Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

III. Zeit und Geschichte

5. Die zeitliche Gliederung der Geschichte


(S215)  Wenn wir im Folgenden einen Überblick über die drei mittleren Epochen der Geschichte geben, so geschieht dies - wie es auch schon bei den beiden ersten im vorangehenden Kapitel der Fall war - hier nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus: nämlich demjenigen der inneren zeitlichen Struktur der Geschichte. Von andern Aspekten aus werden wir im zweiten Bande noch ausführlich auf alle diese Epochen zurückkommen.

   Wir werden also in diesem Kapitel zu zeigen haben einerseits, wie in diesen drei Epochen das geschichtliche Werden der Menschheit in der Herausbildung seiner spezifischen Merkmale stufenweise fortschreitet, und andrerseits, inwiefern in ihnen die drei mittleren Epochen des umfassenderen Zeitorganismus der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung: Urzeit, Vorgeschichte und Geschichte (d.h. lemurische, atlantische und nachatlantische Entwicklung) sich abbilden.

I.

   Wenden wir unsern Blick zunächst der ersten dieser drei geschichtlichen Epochen zu. Es ist die Zeit der Entfaltung der ersten Hochkulturen. Von ihnen war bereits in den vorangehenden Kapiteln von andern Gesichtspunkten aus verschiedentlich die Rede. Sie haben, wie schon erwähnt, ihre weltgeschichtlich repräsentativste Ausgestaltung erfahren einerseits in Ägypten, andrerseits im babylonisch-assyrisch-chaldäischen Völkerraum. Ihnen gehört aber auch die im vorigen Kapitel schon erwähnte Kultur an, die sich zu gleicher Zeit im Indusgebiet als älteste geschichtlich faßbare Kultur entwickelt hat. Ferner sind in gewissem Maße zu ihnen zu rechnen die halbgeschichtlichen Vorstufen der späteren vollgeschichtlichen europäischen Kulturen, die sich, zeitlich viel später, in der pelasgischen Kultur in Griechenland, in der etruskischen in Italien und in der keltischen im nordwestlichen Europa entfaltet haben. Insofern alle diese ersten Hochkulturen ihres archaischen Charakters wegen auch - wie wir es in einem früheren Kapitel getan haben - als Übergangs- oder Zwischenstufe vom vorgeschichtlichen zum vollgeschichtlichen Werden der Menschheit bezeichnet werden dürfen, sind ihnen auch anzuzählen die zeitlich allerdings viel jüngeren Kulturen Altamerikas und diejenige des älteren China. Denn das "Reich der Mitte" hat - wie ja auch Indien - im Gegensatz zu den vorderasiatischen Kulturen in (S216) einer späteren Entwicklungsphase sogar auch noch zu den Errungenschaften der vierten, mittleren Epoche der Geschichte einen Beitrag geleistet, wenn es sich auch, wie Indien, im Gesamthabitus seiner Kulturgestaltung nicht zur vollen Entwicklungshöhe derselben erhoben hat.

   Gewiß trägt jede der genannten Kulturen, gemäß ihren volklichen Grundlagen und ihren geographisch-klimatischen Bedingtheiten, ein anderes Gepräge. Aber nicht darauf soll an dieser Stelle hingeblickt werden, sondern auf das, was ihnen allen gemeinsam ist und sie qualitativ der dritten Stufe der geschichtlichen Entwicklung zuzuordnen berechtigt.

   Da ist an erster Stelle nochmals an die Entstehung der Schrift zu erinnern, die in diesen Kulturen erfolgt ist und sie schon insofern zu den ersten geschichtlich faßbaren gemacht hat, als mit ihr die schriftliche Überlieferung einsetzt, welche es ermöglicht, durch äußere physische Dokumente von Ereignissen und Persönlichkeiten der Vergangenheit Kunde zu erhalten. Vielleicht ist an dieser Stelle zur Kennzeichnung ihrer Bedeutung nochmals die Formulierung erlaubt, daß die menschliche Kultur dadurch jene "physische Fortpflanzungsfähigkeit" erlangt, welche eine kontinuierliche äußere Tradition gewährleistet. Mit ihr hängt ja auch zusammen, daß die geschichtliche Chronologie erst von da an eine zuverlässige zu werden beginnt. Aber wir haben ja auch gesehen, wie die Schrift in allen diesen Kulturen zunächst als Bilderschrift entsteht und diesen Charakter mehr oder weniger weitgehend bewahrt. Wenn in ihrer Entstehung, wie wir sahen, das heranreifende Vermögen des verallgemeinernden Denkens sich dokumentiert, so bezeugt andrerseits ihr Bildcharakter, wie stark dieses Denken während dieser Epoche noch im mythisch-sinnbildlichen Vorstellen verhaftet bleibt. Es trägt noch weitgehend naturhaft-instinktiven Charakter, hat sich noch nicht merkbar individualisiert und ist noch nicht seiner selbst inne geworden. Und diesen instinktiven Charakter erweist auch der Gebrauch, der von ihm gemacht wird.

   Ergebnisse dieses Gebrauchs sind die in dieser Zeit sich entfaltenden Wissenschaften der Astronomie, der Mathematik, der Geometrie, der Grammatik, der Medizin usw., aber nicht weniger auch die organisatorischen und technischen Leistungen, die mit der Wasserregulierung im Nil- und im Zweistromlande verknüpft waren, ferner die gewaltigen Bauten (Zikkurate, Pyramiden, Tempel, Königspaläste), welche diese Völker aufgerichtet haben, und nicht zuletzt die Organisation des Handels und Güterverkehrs, wie sie in diesen Kulturen entwickelt worden ist. Auf all diesen Gebieten diente das Denken unmittelbar praktischen Zwecken: nicht nur da, wo es sich um wirtschaftliche, technische, organisatorische Angelegenheiten handelte, sondern auch auf dem Felde der Wissenschaften, Astronomie und Mathematik dienten der Kalenderordnung, Geometrie der Landvermessung und Baukunst, die Grammatik der Beherrschung von Sprache und Schrift usw. (S217) "Die Gelehrsamkeit" - so schreibt Breasted in seiner 'Geschichte Ägyptens' - "hatte für die Ägypter nur einen Sinn: ihren praktischen Nutzen... So bestand auch die Erziehung (in den ägyptischen Schulen) lediglich in der praktischen Heranbildung für die Beamtenlaufbahn. Die Kenntnis der Natur und der Welt draußen suchte man nur, soweit sie für ein solches Streben notwendig war. Es ist den Ägyptern niemals eingefallen - was erst dem Genius der Griechen gelang - nach der Wahrheit um ihrer selbst willen zu forschen." Im gleichen Sinne gilt dies aber auch von den Wissenschaften der Babylonier, der Chinesen usw. Daß Wissenschaft noch nicht als Selbstzweck gepflegt werden konnte, hatte eben darin seinen Grund, daß der Mensch sich seiner erkennenden Tätigkeit als solcher noch nicht voll bewußt geworden war. Ebenso kannte er auch noch keine autonome ästhetische Sphäre. Was jene Zeit an Kunstwerken hervorgebracht hat, bezweckte - so groß es ist - nicht die Verkörperung des Schönen als solches, sondern stand im Dienste der Religion, des Totenkults usw.

   Trotz all dem war auch die menschliche Persönlichkeit, deren Entwicklung ja an diejenige des Denkens gebunden ist, damals schon in einem ersten Grade erwacht und begann, sich aus der vorgeschichtlichen Blutskollektivität zu emanzipieren. Dies führte in jenen Kulturen zur Bildung von Staaten und Imperien, zur Entwicklung von Gebot und Gesetz, welche die Beziehungen der Menschen untereinander in genereller Weise regelten. Freilich ist für diese Staatsbildungen zugleich wieder bezeichnend, daß sie einerseits noch Theokratien sind d.h. daß an ihrer Spitze Könige stehen, welche entweder noch als halbgöttliche Wesen - ähnlich den vorgeschichtlichen Heroen - verehrt werden oder ihre Herrscherwürde doch wenigstens von göttlicher Einsetzung herleiten, - und daß sie andrerseits mit einer hierarchisch gestuften Gesellschaftsordnung verbunden sind, innerhalb welcher der Einzelne noch nicht als solcher zur Geltung kommt, sondern nur ein Glied seiner Klassen- oder Kastengemeinschaft bedeutet.

   Mit all dem ist noch ein Weiteres verbunden. Dadurch, daß die menschliche Persönlichkeit nun schon eine gewisse "Erdenreife" erlangt hat, hebt sich das Leben, das zwischen Geburt und Tod verfließt, jetzt entschiedener von denjenigen Daseinsformen ab, die der Geburt vorangehen und dem Tode nachfolgen, als dies in den früheren Kulturen der Fall war. Für die älteren orientalischen Völker war es noch ganz selbstverständlich gewesen, auf die geistige Präexistenz zurückzublicken, und auch dem Tode war noch nicht die Bedeutung zugekommen, die er jetzt erlangte. Es braucht nur an die Rolle erinnert zu werden, welche in Indien die Reinkarnationslehre spielte, die im zweiten Bande dieses Werkes noch ausführlicher behandelt werden wird. Im Sinne dieser Lehre stellte sich das menschliche Leben als ein Kreislauf dar, der sich durch unzählige Geburten und Tode hindurchbewegt. Diese Lehre (S218) glimmt jetzt, wenn sie auch noch nicht ganz verschwindet, doch mehr und mehr ab. Das einzelne Leben gewinnt wachsend an Bedeutung, und insbesondre der Tode, der mit dem Eintritt des Menschen ins irdische Dasein schon als unausweichliches Ende desselben dasteht, wird jetzt zum bedrückenden Rätsel. In erschütternder Weise kommt das Ringen um die Lösung dieses Rätsels schon im Gilgamesch-Epos zum Ausdruck. Und welche Bedeutung jetzt die rechte Vorbereitung auf das Überschreiten der Todesschwelle erlangt, dafür liefern die Vorstellungen über das nachtodliche Seelengericht wie die Bestattungsgebräuche, welche die Ägypter ausgebildet haben, ein einziges gewaltiges Zeugnis. Ja, die Kräfte des Todes gewinnen jetzt, mit seinem vollen seelischen Untertauchen ins Physische, überhaupt eine früher nicht gekannte Macht über das menschliche Dasein. Denn wenn auch die fernöstlichen Kulturen Indiens und Chinas in bezug auf die Starrheit ihres Konservatismus hinter der ägyptischen nicht zurückstehen, so bildet doch ihre erstaunliche, bis auf den heutigen Tag bewahrte, gleichsam kindheitliche Regenerationsfähigkeit den stärksten Gegensatz zu dem Prozeß der Mumifizierung, dem die Ägypter nicht nur ihre Leichen unterwarfen, sondern dem auch die ägyptische Kultur als solche im Lauf ihrer Geschichte verfallen ist. Bei den andern dieser primären Hochkulturen kommt dieser Gegensatz zu den fernöstlichen Kulturen darin zum Ausdruck, daß sie von der Bildfläche der Geschichte überhaupt verschwunden sind und die Spuren ihres Daseins erst aus dem Schutt, den die Jahrtausende über ihre Ruinen gelagert hatten, wieder haben ausgegraben werden müssen.

