. Dazu ist sie gut, und dazu braucht sie keinen spirituellen Inhalt. Insofern sie etwas ausmachen will über die Geheimnisse des Weltalls, gehört sie zur absterbenden Kultur. Und um die Kenntnis über die Geheimnisse des Weltalls zu bereichern, müßte sie alles, was heute als äußere Wissenschaft geboten wird, beleben mit dem, was von der spirituellen Wissenschaft kommt.

   Das sollte eine Vorbereitung sein für die Betrachtungen über das Markus-Evangelium, mit denen wir nun beginnen werden. Vorher aber brauchte ich einen Hinweis auf die Notwendigkeit des größten spirituellen Einschlages in der Zeit, als die Menschheit eigentlich von der Spiritualität nur noch den letzten, den dünnsten Faden hatte. 

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(Zu der Überkreuzung der ab- und aufsteigenden Entwicklungsströmungen siehe auch besonders den Anhang: "Das Umgekehrte Grundgesetz" - in Anlehnung an Hans Erhard Lauers 'Geschichte als Stufengang der Menschwerdung' Band II, Kapitel 3: Fortschritt und Rückschritt in der Geschichte - Die Überkreuzung der Evolution der individuellen und der Involution der kollektiven Geistigkeit, S91)

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