Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

I,4. Willensgeheimnisse

"Summertime", ein Lied von George Gershwin, gespielt mit Bandoneon

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   Jeder wird das Willlensbetonte des amerikanischen Menschen ohne Schwierigkeiten entdecken. F.W.Zeylmans in seiner Broschüre "Amerika und der Amerikanismus": "Es war die jüngste, doch stärkste Kraft der menschlichen Seele, nämlich der Wille, der alle, welchem Volk sie auch angehörten, nach Amerika trieb. Sei es der Wille, in Freiheit religiöse Ideale zu verwirklichen, der Wille, einer Tyrannei zu entfliegen, der Wille, sich eine günstigere wirtschaftliche Existenz zu schaffen oder der Wille, dem großen Unbekannten entgegenzueilen: immer war es der Wille, d.h. die am meisten unbewußte, am wenigsten geformte, doch stärkste Seelenkraft."

   Der Wille ist uns in der Tat am wenigsten bewußt. Ich kann den Gedanken fassen: Ich will das Fenster öffnen. Um das wirklich auszuführen, muß der Wille meine Glieder in Bewegung setzen. Was da in meinem Inneren geschieht, wenn der Gedanke den Willen auslöst, bleibt mir verborgen. Aber gerade den Willen in seiner wahren Wesenheit zu erkennen, ist eine der großen Aufgaben im Westen. Warum? Machen wir es uns in einem Bilde klar. Wenn man das Wasser eines Flusses nur dort kennt, wo es ins Meer fließt, wo es undurchsichtig, schmutzig, oft giftig ist, dann kennt man es noch nicht in seinem wahren Wesen. Man muß den Fluß aufwärts zu seiner Quelle wandern, um dort das Wasser in seinem Ursprung kennenzulernen, dort, wo es kristallklar, rein und gesund ist. So ist es mit dem Willen des Menschen! Wir kennen ihn nur dort, wo er, vom Menschen kommend, in die Welt fließt, schon durchdrungen mit den vielen unguten Einflüssen. Wir müssen zurückgehen zu seiner verborgenen Quelle, dort, wo er aus dem Weltenwillen fließend in uns zu wirken beginnt.

S12  In seinem Buch "Der Leib als Instrument der Seele" gibt Walther Bühler ein Beispiel, wie der Wille vom Bewußten sich ins Unbewußte zurückverfolgen läßt. Er führt aus, wie der Wille, der unsere Glieder bewegt, auch in der Ernährung des Menschen wirkt. Wenn der Mensch Speise zu sich nimmt, dann fängt er an sie zu zerkauen, einzuspeicheln, sie mit der Zunge hin und her zu bewegen, sie hinunterzuschlucken. Diesen Prozeß kann er mit seinem Bewußtsein begleiten bis zu dem Augenblick, wo die zerkaute Speise durch die Speiseröhre hinuntergleitet. Dann nicht mehr, trotzdem die Auflösung der Speise im Magen, Darm und Blut fortgesetzt wird. Wir erkennen, wie der Prozeß, den der bewußte Wille einleitet, durch den unbewußt bleibenden Willen fortgeführt wird. Bewußter Wille geht in den unbewußt schaffenden Willen über. Dieser unbewußte Wille, der in allen rätselhaften Wandlungsprozessen der Ernährung tätig ist, ist auch die bewegende Kraft in den Gliedern des Menschen. In diesem unbewußt bleibenden, kosmischen Willen des Menschen lebt die Reinheit, die selbstlose Hingabekraft der geistigen Welt. Nachts ist der Mensch durch seinen Willen mit dem kosmischen Weltenwillen eins und erlebt seine moralische Geisteskraft (GA186 "In geänderter Zeitlage").

   Es gehört zu den großen Geheimnissen der Weltenentwicklung, daß die höchsten Geistes- und Seelenkräfte, wenn sie angeschnitten werden von ihrem kosmischen Ursprung, sich im Erdenmenschen ins Gegenteil kehren (siehe GA132 "Die Evolution vom Gesichtspunkt des Wahrhaftigen"). Es ist das Kainsgeheimnis! Dann wandelt sich moralische Hingabekraft zur rücksichtslosen Selbstbehauptung, der geistige Wille, eins zu sein mit der Welt und ihren Wesen, zum antisozialen, die Menschen trennenden, die Menschengemeinschaft atomisierenden Willen, der Wille, sich selbst zu opfern, in den Willen, den anderen Menschen zu opfern, ihn zu vernichten. Darauf komme ich noch im nächsten Kapitel zurück. Aber in solcher Erkenntnis liegt nicht nur etwas Niederdrückendes; es liegt darin auch ein Trost: Was aus dem Geiste gekommen ist, wenn es auch verdunkelt wurde, kann auch zum Geiste zurückverwandelt werden! In allem Negativen liegen zugleich auch die Keime der Zukunft. Ohne die Gewißheit, daß das Böse der Welt sich durch liebendes Erkennen ins Gute wandeln läßt, könnte man nicht auf der Erde wirken.