   Damit kommen wir auf die andre Perspektive zu sprechen, unter der sie an dieser Stelle noch betrachtet werden sollen. Wenn wir von dem urindisch-persischen "Präludium" der Geschichte sagten, daß in ihm die vorphysischen Etappen der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung sich abbilden, so gilt von diesen ersten Hochkulturen dasselbe hinsichtlich der "Urzeit" in jenem spezielleren Sinne, in welchem sie die Phase des eigentlichen Eintritts des Erden- und Menschenwerdens in die physische Materialität bedeutet, die Phase aber auch, welcher der "Sündenfall" der Menschheit angehört. Freilich haben wir schon darauf hingewiesen, daß diese Urzeit auch als der zusammenfassende Abschluß der Kosmogonie und Anthropogenie überhaupt insofern betrachtet werden dar, als die Resultate derselben damals in die physische Sichtbarkeit traten. Es bildet nun in der Tat eines der charakteristischesten Merkmale dieser ersten geschichtlichen Kulturen, daß ihr seelischer Blick ganz und gar auf die Kosmogonie und Anthropogonie überhaupt, ganz besonders aber auf jene abschließende Epoche derselben gerichtet war, in welcher die Menschheit den Fall in die "Ursünde" tat. Wir können hier nochmals auf das Buch M.Eliades ("Der Mythus der ewigen Wiederkehr") hinweisen, in welchem die Tatsache durch eine reiche Fülle von Zeugnissen belegt wird. Wenn (S219) unter diesen Zeugnissen, die den verschiedensten der damaligen Kulturen entnommen sind, auch eine große Zahl der indischen und persischen Kultur entstammen, so erklärt sich dies daraus, daß in diesen Ländern, wie schon erwähnt, zur Zeit der primären Hochkulturen bereits sekundäre Kulturen entstanden sind, welche jenen durchaus ähnlich geartet waren. Zu den schon an früherem Orte zitierten Stellen aus diesem Buch seien hier noch die folgenden hinzugefügt: Jeder menschliche Schaffensakt "wiederholt den wesentlichen kosmogonischen Akt: die Erschaffung der Welt". An erster Stelle ist hier der Tempelbau zu nennen. Der Konstruktionsritus ist eine Wiederholung des Schöpfungsaktes. "Prototyp des Konstruktionsritus ist das Opfer, das bei der Weltschöpfung stattgefunden hat... Durch die Wiederholung des kosmogonischen Aktes wird die konkrete Zeit, in der sich der Bau vollzieht, in die mythische Zeit projiziert, in illud tempus, in der die Erschaffung der Welt geschah."

   Doch nicht nur jede rituelle Handlung ein ein göttliches Modell, sondern "jeder beliebige menschliche Akt gewinnt seine Wirksamkeit in dem Maße, als er genau eine Handlung wiederholt, die am Anfang der Zeiten durch einen Gott, Heros oder Ahnen vollzogen worden ist... Der Mensch kann nichts anderes tun als den Schöpfungsakt wiederholen; sein religiöser Kalender ruft im Lauf eines Jahres alle kosmogonischen Akte wieder ins Gedächtnis zurück, die ab origine stattgefunden haben. Tatsächlich wiederholt das heilige Jahr unaufhörlich die Erschaffung der Welt, der Mensch ist Zeitgenosse der Kosmogonie und der Anthropogenie, weil das Ritual ihn in die mythische Epoche des Anfangs versetzt... Die Sabbatruhe wiederholt die primordiale Handlung des Herrn, denn am siebenten Tage der Schöpfung 'ruhte Gott von allem Werk, das er geschaffen hatte'." 

   "Auch die Hochzeitsriten haben ein göttliches Vorbild, und die menschliche Hochzeit reproduziert die Götterhochzeit, genauer gesagt, die Vereinigung von Himmel und Erde... Aus diesem Grunde ahmt eine unfruchtbare Frau in Polynesien, wenn sie befruchtet werden will, die exemplarische Handlung der Urmutter nach, die illo tempore von dem Großen Gotte Jo auf die Erde gelegt worden ist. Bei dieser Gelegenheit rezitiert man den kosmogonischen Mythus." Das letztere geschieht auch, "wenn es sich um Krankenheilungen, Fruchtbarkeit, Geburten, landwirtschaftliches Arbeiten usw. handelt". Nicht anders als die Ehe stellte auch die Orgie "eine rituelle Handlung dar, durch die göttliche Akte oder bestimmte Episoden des heiligen Dramas des Kosmos nachgeahmt wurden."

   Dasselbe gilt schließlich auch von Handlungen, die wir heute als "profan" bezeichnen, wie Jagd, Ackerbestellung, Spiele, Tanz usw., - die aber einstmals alle "auf irgendeine Weise des Heiligen teilhaftig waren". "Im Anfang (S220) waren alle Tänze heilig... Die choreographischen Rhythmen haben ihr Vorbild außerhalb des profanen Lebens des Menschen. Ob sie nun die Bewegungen des Totem- oder Sinnbildtieres oder die der Gestirne darstellen..., immer ahmt ein Tanz eine archetypische Geste nach oder ruft ein mythisches Moment ins Gedächtnis... Streitigkeiten, Konflikte, Kriege haben zumeist einen rituellen Grund und eine rituelle Funktion. Es ist immer... ein Wettkampf zwischen den Stellvertretern zweiter Gottheiten und ruft eine Episode des kosmischen und göttlichen Dramas ins Gedächtnis... Die indische Zeremonie der Salbung der Könige ist nur das irdische Abbild der alten Weihehandlung, die Varuna, der erste Herrscher, zu seinen Gunsten vorgenommen hat, das wiederholen die Brahmana bis zum Überdruß... Immer wieder in den rituellen Erklärungen erscheint, ermüdend aber instruktiv, die Feststellung, wenn der König diese oder jene Handlung ausführt, so geschehe das, weil am Anfang der Zeiten, am Tage der Weihung, Varuna eben diese Handlung vollzogen habe."

   Wir haben schon darauf hingewiesen, wie mit diesem Zurückblicken und wiederholenden Zurückgreifen auf ein Urbildliches die Kreislauftheorie der Zeit zusammenhängt, die den ganzen Orient charakterisiert. Wir haben ferner darauf aufmerksam gemacht, wie diese Kreislauftheorie die Realität der Zeit aufhebt, und sich insofern ein nicht nur unhistorisches, sondern geradezu antihistorisches Denken und Verhalten in ihr darlebt. Und so ist es für die hier in Rede stehenden Kulturen bezeichnend, daß in ihnen ein geschichtliches Element mit einem widergeschichtlichen im Streite liegt, woraus jener halbgeschichtliche Charakter resultiert, der in ihrem ungeheuren Konservativismus zum Ausdrucke kommt. Diesem Widerstreit liegt aber zutiefst gerade der Rückblick auf die Zeit des "Sündenfalls" und die Sehnsucht nach der Wiederherstellung des verlorengegangenen paradiesischen Zustandes zugrunde.

   Daß dieser Rückblick gerade der hier zu betrachtenden Epoche wesentlich ihr Gepräge verleiht. dafür dar als einer der sprechendsten Beweise die Tatsache angesehen werden, daß ihr ja auch jene Schilderung in Genesis und des Sündenfalles entstammt, die für alle Zeiten ihre klassische Darstellung geblieben ist: diejenige des mosaischen Schöpfungsberichtes. Aber nicht nur, daß der Blick jener Epoche in der gekennzeichneten Art auf die Ereignisse der "Urzeit" zurückgerichtet war, ihre Angehörigen hatten auch die Empfindung, daß jene Ereignisse in den Geschehnissen ihrer eigenen Zeit sich als in einer realen Wiederholung abbilden. Und so wird uns ja die Differenzierung der noch einheitlichen vorgeschichtlichen Ursprache, die mit dem damaligen Eintritt in die Geschichte eine vollständige und endgültige wurde, in der Legende vom Turmbau und der Sprachenverwirrung zu Babel durchaus als ein erneuertes Sündenfallgeschehen auf einem tieferen Niveau dargestellt (S221). Auch hier, wie im Paradies, ein Akt der Selbstüberhebung des Menschen, dem als Strafe der Verlust einer von seinem Ursprunge her ihm noch verbliebenen höheren Fähigkeit folgt.

   Wir haben schließlich auch schon erwähnt, wie bis in das frühe Griechentum hinein dieses Zurückblicken auf den paradiesischen Urzustand der Menschheit und ihr stufenweises Heruntersinken von demselben sich forterhalten hat, wenn in ähnlicher Weise, wie die Inder die vier Yugas oder Weltalter unterschieden, Hesiod von der Aufeinanderfolge des goldenen, silbernen, ehernen und mischeisernen Zeitalters berichtet. Außerdem tritt uns in spezifisch griechischer Auffassung ein Bild jenes Urzustandes entgegen in der Vorstellung vom arkadischen Jugendalter der Menschheit, die Goethe im zweiten Teile des "Faust" in wundersamer dichterischer Charakteristik noch einmal beschworen hat. Mit all dem hängt es zusammen, daß auch das Griechentum noch an der Kreislauftheorie der Zeit festgehalten und Plato ihr im Zusammenhang mit seiner Ontologie im "Timäos" die - an früherer Stelle wiedergegebene - klassische philosophische Formulierung gegeben hat. Und so überraschte es denn nicht, wenn auch Eliade in der platonischen Ontologie überhaupt den letzten philosophischen Niederschlag der Weltanschauung und Bewußtseinsform der hier geschilderten Epoche erblickt, - in jener Ontologie, welche, in der Sprache der Scholastik ausgedrückt, durch den Blick auf die "universalia ante res" gekennzeichnet ist, - die urbildlich-archetypischen Ideen, welche der Schöpfung vorangehen und in deren Erscheinungen ihre Ab- oder Nachbilder finden. Damit aber erweist sich schließlich, daß es keiner Willkür entsprang, wenn wir in einem früheren Kapitel zur Charakteristik der "Urzeit" uns dieser Lehre von den "universalia ante res" als eines Darstellungsmittels bedienten, sondern in der Sache selbst insofern begründet war, als in dieser Lehre selbst die Geschehnisse der "Urzeit" innerhalb der Geschichte ihre letzte Abbildung bzw. ihre Widerspiegelung im philosophierenden Bewußtsein der Menschheit erfahren haben.


II.

   Gehen wir nun zur zweiten der hier zu besprechenden Epochen über - es ist die vierte der Geschichte überhaupt -, so stellen sich als deren hauptsächlichste Repräsentanten die Kulturen dar, die sich in den Ländern entwickelt haben, welche das Mittelmeer östlich, nördlich und nordwestlich begrenzen. Wie ein Vorspiel dieser Epoche erscheint, was in Phönizien und Palästina zur Entwicklung gekommen ist, ihr Mittelstück bildet die Kultur der griechisch-römischen Antike, und ihre Nachspiel hat im europäisch-christlichen Mittelalter stattgefunden. Da wir es in dieser Epoche mit der eigentlichen Mitte (S222) der Geschichte, ihrem wahren "Mittel-Alter", zu tun haben, so kommen in ihr erstmals alle charakteristischen Merkmale der geschichtlichen Phase überhaupt zu entschiedener Ausprägung.

   Bevor wir dies in wesentlichen Punkten darzustellen versuchen, wollen wir nicht versäumen, zu erwähnen, daß innerhalb der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie, auch da, wo nicht von einer christlichen Orientierung aus - wie dies bei den Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus oder selbst noch bei R.Rocholl der Fall war - die Geschichte betrachtet und gedeutet wird, die Mittelpunktsstellung dieser Epoche innerhalb der Gesamtgeschichte bereits deutlich erkannt worden ist: nämlich in dem Geschichtsbild, das Karl Jaspers ("Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" 1949) entworfen hat. Er baut dieses Geschichtsbild geradezu auf die Theorie von einer Achsenzeit der Geschichte auf. Wenn er diese Achsenzeit auch enger begrenzt, nämlich auf die Jahrhunderte von etwa 800 bis 200 v.Chr., so trifft er damit immerhin einen wesentlichen, ja den geistig wohl produktivsten und bestimmend gewordenen Abschnitt der umfassenderen Epoche, die wir als die "Mitte" der Geschichte bezeichnen müssen. Wir erwähnen dies auch aus dem Grunde, weil wir unsre Darstellung weitgehend an das anschließen können, was Jaspers als die charakteristischen Merkmale dieser "Achsenzeit" hervorhebt. Es wird dadurch auch die Vertiefung ersichtlich werden können, welche die geschichtliche Betrachtung - gegenüber derjenigen von Jaspers - durch die aus der Geisteswissenschaft sich ergebenden Gesichtspunkte erfährt.

   Jaspers weist zunächst darauf hin (S19ff), daß in der von ihm bezeichneten Zeit "Außerordentliches sich zusammendrängt. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-ti, Tschuang-tse, Liädsi und ungezählte anderen, - in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, - in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, - in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesajas und Jeremias bis Deuterojesajas, - Griechenland sah Homer, die Philosophen - Parmenides, Heraklit, Plato -, und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten.

   Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird... Das geschah in Reflexion, Bewußtheit machte noch einmal das Bewußtsein bewußt, das Denken richtete sich auf das Denken. Es erwuchsen geistige (S223) Kämpfe mit den Versuchen, den andern zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen... In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan... Das mythische Zeitalter war in seiner Ruhe und Selbstverständlichkeit zu Ende. Die griechischen, indischen, chinesischen Philosophen und Buddha waren in ihren entscheidenden Einsichten, die Propheten in ihren Gottesgedanken unmythisch. Es begann der Kampf gegen den Mythos von seiten der Rationalität und der rational geklärten Erfahrung... Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen... Es ist der eigentliche Mensch, der im Leibe gebunden und verschleiert, durch Triebe gefesselt, seiner selbst nur dunkel bewußt, nach Befreiung und Erlösung sich sehnt, und sie in der Welt schon erreichen kann, - sei es in der Versenkung der Meditation, oder im Erfahren des Nirwana, oder in dem Einklang mit dem Tao, oder in der Hingabe an den Willen Gottes... Vorher war ein vergleichsweise dauernder geistiger Zustand, in dem trotz Katastrophen alles sich wiederholte... Jetzt dagegen wächst die Spannung und wird ein Grund der reißend schnellen Bewegung. Diese kommt zum Bewußtsein. Das menschliche Dasein wird als Geschichte Gegenstand des Nachdenkens."

   Jaspers legt im weiteren starke Betonung auf die Feststellung, daß der durch die vorangehend skizzierten Momente charakterisierte "Durchbruch" zum "eigentlich Geschichtlichen" nicht von der ganzen Menschheit, sondern zunächst nur von verhältnismäßig kleinen Teilen derselben vollzogen worden sei. Daß er aber da, wo er - und zwar im großen und ganzen zur selben Zeit - erfolgte, ein solcher bis zu jener innersten Tiefe des Rein-Menschlichen war, daß er überall auch zugleich den Zug zum Universal-Menschlichen aufwies und daher, als die betreffenden Teile der Menschheit später auch in äußere Kommunikation miteinander traten, ein gegenseitiges Verstehen möglich machte. So ließ diese Zeit auch erst den Begriff der "Menschheit" im menschlichen Bewußtsein entstehen, wenngleich diese für lange noch bloße Idee blieb.

   Zu jenen Teilen der Menschheit aber, in denen dieser Durchbruch originär erfolgte, rechnet Jaspers, wie aus den zitierten Sätzen ersichtlich, in gleicher Weise die abendländischen Völker der Juden, Griechen und Römer wie die morgenländischen der Inder und Chinesen. Er stimmt zwar Alfred Weber ("Kulturgeschichte als Kultursoziologie") darin zu, daß die letzteren in der (S224) ersten Epoche ihrer kulturellen Entfaltung zu den Repräsentanten der "primären Hochkulturen" zu zählen seien wie Ägypter und Babylonier, lehnt aber ihre durchgehende Gleichstellung mit diesen, wie sie Weber statuiert, ab. Denn während Ägypter und Babylonier diesen Durchbruch überhaupt nicht vollzogen, sei er in Indien und China in einer "sekundären" Phase ihrer Kulturentwicklung erfolgt. Er verneint die Webersche Auffassung, daß es sich beim Übergang zur Rationalität im fernen Osten nicht um eine "Grundverwandlung", sondern lediglich eine "Anverwandlung" handle an "das Ewige und Unveränderliche, in das China ebenso wie Indien eingehüllt war". Auf der andern Seite muß er aber doch auch zugestehen, daß in seinem "Gang duch die Jahrtausende das Abendland seine Schritte mit einer Entschiedenheit getan (hat), Bruch und Sprung nicht gescheut, die Radikalität in die Welt gebracht, wie es in diesem Umfang weder in China noch in Indien geschehen ist" (S84). Er spielt da auf die abermalige Verwandlung an, welche die abendländische Kultur seit dem Beginn der Neuzeit durchgemacht hat, und durch welche abermals ganz Neues, vorher nie und nirgends Dagewesenes errungen wurde. Deutet das aber nicht darauf hin, daß schon der Eintritt in die Rationalität, wie er durch Griechen und Römer vollzogen wurde, die menschliche Wesenheit hier viel tiefer und durchgreifender verwandelt hat als im fernen Osten? Die Frage erscheint daher nicht berechtigt, die Jaspers aufwirft (S351): "Ist hier wirklich ein radikaler Unterschied? Ist nicht gerade auch hier ein Gemeinsames, das als ständige Gefahr für uns alle angesprochen werden kann, nämlich aus dem Aufschwung ins Unmagische, Menschliche, Vernünftige, über die Dämonen zu Gott, am Ende wieder zurückzusinken ins Magische und Dämonologische?" Denn im Osten handelt es sich hierbei nicht um eine "Gefahr", sondern um etwas, was sich in der Tat bald wieder vollzogen hat, ja vom größten Teil seiner Bevölkerung überhaupt nie überwunden worden ist. Was dagegen im Westen als die von Jaspers charakterisierte Gefahr, und zwar in ganz besonderem Maße gerade in der Gegenwart, wieder auftritt, von dem werden wir an späterer Stelle zeigen, daß es in ganz andern Zusammenhängen begründet liegt als das, was sich im Osten vollzogen hat. Wenn in dieser Beziehung die fernöstliche Welt der westlichen also nicht gleichgestellt werden kann, so haben wir im Vorangehenden bereits angedeutet, warum sie auch nicht - wie dies durch Alfred Weber geschehen ist - mit den Repräsentanten der ersten Hochkulturen in eine Reihe gestellt werden kann, sondern diesen gegenüber ein durchaus anders Geartetes darstellt.

   Aber kehren wir zur Hauptsache zurück. In den oben zitierten Ausführungen Jaspers' sind die wesentlichen Momente dieser mittleren Epoche aufgewiesen: es ist einerseits die Entwicklung des reinen, sich seiner selbst bewußt werdenden Denkens, zweitens die damit verknüpfte der sich auf sich (S225) selbst stellenden Persönlichkeit, und drittens die mit beidem verbundene Herausbildung eines geschichtlichen Bewußtseins.

   Wir dürfen uns hier wohl damit begnügen, die Entwicklung dieser drei Momente nur im allgemeinen Überblick anzudeuten. In dreifach verschiedener Art entfaltet sich das aus dem mythischen Vorstellen sich herausringende Denken im Judentum, Römertum und Griechentum. Bei dem vor allem auf das religiös-moralische Leben hinorientierten Judentum kommt die sich entwickelnde Rationalität - am frühesten - zur Geltung einerseits in seinem bildlosen Monotheismus, der das Göttliche scharf dem Natürlichen entgegensetzt, andrerseits in seiner mit der Gestalt des Moses verknüpften Moralgesetzgebung und durchaus unmythischen Geschichtsdarstellung, wie sie das Alte Testament enthält. Im Römertum lebt sie sich vornehmlich dar in seiner Rechtsschöpfung und in der Ausgestaltung seines staatlich-politischen Lebens. Auf dem Felde des Erkenntnislebens dagegen hat sie fast ausschließlich im Griechentum neue Fundamente geschaffen. Nachdem in der vorsokratischen Philosophie noch mit Hilfe des Denkens der Ursprung der Dinge bzw. das Wesen des Seienden in der verschiedensten Weise charakterisiert worden war, faßte Sokrates als dieses Wesen zuerst den Begriff selbst, - was dann Plato zur Ausgestaltung seiner Ideenlehre führte; und in den logischen Schriften des Aristoteles hat schließlich das Sichhineinleben in die Denktätigkeit in der Darstellung von deren Gesetzen seinen Gipfelpunkt erreicht. Damit war aber die Entwicklung des Denkens in dieser Epoche keineswegs abgeschlossen. Sie hat vielmehr eine wesentliche Weiterführung erfahren in der mittelalterlichen Scholastik, veranlaßt durch die neuen Aufgaben, vor die sich das menschliche Denken in jener Zeit gestellt sah. Diese waren vornehmlich von dreifacher Art. Fürs erste hatte es sich auseinanderzusetzen mit der christlichen Offenbarung und sein Verhältnis zu dieser festzustellen. Zum zweiten sah es sich der Aristoteles-Interpretation gegenübergestellt, die damals durch den Arabismus vertreten wurde und stark in das europäische Geistesleben hineinwirkte, - einer Interpretation, welche die mit der Denktätigkeit verbundene Individualisierung der menschlichen Geistigkeit nicht anerkennen wollte und das Denken lediglich als ein die menschliche Seele durchwaltendes Wirken einer kosmischen Intelligenz deutete. Zum dritten hatte es Stellung zu nehmen zu der in der germanischen Welt damals sich schon ankündigenden höchsten Steigerung der denkerischen Abstraktionskraft und der damit verknüpften Verstärkung der menschlichen Subjektivität, deren Symptom der Nominalismus war und deren vollen Durchbruch dann die neuere Zeit mit sich brachte. So war die Aufgabe der großen Scholastiker im wesentlichen eine solche der Vermittlung und Versöhnung von verschiedenen, ja gegensätzlichen Welten, - und wie sie diese (S226) z.B. in der Ausbildung der Lehre von den drei Arten der Universalien lösten, ist ja in einem früheren Kapitel bereits skizziert worden.