   Auf etwas sehr Bedeutungsvolles in bezug auf die tiefere Erkenntnis des Willens macht Rudolf Steiner noch aufmerksam. Wenn die Menschenseele nach dem Tode aufsteigt in die höheren Sphären des Daseins, dann wandelt sich vor allem das Bewußtsein des Menschen. Der Mensch erlangt ein S13 stetig heller werdendes, umfassenderes, willensdurchtränktes kosmisches Bewußtsein. Er wird dadurch langsam eins mit dem Kosmos und seinen Geistwesen. Später kommt dann wieder die Zeit seines Abstieges in ein neues Erdenleben. Da findet nun ein umgekehrter Prozeß statt. Steigt der Mensch zu einer neuen Inkarnation zur Erde hinunter, so verliert er die Helligkeit, die Stärke und die Weite seines kosmischen Bewußtseins gradweise. Kurz bevor er sich mit dem Keim eines neuen Embryos vereint, wird es ganz abgedämpft, und die frei werdenden geistigen Bewußtseinskräfte verwandeln sich in die Wachstumskräfte des werdenden Menschen: "Da, wo wir für die übersinnliche Welt die erste Erleuchtung erhalten haben, schon im wacheren Bewußtsein, als wir auf der Erde haben können, da wird beim Rückgang zur Erde das Bewußtsein herabgedämpft, bis es soweit herabgedämpft ist, daß es jetzt bloß Wachstumskraft ist" (GA231 "Der übersinnliche Mensch anthroposophisch erfaßt").

   Damit ist in der Tat etwas Ungeheures ausgesagt. Es ist der innere Zusammenhang zwischen Leben und Bewußtsein aufgedeckt. Besonders wichtig ist, daß die Lebens-Wachstumsprozesse den Willenskräften verwandt sind: "Alles das, was als Wachstum in uns wuchert, das ist zu gleicher Zeit willensverwandt, ist äußerlich leiblich betrachtet Wachstumsprozeß, ist innerlich seelisch betrachtet Wille. So daß wir darauf kommen können, wie die Wachstumswucherung, wie alles, was innerhalb derjenigen Kräfte liegt, die im Wachstum, in der Ernährung, im Leben überhaupt sich äußern, willensverwandt ist. Wenn wir es also seelisch betrachten, so können wir sagen, das hängt mit dem Willen zusammen" (GA205/6 "Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist").

   Und hier kommen wir dem Geheimnis des Willens sehr nahe. Der Wille birgt das Geheimnis des Lebens in sich. Wille ist Leben, Leben ist verwandeltes höheres Bewußtsein. - Unwillkürlich denkt man in Amerika, wenn man sich das vergegenwärtigt, an den Erdboden hier mit seinen reichen, ursprünglichen Wachstumskräften. Jeder weiß, daß es hier riesige Bäume gibt, die schon zu der Zeit wuchsen, als Christus auf Erden lebte; durch deren Stamm man einen Tunnel schlagen kann, durch den Autos fahren. Wo im Menschen, wie beim kleinen Kinde, noch starke Wachstumskräfte wirken, da ist wenig Bewußtsein. Das Kind lebt zuerst ganz in den willenshaften Aufbaukräften des Leibes. Erst allmählich erwacht es zum Bewußtsein, und zwar in dem Grade, wie das Kind heranwächst und seine Wachstumskräfte sich vom Leibe zurückziehen. Darin kann man eine wunderbare Bestätigung des oben Gesagten finden, wie Wachstumskräfte sich in Bewußtseinskräfte wandeln, Bewußtseinskräfte in Wachstumskräfte.

S14   Erkennt der Mensch so seinen Willen tiefer, wie er sich fortsetzt in für ihn unbewußt schaffende geistige Willenskräfte, dann erlangt er in seinem wachen Tagesbewußtsein die ihn belebende Gewißheit, daß sein physischer Leib durchdrungen ist von höchsten Geistesmächten in allen Wachstumsprozessen, in allen geheimnisvollen Vorgängen seiner Ernährung, in allen Bewegungen seiner Glieder. Der Westen lebt im Leib. Was wird das einmal für ihn bedeuten, zu einem solchen Leib-Erleben zu kommen! Dazu gewinnt der Mensch noch ein ebenso bedeutungsvolles Wissen, nämlich daß er in jeder Nacht hinaufsteigt in hohe Geistessphären, zum Ursprung seines Willens, um dort einzutauchen in eine erhabene geistig-moralische Welt, eine Welt, wo Wille - Liebe - Leben und Bewußtsein eins sind, wo der Mensch selbst mit dieser Welt eins ist. Hier erlebt er sein kosmisches Menschensein, sein höheres, spirituelles Ich. Das ist die Aufgabe der Erdenevolution, den Erdenmenschen mit seinem kosmischen Menschen langsam zur Einheit zu bringen. Das kann dadurch geschehen, daß er seine Willenstiefen erleuchtet mit Geistgedanken. Ohne dieses Erkenntnislicht bleiben die edelsten sozialen Kräfte nur blinde Instinkte, die der Mensch mißdeutet, die ihm entfallen und dann von ahrimanischen Gegenmächten ergriffen werden. Wird der Wille erkannt, dann wird er dem Westen erhalten und für die Menschheit gerettet.


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