   Was nun die Verselbständigung der menschlichen Persönlichkeit betrifft, so bildet für sie die griechische und römische Geschichte und Kultur in ihrem Gegensatz zur vorderasiatischen ein einziges laut sprechendes Zeugnis. Nicht nur, daß an Stelle der Anonymität, welche über die Taten und Schöpfungen der letzteren gebreitet ist, hier eine Unzahl von Namen treten, deren Träger aus persönlichen Kräften, Antrieben und Ambitionen heraus als Staatsmänner oder Feldherren geschichtliche Entscheidungen herbeigeführt und sich damit geschichtliche Unsterblichkeit errungen haben, sondern auch im künstlerischen Schaffen sowohl auf dichterischem wie bildnerischen Gebiete prägt sich in zunehmendem Grad jener persönliche Stil aus, der seinen Werken den Reiz der Mannigfaltigkeit und den Stempel der Originalität verleiht. Und so ist es denn bezeichnend, daß als ein Zweig der Geschichtsschreibung jetzt (durch Nepos und Plutarch) auch die Biographie  bedeutender geschichtlicher Gestalten entsteht. Insbesondere das Römertum, das nicht umsonst neben dem öffentlichen das Privatrecht ausgestaltet, gewinnt die Einzelpersönlichkeit immer markanteres Profil - wie es ja auch die römischen Porträtbüsten widerspiegeln - und lebt sie ihre persönlichen Machtgelüste immer hemmungsloser aus, und so erfährt sie denn dort zuletzt jene maßlose Übersteigerung, die in der Vergottung der römischen Cäsaren zum Ausdruck kommt, - welche übrigens schon in ähnlichen Herrscherkulten der Diadochenstaaten des Alexanderreiches ihre Vorläufer gehabt hat. Auf ganz andern volklichen Grundlagen und zunächst noch in menschlicheren Maßen, aber doch auch in scharfer individueller Konturierung, entfaltet sich dann wiederum im christlichen Mittelalter die Persönlichkeit in den Herrschergestalten geistlicher und weltlicher Fürsten, deren Züge uns noch in den Standbildern der romanischen und gotischen Dome überliefert sind, aber auch in solchen Gestalten wie Dante und Petrarca, wie Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Und wenn auch die freie Beweglichkeit und Selbstbestimmung des einzelnen in den spätmittelalterlichen Stadtrepubliken noch eine verhältnismäßig beschränkte war, so bildete die "Stadtluft" dennoch die Atmosphäre, in welcher der Freiheitsimpuls seine Schwingen zu entfalten begann.

   Und blicken wir schließlich auf die Geburt des geschichtlichen Bewußtseins während dieser Epoche hin, so wurde bereits mehrfach erwähnt, wie sie zuerst in Palästina erfolgt ist und als ihre Urkunde das Alte Testament hinterlassen hat, - wie sie in andrer Art dann im Griechentum sich vollzieht mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung von Herodot über Thukydides bis zu Polybius und Plutarch. Und zu dieser gesellt sich die nicht weniger bedeutende römische in Livius, Sallust, Cäsar, Plinius, Tacitus, Suetonius (S227) und vielen anderen hinzu. Wohl mit den mächtigsten Impuls aber hat der Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins verliehen die in Abständen von je etwa 600 Jahren erfolgte Entstehung der drei Religionen des Buddhismus, des Christentums und des Mohammedanismus, die - im Gegensatz zu den alten Volksreligionen, deren Ursprünge sich im Dunkel der Vorzeit verlieren und die vornehmlich das Göttliche in der Natur verehrten - durch geschichtliche Persönlichkeiten begründet worden sind und mit dem Aufblick zu dem von ihnen verkündigten Göttlichen auch für immer den Rückblick auf ihre geschichtlichen Stifter verbunden haben.

   Mit all dem ist aber nur erst genannt, was diese Epoche dem unmittelbaren Anblick darbietet. Blicken wir jedoch durch alle diese Erscheinungen hindurch in eine größere Tiefe, so erscheint durch sie wie durch ihr Abbild hindurch jene "Mitte" des umfassenderen Zeitsystems der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung, die wir in früheren Kapiteln als die vorgeschichtlich-atlantische Epoche kennengelernt haben. Freilich handelt es sich hierbei - ebenso wie auch schon im Falle der ersten Hochkulturen - nicht um ein Abbild schlechthin, sondern um ein solches in dem spezifischen Medium, welches eben dasjenige der geschichtlichen Entwicklung darstellt, und damit zugleich um eine entsprechend sich gestaltende Metamorphose.

   Hier ist vor allem an das schon im zweiten Kapitel hervorgehobene Grundmerkmal der griechischen Philosophie zu erinnern, das darin besteht, daß diese - im Gegensatz zur modernen - die Begriffe und Ideen noch als einen Bestandteil der Welt selbst auffaßte, dem gegenüber das menschliche Denken nur die Bedeutung eines Wahrnehmungsorgans besitzt. Diese Auffassung hat ihre paradigmatische, auch noch durch das ganze Mittelalter hindurch gültig gebliebene Ausprägung erlangt in der Aristotelischen Philosophie, für welche die Ideen als das Formelement in den Dingen enthalten und mit dem der Sinneswahrnehmung gegebenen Stoffelement zur Einheit verbunden sind. Es ist die Lehre von den "universalia in rebus", wie sie dann als ein Bestandteil der umfassenderen Universalienlehre des Albertus Magnus und Thomas von Aquin auftritt. Zwar offenbarten sich diese Universalien dem griechischen Geist-Erleben nicht mehr unmittelbar als das aus den Dingen erklingende "Wort", sondern jetzt - in der geschichtlichen Phase - als Begriff. Aber bezeichnend ist dennoch, daß - wie der Ausdruck "Logos" bezeugt - der Begriff für den Griechen noch weitgehend "Wort-Charakter" besaß. Und so wird nun hier ersichtlich, daß es abermals nicht Willkür war, wenn wir an früherer Stelle die Bewußtseinsform des vorgeschichtlichen Menschen durch ihre Beziehung zu den "universalia in rebus" charakterisierten; denn was in geschichtlicher Zeit innerhalb des Griechentums als die Lehre von den "Ideen in den Dingen" auftrat, ist in der Tat nur die im Elemente des (S228) Denkens sich abbildende Beziehung zu den "universalia in rebus", die der vorgeschichtliche Mensch noch im Elemente der Sprache erlebte.

   Und damit hängt das andre zusammen, worauf wir ebenfalls im zweiten Kapitel schon hinwiesen: die ganz besondere Ausbildung, welche die Sprache innerhalb der griechisch-lateinischen Kultur erlangt hat. Wir gebrauchten dort den Ausdruck: es ist, als ob damals die Sprache zum zweitenmal, in einer "höheren" Sphäre, geboren worden sei: als "Menschensprache" im eigentlichen Sinne, - so wie sie in der Vorgeschichte noch "Weltensprache" gewesen war. Als "Menschensprache" in dem Sinne nämlich, daß sie jetzt die innigste Verbindung mit dem Denken einging und von diesem her zur exaktesten und geschmeidigsten Ausdrucksfähigkeit für die Begriffe und Denkfunktionen durchgebildet wurde.

   Aber noch auf Weiteres darf hier hingewiesen werden. Wenn in der Zeitenwende in Christus die Menschwerdung des Göttlichen stattgefunden hat, so ist es auch bezeichnend, daß dieses Geschehen von dem Evangelisten Johannes - der in Ephesus, einem Zentrum des einstigen griechischen Mysterienwesens, gelebt hat - aus der griechischen Geisteswelt heraus als die "Fleischwerdung des Wortes" charakterisiert worden ist, "durch das alle Dinge geschaffen worden sind". Der "Logos", der sich dem Menschen in vorgeschichtlicher Zeit noch aus dem Kosmos geoffenbart hatte, zog nun ganz in die Menschheit ein und ermöglichte dadurch - wie früher schon geschildert - erst die volle Ich-Werdung des Menschen, die den Nerv der geschichtlichen Entwicklung bildet. Und so wie das wesentlichste Geschehen der Vorgeschichte - gemäß unsrer Darstellung im zweiten Kapitel - in der Entstehung der menschlichen Sprache aus der damaligen "Offenbarung" des "Weltenwortes" heraus gesehen werden darf, so liegt das wesentlichste Geschehen dieser vierten, mittleren Epoche der Geschichte in all dem, was, teils vorbereitend auf, teils anschließend an die Menschwerdung des "Wortes" in der Menschheit zur Entwicklung gekommen ist. In dieser Beziehung gilt für diese mittlere Epoche durchaus die Kennzeichnung Joachims de Fiore, daß sie im besonderen diejenige des "Sohnes" ist.

   Bezeichnend für die damalige - vor-joachimische - Bewußtseinsstufe ist allerdings zugleich, daß für ihre Auffassung das "Weltenwort" zwar durch die Ereignisse von Palästina in die Menschheit eingezogen ist, aber noch nicht in das Innere des einzelnen Menschen aufgenommen werden kann. Es ist, als habe das "Urbild" der vorgeschichtlichen Verhältnisse sein geschichtliches Abbild so bestimmend geprägt, daß das menschliche Bewußtsein die Bedeutung der Menschwerdung des Logos - trotz der dogmatischen Behauptung derselben - nicht in vollem Maße zu realisieren vermochte. Es kommt dies fürs erste darin zum Ausdruck, daß der Sohn - so wie er in der Vorgeschichte, da er noch aus dem Kosmos, in Wesenseinheit mit dem göttlichen (S229) Vatergrund der Welt sich dem Menschen geoffenbart hatte - auch jetzt, da er in die Menschheit eingezogen war, für das menschliche Vorstellen bald mit dem göttlichen Vater wieder mehr oder weniger in eins verschwamm, - was sich in den Streitigkeiten der ersten christlichen Jahrhunderte über seine Wesensgleichheit oder bloße Wesensähnlichkeit mit dem Vater zeigte. Zum zweiten darin, daß alles, was mit der Menschwerdung und Erlösungstat Christi zusammenhing, "Mysterium" blieb, das nur im Glauben aufgenommen, aber nicht mit den Erkenntniskräften durchdrungen werden konnte. Und schließlich darin, daß als die Repräsentanten des in die Menschheit eingezogenen Göttlichen nicht die einzelnen Menschen galten, welche durch die Aufnahme desselben in ihr Inneres diesen Einzug wahrgemacht hatten, sondern die Organisation der Kirche mit ihrer päpstlichen Spitze. Sie verwaltete den "Schatz der Gnaden", dessen die Menschheit durch die Tat auf Golgatha teilhaftig geworden war, und nur durch ihre Vermittlung konnte der Einzelne in den Genuß derselben gelangen. Ja, wir haben früher schon erwähnt, wie nach der Prädestinationslehre Auustins der einzelne zu seiner Erlösung aus seinen eigenen Kräften schlechterdings nichts beizutragen vermag, sondern entweder durch göttlichen Ratschluß für sie vorbestimmt ist oder aber ihrer unrettbar verlustig geht.

   Augustinus aber ist der Verfasser des "Gottesstaates", in welchem die christliche Geschichtsschau ihre erste, für die katholische Kirche bestimmend gebliebene Prägung erhalten hat. Und damit fällt auf diesen hier erst jenes Licht, welches den besonderen Charakter dieser Geschichtsschau hervortreten läßt. Wenngleich Augustinus im Gegensatz zu der die klassische Antike noch beherrschenden Lehre von der stetigen Wiederkehr des Gleichen zum erstenmal die Einmaligkeit des vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht sich erstreckenden Geschichtsprozesses geltend gemacht hat, so ist doch für ihn nicht minder bezeichnend, daß er den wesentlichen Inhalt der Geschichte im Kampf zwischen der civitas dei und der civitas terrena erblickt, der sich in der Folge ihrer Epochen in wechselnden äußeren Formen abspielt. Etwas wesentlich Neues bringt dieser Wechsel nicht zutage. Und darum richtet sich das "geschichtliche" Interesse Augustins auch nicht auf ihn. Im wesentlichen der Geschichte gibt es für ihn seit Golgatha keinen Fortschritt. Denn dieses Wesentliche liegt in der inneren Situation, in der sich der einzelne gegenüber der Erlösungstat befindet. Diese Situation ist aber, nachdem diese Tat einmal geschehen, für alle Menschen und für alle Zeiten diesselbe. Sie ist durch die Möglichkeiten des Heils gekennzeichnet, die seit damals für die einzelnen Menschen gegeben oder nicht gegeben sind. Man kann sagen: insofern Augustinus die Geschichte vom Blickpunkte des einzelnen Menschen aus betrachtet, ist seine Geschichtsauffassung in tieferem Sinne eine ungeschichtliche. Das "Geschichtliche" der Geschichte liegt für ihn nur in dem Kampf (S230) zwischen den beiden "Staaten", dem "göttlichen" und dem "irdisch-weltlichen", der sie von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende durchzieht. Aber dieser ist das, dem nicht sein eigentliches Interesse gehört. Es genügt ihm, zu wissen und darauf hinzuweisen, daß der Repräsentant des "Gottesstaates" in vorchristlicher Zeit der "alte Bund" Jehovas mit dem auserwählten Volke war, in nachchristlicher Zeit aber die Kirche ist und bis ans Ende der Welt bleiben wird.

   Hierin zeigt sich aber, daß Augustinus den eigentlichen Sinn der geschichtlichen Entwicklung, der ja gerade in der Herausbildung des menschlichen "Ichs", d.h. der sich selbst erfassenden und bestimmenden Individualität liegt, nicht erkannt hat. Diesen Prozeß nimmt er in der Geschichte gar nicht wahr. Hierin liegt auch der Grund für seine verkehrte Freiheitsauffassung. Er verlegt die Freiheit an eine Stelle, wo sie noch gar nicht sein konnte, da der Mensch damals noch kein durch das Denken auf sich selbst begründetes "Ich" war: in das Paradies. Vor dem Sündenfall soll der Mensch in einem Zustand gewesen sein, da er der Sünde noch nicht unterworfen war (posse non peccara). Seine erste Sünde war ein Akt seiner freien Wahl, durch den er allerdings seine Freiheit für immer verlor und die Sünde eine Übermacht über ihn erlangte, die er seither aus eigener Kraft nicht mehr besiegen kann (non posse non peccare). Weil Augustinus die Freiheit an einen Ort verlegt, wo sie nicht sein konnte - daher auch die Erbsünde keine persönliche Schuld des einzelnen darstellt -, darum fehlt sie dann da, wo sie in der Geschichte tatsächlich auftritt, - wie wir später noch genauer zeigen werden. Und an ihre Stelle tritt dann die Prädestination.

   Wenn auch die Kirche diese Lehre später zum Semipelagianismus milderte, so hat sie doch an der im tieferen Sinne ungeschichtlichen Geschichtsauffassung Augustins bis heute festgehalten. Auch sie kennt keinen geschichtlichen Fortschritt im tieferen, innerlichen Sinn, sondern nur einen ständigen Wechsel der äußeren Formen des menschlichen Lebens. Und so ist für ihre Haltung gleich charakteristisch ein starrer Konservativismus in allem innerlich Wesentlichen wie eine äußerst geschmeidige Anpassung in allem Äußeren an die mit den Zeiten wechselnden Formen des äußeren Lebens.

   In dieser tieferen Ungeschichtlichkeit der durch sie repräsentierten Geschichtsauffassung scheint abermals das vorgeschichtliche Urbild durch das geschichtliche Abbild hindurch. Und wie dies auch in andrer Hinsicht der Fall ist, haben wir bereits früher angedeutet durch den Hinweis darauf, daß die vom Katholizismus festgehaltene strenge Scheidung zwischen Klerus und Laientum ein Nachbild darstellt jener Zweiheit von Mysterienführung und breiter Masse der uneingeweihten Menschen, in welche die Gesamtmenschheit in der vorgeschichtlich-atlantischen Zeit auseinandergefallen war. Wie denn überhaupt in dem Anspruch der katholischen Kirche auf geistige Führung und (S231) Mittlertum zwischen der Menschheit und der göttlich-geistigen Welt die einstige Rolle der Mysterien, wenn auch in veränderter äußerer Form, von ihr weiterzuspielen beansprucht und deshalb alles andre Mysterienwesen von ihr diffamiert und bekämpft wird. Ja, in dem Dogma von der Infallibilität des Papstes als des "Stellvertreters" Christi, das sie noch in neuester Zeit formuliert hat, kommt sogar etwas von dem übermenschlich-halbgöttlichen Charakter wieder zum Vorschein, der den vorgeschichtlichen Mysterienführern der Menschheit - mit Recht - noch zugesprochen werden durfte.

III

   Wenden wir uns schließlich der dritten der hier zu betrachtenden Epochen zu - das ist: der fünften im Ganzen der Geschichte -, so sehen wir sie in Europa seit dem 13. und 14. Jahrhundert heraufdämmern und mit dem Beginne der "Neuzeit" aufgehen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß sie gegenwärtig ihre Kulmination noch nicht erreicht hat. Ihre wesensbestimmenden Impulse sind vielmehr noch immer in voller Entfaltung begriffen und streben ihrem Höhepunkt erst zu. Doch sind sie schon bisher etappenweise in die Sichtbarkeit getreten, und zwar lassen sich an hauptsächlichen Etappen in ihrer bisherigen Entwicklung drei unterscheiden, die an der Wende zum 16., gegen das Ende des 18. und im 20. Jahrhundert ihre Marksteine haben. Für ihre Charakterisierung müssen wir uns auch hier wieder auf den einzigen Gesichtspunkt beschränken, welcher den Darstellungen dieses Kapitels zugrundeliegt.

   Ihren ersten und wohl markantesten Ausdruck hat die neue Bewußtseinsstufe dieser Epoche gefunden in der modernen Wissenschaft, wie diese, zunächst vornehmlich als Naturwissenschaft, seit dem 16. Jahrhundert entstanden ist. Sie ist gekennzeichnet durch das vollständigste Zerreißen jener Einheit, welche das sinnliche und das geistige Erleben des Menschen in der Vorgeschichte einstmals gebildet hatten. Auf der einen Seite ist die rein sinnliche Erfahrung übriggeblieben. Ihre möglichst genaue, unvoreingenommene und vollständige Feststellung wird darum schon am Beginne dieser Epoche von Francis Bacon als einzig mögliche Grundlage und Ausgangspunkt alles Erkenntnisstrebens bezeichnet. Ihr steht auf der andern Seite gegenüber die Welt der Begriffe, als deren Schöpfer sich jetzt der Mensch selbst, und zwar jeder einzelne, weiß, und deren Bedeutung für ihn lediglich darin liegt, daß er sich mit ihrer Hilfe die Erfahrungstatsachen verständlich macht. Weil die heliozentrische Theorie die Bahnen, welche die Planeten am Himmel beschreiben, auf einfachere Weise erklärt als die ptolemäisch-geozentrische, darum wurde jene jetzt von Kopernikus dieser entgegengestellt. Es handelt (S232) sich bei diesen Begriffsbildungen also um die "universalia post res", die als solche kein Dasein in der Welt haben, sondern lediglich vom Menschen durch sein Denken in seiner Seele ausgestaltet werden. Die Welt besteht nur aus "räumlich ausgedehnter" Substanz, welcher der Mensch als die "denkende" gegenübersteht. Ja, der Spalt zwischen dem, was er wahrnimmt, und dem, was er denkt, ist jetzt so tief, daß sich seiner bald die Überzeugung bemächtigt, daß die Theorien, die er mit seinen Begriffsbildungen über die Erfahrungstatsachen aufstellt, grundsätzlich nur die subjektive Bedeutung haben, sein Erklärungsbedürfnis gegenüber den Tatsachen zu befriedigen, aber das, was die "Dinge an sich" selbst sind, ihnen prinzipiell verschlossen sei.

   Damit ist auf ein zweites Moment dieser neuen Bewußtseinslage hingedeutet. Da der Mensch sich selbst als den Schöpfer seiner Begriffe erlebt, so gewinnen für ihn nun dominierende Wichtigkeit die Fragen erstens nach der Bedeutung dieser Begriffsproduktion, zweitens nach dem Wie ihres Zustandekommens. Die erstere führt zur Entstehung der Erkenntnistheorie, die bei Bacon in ersten Ansätzen auftritt, bei Locke, Leibniz und Hume schon schärfere Ausprägung gewinnt und seit Kant sich mit voller Wucht in den Vordergrund des Erkenntnisinteresses drängt. Die letztere läßt die Methodologie des wissenschaftlichen Forschens entstehen, deren Anfänge schon bei Galilei sich zeigen und die im Lauf der folgenden Jahrhunderte für die verschiedensten Zweige des Forschens immer weiter durchgebildet wird. Beide Disziplinen: die Erkenntnistheorie sowohl wie die Methodologie begleiten seither alle wissenschaftliche Betätigung als ein Element, dem nicht geringere Wichtigkeit zukommt als der "praktischen" Forschung selbst auf irgendeinem Fachgebiete. Es wird dem modernen Menschen zum tiefsten und unabdingbaren Bedürfnis, nicht nur zu "wissen", sondern auch zu wissen, wodurch, wie und wie weit er "weiß".

   Und damit ist ein drittes Motiv der modernen Geistesentwicklung angeschlagen. Die Bewußtwerdung der eigenen begriffsschöpferischen Denktätigkeit führt zur Erfassung der Realität des im Denken tätigen "Ichs". In Descartes' "cogito ergo sum" spricht sich dieses Erlebnis zuerst aus. Aber auf dieser Stufe verursacht es zunächst nur die oben angedeutete schroffe Entgegensetzung von Welt und Ich als des res extensa und der res cogitans, - eine Entgegensetzung, die den Agnostizismus der nächsten Jahrhunderte bis zu Kant hin begründet. Auf der zweiten Etappe der modernen Entwicklung erst, am Ende des 18. Jahrhunderts, wird - wie an früherer Stelle schon erwähnt - im deutschen Idealismus, zuerst durch Fichte, das Ich-Erlebnis so vertieft, daß im Denken jenes universelle Element erkannt wird, welches den Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Mensch und Welt, überbrückt, - woraus das Ringen der idealistischen Philosophie um die Überwindung des (S233) Agnostizismus resultiert. Und erst mit der dritten Etappe, abermals ein Jahrhundert später, erfährt diese Erkenntnis von der universellen Wesenheit des Denkens durch Rudolf Steiner jene Fundamentierung, welche dieses Ringen um die Überwindung des Agnostizismus zum Siege zu führen vermag.

   Damit kommen wir auf das zweite Grundelement der modernen Entwicklung zu sprechen: die weitere Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Jenes Erleben des im Denken selbstschöpferisch und selbstverantwortlich gewordenen Ichs, das im Beginne der neueren Zeit auftritt, führt nicht nur zur Begründung der modernen Philosophie, wie sie durch Descartes erfolgt ist, sondern liegt auch der religiösen Reformationsbewegung des 16. Jahrhundert zugrunde. Denn mit ihrem Aufstand gegen die päpstliche Autorität in Glaubensangelegenheiten zielte diese letztlich auf die freie individuelle Selbstbestimmung des Menschen in Glaubens- und Gewissensfragen hin, - wie es der englische Independentismus des 17. Jahrhunderts, der sich als ihr Vollender fühlte, auch ausgesprochen hat.

   Die neue Stufe aber, die in dieser Entfaltung am Ende des 18. Jahrhundert auf rein geistigem Gebiete durch den deutschen Idealismus erklommen wurde, hatte ihr Gegenstück auf politischem Gebiet in dem in der französischen Revolution erfolgten Umsturz der Ständeordnung und Durchbruch des demokratischen Gedankens von der Rechtsgleichheit aller Menschen, wenn auch der letztere nicht sogleich zu einer dauerhaften Stabilisierung zu gelangen vermochte.

   Sie hatte aber noch ein weiteres Gegenstück, das als solches allerdings nur verständlich wird, wenn man berücksichtigt, daß mit der Verinnerlichung und "Ver-Ichlichung", die das menschliche Denken an der Wende zur Neuzeit erfuhr, seine Abstraktionsfähigkeit - wie schon früher erwähnt - eine höchsten Grad erreichte. Diese äußerste Abstraktionskraft aber befähigte es allererst, in die Welt des Anorganischen erkennend einzubrechen, die der antik-mittelalterlichen Menschheit noch verschlossen gewesen war. Denn diese ist ja - wie auch schon angedeutet - dadurch gekennzeichnet, daß sie von Naturgesetzen beherrscht wird, die in generellsten mathematischen Formeln ausgedrückt werden können, denen keine spezifizierten Arten und Familien von Erscheinungen, sondern nur Einzelfälle gegenüberstehen. Darin liegt es begründet, daß die moderne Naturwissenschaft nicht nur als Physik, ja als Mechanik (Galilei) begründet wurde, sondern sehr bald (Descartes, Newton) zu einer mechanischen Weltdeutung überhaupt auswuchs. Das Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten und Kräftewirksamkeiten der anorganischen Welt mußte aber bei entsprechender Reife deren technische Beherrschung nach sich ziehen. Diese Reife trat am Ende des 18. Jahrhunderts ein und führte in England, das auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, (S234) namentlich der Mechanik, tonangebend geworden war, zur Entstehung des Maschinenwesens. Dieses aber wiederum hat der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die sich seit dem 17. Jahrhundert zunächst auf dem Gebiete des Handels entwickelt hatte, durch die Ausbildung des Industrialismus erst die volle Verwirklichung und damit der menschlichen Persönlichkeit die Möglichkeit gebracht, auch auf wirtschaftlichem Gebiete ihre freieste Beweglichkeit und Selbstbestimmung zu entfalten. Freilich ist in all den zuletzt genannten Erscheinungen noch ein andres Moment in den Vordergrund getreten. Bevor wir aber auf dieses eingehen, sei zunächst noch die Entwicklung ins Auge gefaßt, welche das geschichtliche Bewußtsein und die Geschichte als solche im Lauf der neueren Zeit erfahren haben.

   Während im 16. und 17. Jahrhundert das moderne Denken erst auf dem Gebiete der Naturwissenschaft umgestaltend wirksam geworden, das auf die Geschichte bezügliche Vorstellen dagegen noch im Banne der christlich-theologischen Auffassungen verblieben war, dringt in der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhundert das moderne Denken auch in die Geschichtsbetrachtung ein und bringt in dieser eine analoge Umwälzung hervor. Dreierlei ist es insbesondere, was diese charakterisiert. Fürs erste wird an Stelle der kirchlich-theologischen eine weltlich-profane Geschichtsschau gesetzt. Die heilsgeschichtliche Auffassung wird durch die kulturgeschichtliche abgelöst. Demgemäß beginnt z.B. Voltaire seine Darstellung der Weltgeschichte nicht mehr - wie bis dahin üblich - mit dem, was das Alte Testament erzählt, sondern mit dem - Chinesentum. Die Israeliten erscheinen als eines unter vielen andern Völkern des - Altertums. Und damit hängt das zweite zusammen: die seit Cellarius (1685) allmählich sich einbürgernde Einteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter, Neuzeit, - wobei nun zum Altertum neben den Juden in gleicher Weise die Griechen und Römer sowie die orientalischen Völker gezählt werden, soweit sie damals schon bekannt sind, und die Neuzeit sich jetzt als eine selbständige neue Epoche neben das Mittelalter hinstellt, das als die christliche Epoche mit der ihr vorangehenden heidnischen zusammen früher das Ganze der Geschichte auszumachen schien. Mit all dem ist als drittes verknüpft, daß an die Stelle der auf die "letzten Dinge" zielenden göttlichen Vorsehung in der Geschichte der Fortschritt der menschlichen Kultur zu immer höheren Stufen der Perfektion tritt. Diese Fortschrittsstheorie, die im 18. Jahrhundert in Frankreich zunächst im Sinne der Aufklärungsphilosophie, in Deutschland im Sinne der Humanitätsidee (Herder, Lessing; Schiller) und des Freiheitsbewußtseins (Hegel) verstanden wird, im 19. Jahrhundert dann sich mit der biologischen Entwicklungslehre verquickt und im Sinne des wissenschaftlich-technischen (Comte) bzw. des sozialen (Marx) Fortschrittes aufgefaßt wird, prägt sich in zunehmendem Maß zum dominierenden Merkmal der modernen (S235) Geschichtsauffassung überhaupt aus. Ihre Bedeutung liegt freilich keineswegs darin, daß sie in den verschiedenen Ausgestaltungen, die sie erfährt, unmittelbar die Wahrheit über den Sinn der Geschichte endlich an den Tag gebracht hätte. Schlägt sie doch aus den Erfahrungen der Veräußerlichung, geistigen Nivellierung und Vermassung, die schon im 19. Jahrhundert mit der fortschreitenden Technisierung des Lebens gemacht werden konnten, bei einzelnen bereits damals, in weitesten Kreisen aber im 20. Jahrhundert angesichts der Barbarisierung und Bestialisierung, welche die beiden Weltkriege mit sich gebracht haben, in teilweise schwärzesten Niedergangspessimismus um. Was ihr an Wahrheitsgehalt innewohnt, ist vielmehr dieses - und dieses Merkmal behält sie teilweise, so z.B. bei Spengler, bis in ihre Metamorphose zur Niedergangstheorie hinein -, daß sie das hervorragenste Symptom dafür darstellt, daß zum primären Faktor des geschichtlichen Lebens immer mehr das Element des Willens bzw. der aus dem Wollen geborenen Lebenszielsetzungen wird, - was wir in früheren Kapiteln bereits als das Grundmerkmal der Geschichte überhaupt im Gegensatz zur Vorgeschichte hervorgehoben haben. Dieses Merkmal gelangt eben erst jetzt zur vollständigen Ausprägung. Es zeigt sich dieser Tatbestand auf allen Gebieten des menschlichen Lebens. Er kommt auf dem Felde des geistigen bzw. Erkenntnislebens darin zum Ausdruck, daß als das Ziel des "Wissens" - da es nicht mehr die Erfassung des nun als unerkennbar geltenden "Wesens" der Dinge sein kann - schon von Bacon die "Macht" über die Natur bezeichnet wird. Daß dem in der Tat so ist, das geht mit unüberbietbarer Deutlichkeit daraus hervor, daß die naturwissenschaftliche Forschung heute zum weitaus überwiegenden Teil im Dienste der Naturbeherrschung, der Technik, arbeitet und arbeiten muß. Auf politischem Gebiete zeigt sich diese Tatsache darin, daß mit dem Sturz der Ständeordnung und d.h. zum erstenmal in der französischen Revolution Weltgeschichte aus abstrakt formulierten Idealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) heraus gemacht wird und seither zum Wesen des demokratischen Staates der Antagonismus der politischen Parteien mit ihren divergierenden abstrakten Programmen gehört. Und sie zeigt sich endlich in der wirtschaftlichen Sphäre darin, daß zum Ziel der wirtschaftlichen Betätigung im Zeitalter des Kapitalismus immer weniger die Befriedigung der Bedürfnisse der Konsumtion als vielmehr die Erlangung der wirtschaftlichen Macht der Produzenten geworden ist.

   Diese Dominanz des Willenselementes aber hat in die geschichtlichen Bewegungen jenen Dynamismus, jenes unablässig sich beschleunigende Tempo hineingebracht, welche dem Rad der Geschichte heute eine geradezu atemberaubende Umdrehungsgeschwindigkeit verliehen haben.

   Und wie hat sich denn nun dieses moderne geschichtliche Leben selbst gestaltet? Wiederum können hier nur diejenigen seiner Züge hervorgehoben (S236) werden, die vom Gesichtspunkte dieses Kapitels aus als wesentliche erscheinen müssen. Hier ist hinzuweisen darauf, daß durch die Entdeckungsfahrten des 15. und 16. Jahrhunderts die europäische Kultur teils in Wechselbeziehung tritt mit Kulturgebieten (namentlich des Fernen Ostens), die seit Jahrhunderten aus dem Horizont ihres Wissens fast völlig verschwunden waren, teils (namentlich im Westen) sich durch Auswanderung und Kolonisation über ihr bis dahin so gut wie unbekannt gebliebene Gebiete ausbreitet. Damit aber werden die ersten Schritte auf einem Wege getan, der im Laufe von vier Jahrhunderten die moderne europäische Zivilisation zur Weltzivilisation ausweitet und alle Teile der Menschheit über die ganze Erde hin zu einer einzigen Schicksalsgemeinschaft verbindet. Einen weiteren Schritt auf diesem Wege bedeutet die zweite Welle der Kolonisation, die im 19. Jahrhundert im Zeichen des in Europa sich entwickelnden Imperialismus über die Erde hingeht und, soweit die Kolonialgebiete aus der ersten Phase sich nicht inzwischen politisch und wirtschaftlich verselbständigt haben, zu einer fast restlosen Aufteilung der Erde in imperial beherrschte Rohstoff-, Absatz- oder bloße wirtschaftliche Interessengebiete führt. Sie bedient sich bereits der neuen technischen Nachrichten-, Verkehrs- und Transportmittel, welche das entstehende Maschinenwesen zur Verfügung stellt. Und der dritte Schritt erfolgt im 20. Jahrhundert, wesentlich mitbewirkt durch die neuesten Vehikel der Benachrichtigung und des Verkehrs (Auto, Flugzeug, Radio usw.), für welche räumliche Entfernungen jegliche Bedeutung verlieren. Er bringt allerdings zugleich den Rückstoß der außereuropäischen Welt mit sich in dem überall erfolgenden Aufstand der farbigen Menschheit gegen die Kolonialherrschaft der Weißen und läßt die beiden Machtkolosse der amerikanischen und asiatischen Superimperien entstehen, zwischen denen Europa, durch zwei Weltkriege tödlich geschwächt, zum umkämpften Einfluß- und Grenzgebiet herabsinkt.

   Aber wenn auch machtpolitisch und in bezug auf ihre sozialen Ideale und Ordnungen in zwei Welten zerspalten, ist es doch die ganze, gesamtirdische Menschheit, die jetzt zum Träger der Geschichte geworden ist. Und während früher die "Menschheit" eine Idee oder ein Ideal bedeutete, ist sie jetzt eine geschichtliche Realität geworden. Damit nimmt die Geschichte als eine solche der "Menschheit" im wortwörtlichen Sinne erst jetzt ihren Anfang. Die Völkergeschichte ist vorbei. Von unserm Jahrhundert an kann Geschichte nurmehr als die einheitliche der Gesamtmenschheit geschrieben werden.

   Das Ganze dieses skizzenhaften Überblicks zeigt, daß all das, was wir in früheren Kapiteln als die charakteristischen Merkmale der geschichtlichen Phase überhaupt aufgewiesen haben, erst in dieser ihrer dritten (bwz. fünften) Epoche zur vollen Verwirklichung gelangt. Es ist - erkenntnismäßig - die Ausbildung der "universalia post res", im gesamten Lebensverhalten die (S237) Präponderanz des auf die Zukunft gerichteten Willenselementes, - und schließlich die Tatsache, daß, sofern wir von einer "Geschichte der Menschheit" reden, diese im wörtlichsten, realsten Sinne überhaupt erst jetzt beginnt. (Damit erweisen sich alle Geschichtstheorien, welche - im Sinne Spenglers oder Toynbees - die Geschichte in verabsolutierender Weise in eine Reihe von Kulturen, Zivilisationen, Gesellschaften usw. zerlegen, als solche, die ihre Begriffsbildungen aus der Vergangenheit beziehen, und schon damit der Gegenwart und gar der Zukunft gegenüber als nicht mehr zureichend).

   Nur in einem Punkte ist die Realisierung dieser ihrer Wesensmerkmale, wenigstens in geschichtlich relevantem Maßstabe, bisher noch ausgeblieben, - und hierin liegt zutiefst der noch keine positive Lösungsmöglichkeit aufweisende und darum ihre Fortexistenz bedrohende Charakter der Krise begründet, in welche das Leben der Menschheit seit dem Beginn unsrers Jahrhunderts eingetreten ist. Es handelt sich dabei um jene Aufgabe, die wir im fünften Kapitel (Zusammenschau) als die tiefste und wesentlichste der Geschichte überhaupt aufzuweisen versucht haben: daß nämlich in ihrem Verlaufe die menschliche Individualität zum Repräsentanten des Menschlichen schlechthin, und d.h. auch der Menschheit, aufrücke. Diese Aufgabe zeigt vielerlei verschiedene Aspekte, von denen wir einige schon im Vorangehenden sichtbar zu machen versucht, andere im Folgenden noch werden zu erörtern haben. So fürs erste den, daß in seinem Denken die universelle Wesenheit des menschlichen Ichs selbst sich enthüllt, welche dieses zum Organ macht, durch das die Weltgeheimnisse überhaupt sich aussprechen können, - zum zweiten, daß diese universelle Wesenheit des Ichs, die sich im Ganzen des Einzellebens um dessen Mitte herum bis zum "Punkte" der Individualität zusammenzieht, wenn sie in diesem Punkte ihrer inneren Universalität inne wird, diese im Laufe einer geistigen Altersentwicklung durch die Ausbildung höherer Erkenntniskräfte und Bewußtseinsstufen immer entschiedener auszugestalten vermag; und zum dritten, daß als eine wesentlichste Frucht dieser seelisch-geistigen Entwicklung in ihr die Erfahrungserkenntnis reift von ihrem Hindurchgehen durch wiederholte Erdenleben. Wir haben auch gesehen, daß die Impulsgebung zu all dem gerade in unsrer Zeit durch Rudolf Steiner mit der Begründung der Anthroposophie erfolgt ist, und daß hierin die für die Gegenwart entscheidende Bedeutung begründet liegt, die dieser Anthroposophie zukommt. Aber es hat sich dieser Impuls heute noch nicht in dem Maße ausgewirkt, wie es die geschichtliche Entwicklung, um wirklich "fortschreiten" zu können, erfordert. Statt dessen sehen wir auf der Bühne der Geschichte ein anderes: Immer wenn die Zeit für eine bestimmte Entwicklungsgestalt abgelaufen ist, beginnt diese hinzuwelken. Und so gewahren wir, wie derjenige Individualismus, der sich in den letzten Jahrhunderten in Europa und Amerika entwickelt hat, und der noch (S238) gekennzeichnet ist durch die äußerste Steigerung bloß des individuellen Wesens der menschlichen Persönlichkeit bei völliger Ignorierung ihres tieferen, universellen, - heute nicht nur seine geschichtliche Stoßkraft verloren hat, sondern in der westlichen Welt selbst zusehends der Vermassung weicht, außerdem aber nach außen in in die Defensive gedrängt erscheint gegenüber dem, was von der östlichen Hälfte der Welt her heute im Vordringen begriffen ist. Und da tritt uns die Illustration des andern Gesetzes aller Entwicklung entgegen, daß, wo eine von der Zeit geforderte Gestaltung nicht zur Ausbildung gelangt, ihr Gegenbild in Erscheinung tritt. Aus der im Orient überwiegend auf einer vorindividuellen Entwicklungsstufe stehengebliebenen Menschheit heraus erhebt sich heute der mit dem marxistischen Sozialismus zu einer unheilvollen Ehe verbundene östliche Kommunismus mit seinen alle individuelle Selbstbestimmung auslöschenden kollektivistischen Zwangssystemen. Und so ist der west-östliche Weltgegensatz in der Form, wie er in unserm Jahrhundert zur alles beherrschenden Lebensfrage der Menschheit geworden ist, nur der Ausdruck ihre Steckenbleibens auf dem Wege, den die Entwicklung der menschlichen Individualität nehmen muß, und offenbart insofern - gewissermaßen in negativer Form - ebenfalls, wie sich in unsrer Epoche der Grundimpuls der geschichtlichen Phase überhaupt ausprägen will.

   Ein ganz besonderes Maß von Schuld an diesem Steckenbleiben trägt die deutschsprechende Bevölkerung Mitteleuropas. Denn sie war und ist im eminenstesten Maße dazu veranlagt, innerhalb der menschlichen Persönlichkeit ein  Überpersönliches, Universelles zu entwickeln, das sich als Repräsentant des Gesamtmenschlichen weiß und die entsprechenden Verantwortungen auf sich nimmt. Schon in der mittelalterlichen Mystik eines Meister Eckhart, in der Parzivaldichtung eines Wolfram von Eschenbach, ganz besonders aber in der Zeit der geistigen Hochblüte des Deutschtums: im Zeitalter Goethes hat sich diese Bestimmung desselben ans Licht zu ringen gesucht. Und so ist es auch kein Zufall, daß schon damals in verschiedensten Persönlichkeiten innerhalb Mitteleuropas die Idee der Reinkarnation hervorgetreten ist. Und wiederum war es durch diese Anlagen bedingt, daß die Anthroposophie aus der mitteleuropäischen Geistesentwicklung herausgewachsen ist. Aber was so von seinen größten und charakteristischsten Repräsentanten erstrebt und errungen wurde, ist im allgemeinen Leben Mitteleuropas bisher dennoch nicht tonangebend geworden. Insbesondere hat es auf dessen politische und soziale Gestaltung keinen Einfluß erlangt. Und so bildet es denn noch ein spezielles Kennzeichen der gegenwärtigen Weltlage, daß die europäische Mitte politisch zertrümmert wurde und die Grenze zwischen den Machtblöcken der östlichen und der westlichen Welt heute mitten durch sie hindurchgeht. (S239)

   All das Geschilderte kann auch so gekennzeichnet werden, was in dieser Epoche das urbildliche und das abbildliche Element der Geschichte in eins zusammenfallen. Denn das "Urbild", das für sie die geschichtliche Phase überhaupt bedeutet (wie es für die vorangehende Periode die vorgeschichtliche Phase bedeutet hatte), ist ja in dieser Epoche selbst noch in Entwicklung begriffen, und das "Abbild", eben diese Epoche, ist selbst ein Stück des Urbildes, der geschichtlichen Phase überhaupt. Das ist aber nur ein andrer Ausdruck für die Tatsache, daß die Menschheit in das Zeitalter der Freiheit eingetreten ist. Sie bildet jetzt nicht mehr - wie in früheren Zeitaltern - die schon vorhandenen Urbilder der Urzeit bzw. der Vorgeschichte im Medium der Geschichte unbewußt ab, sondern sie hat das Urbildliche der Geschichte selbst als Idee im Bewußtsein erst voll auszugestalten und zugleich im Leben zu verwirklichen.

   Diese eigentümliche Situation des modernen Menschen: daß für ihn ein Urbildlich-Archetypisches nicht einfach fraglos vorhanden ist und - wie in früheren Epochen - mit einer gewissen naturhaften Gewalt sein kulturelles Schaffen "stilbildend" bestimmt, ist von der durch C.G.Jung ausgebildeten psychologischen Betrachtungsweise in ihrer Art bemerkt worden, - so etwa wenn Jung ("Von den Wurzeln des Bewußtseins" 1954) schreibt (S16ff): "Der Bildersturm der Reformation hat... eine Bresche in den Schutzwall der heiligen Bilder (Archetypen) geschlagen, und seitdem bröckelte eines nach dem andern ab. Sie wurden mißlich, denn sie kollidierten mit der erwachenden Vernunft. Zudem hatte man schon längst zuvor vergessen, was sie meinten... Archetypische Bilder sind eben a priori so bedeutungsvoll, daß man schon gar nie danach fragt, was sie eigentlich meinen könnten. Darum sterben von Zeit zu Zeit die Götter, weil man plötzlich entdeckt, daß sie nichts bedeuten, daß sie von Menschenhand gemachte, aus Holz und Stein geformte Nichtsnutzigkeiten sind. In Wirklichkeit hat der Mensch dabei nur entdeckt, daß er bis dahin über seine Bilder überhaupt nichts gedacht hat. Und wenn er anfängt, darüber zu denken, so tut er es unter Beihilfe dessen, das er 'Vernunft' nennt; was aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Summe seiner Voreingenommenheiten und Kurzsichtigkeiten.

   Die Entwicklungsgeschichte des Protestantismus ist ein chronischer Bildersturm. Eine Mauer um die andere fiel. Und allzu schwierig war die Zerstörung auch nicht, nachdem die Autorität der Kirche einmal erschüttert war. Wir wissen, wie im großen und im kleinen, im allgemeinen und im einzelnen, Stück um Stück zerfiel, und wie die jetzt herrschende, erschreckende Symbolarmut zustande kam... Der protestantische Mensch ist eigentlich in eine Schutzlosigkeit hinausgestoßen, vor der es dem natürlichen Menschen grauen könnte. Das aufgeklärte Bewußtsein will allerdings nichts davon wissen, sucht aber in aller Stille anderswo, was in Europa verlorenging. Man forscht (S240) nach den wirkenden Bildern, den Anschauungsformen, welche die Beunruhigung von Herz und Sinn befriedigen, und findet die Schätze des Ostens... Ich bin überzeugt, daß die zunehmende Verarmung an Symbolen einen Sinn hat. Diese Entwicklung hat eine innere Konsequenz. Alles, worüber man sich nichts dachte, und das dadurch eines sinngemäßen Zusammenhanges mit dem sich ja weiterentwickelnden Bewußtseins ermangelte, ist verloren gegangen. Wenn man nun versuchte, seine Blöße mit orientalischen Prunkgewändern zu verhüllen, wie es die Theosophen tun, so würde man seiner eigenen Geschichte untrau. Man wirtschaftet sich nicht zuerst zum Bettler hinunter, um nachher als indischer Theaterkönig zu posieren. Weit besser schiene es mir, sich entschlossen zur geistlichen Armut der Symbollosigkeit zu bekennen, anstatt sich ein Besitztum vorzutäuschen, dessen legitime Erben wir auf keinen Fall sind. Wohl sind wir die rechtmäßigen Erben der christlichen Symbolik, aber dieses Erbe haben wir irgendwie vertan. Wir haben das Haus verfallen lassen, das unsere Väter gebaut, und versuchen es nun, in orientalische Paläste einzubrechen, die unsere Väter nie kannten. Wer die historischen Symbole verloren hat und sich mit 'Ersatz' nicht begnügen kann, ist heute allerdings in einer schwierigen Lage: vor ihm gähnt das Nichts, vor dem man sich mit Angst abwendet. Schlimmer noch: das Vakuum füllt sich mit absurden politischen und sozialen Ideen, sie sich allesamt durch geistige Öde auszeichnen." Und an späterer Stelle (S82): "Den gänzlichen Verlust des Archetypus ertragen die Menschen eigentlich nicht. Daraus entsteht nämlich ein ungeheures 'Unbehagen in der Kultur', in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, weil einem 'Vater' und 'Mutter' fehlen."

   Mit Recht charakterisiert auch M.Eliade in seinem schon mehrfach zitierten Buche, das ja vorwiegend der Enträtselung des archaischen Menschen gewidmet ist, diesem gegenüber den modernen Menschen als denjenigen, der nicht, wie jener, in all seinem Tun nur wiederholend nachbildet, was Götter oder Heroen in Urzeiten archetypisch vollzogen haben, sondern sich selbst "als Schöpfer der Geschichte erkennt und sich als solchen will" (S201), und weist hin auf die von diesem für sich geltend gemachte "Freiheit, Geschichte zu machen, indem er sich selbst realisiert" (S224). Er zeigt, wie deshalb für ihn Zeit und Geschichte eine Eigen-Realität erhalten, die sie für den archaischen Menschen nicht besaßen. Wie es allerdings dadurch für ihn innerlich auch immer schwieriger wird, die Schrecken zu ertragen, welche die Geschichte mit sich bringt, da er in diesen nicht mehr bloße Abbilder außer- oder übergeschichtlicher Archetypen erblicken kann, denen als solchen ein bestimmter "Sinn", eine bestimmte "Bedeutung" innewohnt, - sondern nurmehr Tatsachen schlechthin, denen außer dem, was sie als solche darstellen, kein weiterer, tieferer "Sinn" zukommt. "Wie soll man es z.T. rechtfertigen, daß der europäische Südosten jahrhundertelang leiden mußte - und also verzichten (S241) mußte auf jeden Willen zu einer höheren geschichtlichen Existenz und zur geistigen schöpferischen Tätigkeit auf allgemeingültiger Grundlage - aus dem einen Grunde, daß sich seine Gebiete auf dem Wege der asiatischen Eindringlinge befanden und dann zu Nachbarn des ottomanischen Reiches wurden? Und wie könnte in unseren Tagen, da der Druck der Geschichte keinerlei Ausweichen mehr möglich macht, der Mensch die Katastrophen und Schrecken der Geschichte ertragen - von den Deportationen und den kollektiven Massakern bis zum Werfen von Atombomben -, wenn dahinter sich keinerlei Zeichen, keinerlei übergeschichtliche Intention ahnen ließe? Wenn alle diese Entsetzlichkeiten nichts wären als das blinde Spiel wirtschaftlicher Kräfte, sozialer oder politischer Mächte? Oder wenn, noch schlimmer, das alles nur das Ergebnis von 'Freiheiten' wäre, die eine Minderheit sich nimmt und unmittelbar auf der Bühne der Weltgeschichte ausübt?" (S216).

   In der Tat gewinnt in der neueren Zeit die Geschichte einen Wirklichkeitsgrad und eine Gewichtigkeit, wie sie sie in keiner früheren Epoche gehabt hat. Man könnte auch sagen: Das geschichtliche Leben der Menschheit ist nicht einfach "Geschichte" schlechthin, so lange es eben währt, sondern sie ist in seinen verschiedenen Epochen von ganz verschiedener innerer Qualität. Sein geschichtlicher Charakter nimmt stufenweise ständig zu und erfährt in der neueren Zeit geradezu eine Potenzierung. Dies zeigt sich einmal darin, daß die modernen Kulturen nicht nur "sekundäre" Hochkulturen darstellen, sondern "sekundäre zweiter Stufe" (Alfred Weber) bzw. "tertiäre", d.h. auf bereits mehrschichtigem geschichtlichem Untergrund erwachsen sind. Es zeigt sich ferner darin, daß die modernen Bewegungen des kulturellen, zivilisatorischen oder sozialen "Fortschritts" den Endzustand der von ihnen vorgestellten "Vollendung" nicht mehr in ein nachgeschichtlich-jenseitiges Dasein verlegen, sondern innerhalb der Geschichte selbst erhoffen oder erstreben. Und es zeigt sich schließlich in dem um die letzte Jahrhundertwende aufgetretenen Bestreben, den Geschichts- oder Kulturwissenschaften erkenntnistheoretisch und methodologisch die volle Selbständigkeit gegenüber der Naturwissenschaft zu erkämpfen und zu sichern (Dilthey, Rickert), sowie in dem im Zusammenhang damit aufgekommenen Historismus. In ihm wurde die "Historie zum Prinzip der Gesamtanschauung alles Menschlichen" (Troeltsch). Aber seine Kehrseite ist die Gefahr der Relativitierung aller Werte, die er mit sich gebracht hat. Er raubt dem Menschen gewissermaßen den Boden, in dem er seine menschlich-sittlichen Zielsetzungen verankern könnte, und läßt ihn im Meere der Geschichte ertrinken. Die nachfolgende Charakteristik des Historismus von Troeltsch deutet im Grunde nur von einem andern Aspekt aus auf dieselben Tatbestände hin, auf die sich auch die vorangehend zitierten Sätze Jungs und Eliades bezogen haben.    "Historismus bedeutet... die Historisierung unsres ganzen Wissens und (S242) Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten, überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der andern Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von den antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet. Das geistige Leben ist nicht mehr Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, auch nicht mehr Erhellung der allgemein-menschlichen Vernunft- und Commonsense-Wahrheiten gegenüber den Irrungen des Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des Naturrechts und ein darauf begründeter Umbau von Staat und Gesellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden... Der tiefere innere Zusammenhang dieses Stromes selbst mit den bewegenden und im Einzelfalle formenden geistigen Kräften bleibt dabei dunkel, da die Historie ebenso wie die Naturwissenschaften den Zusammenhang mit der Philosophie grundsätzlich gelöst hat und autonom mit eigenen Mitteln das Werden und seine Gebilde erforschen will" (Neue Rundschau, 1992,S573f).

   Während Dilthey noch als Siebzigjähriger die Relativität aller menschlichen Anschauungen als das letzte Wort in der historischen Betrachtung der Welt bezeichnete (S.Eliade aaO,S215), suchte Rickert die Gefahr des Relativismus dadurch zu bannen, daß er die geschichtliche Betrachtung auf ein "System der Werte" bezogen wissen wollte, wie er es in seiner Wertphilosophie aufstellte, und Troeltsch strebte nach demselben Ziele durch die Konzeption einer universalhistorischen Kultursynthese. Diesen Versuchen gegenüber war es das Bemühen Max Webers, um die geschichtliche Forschung von solchen doch immer mehr oder weniger subjektiv bedingten (S243) philosophisch-ethischen Wertungen und Zielsetzungen freizuhalten, eine klare Unterscheidung zwischen "wertfreier" geschichtlicher Erkenntnis und aus dem Innersten der jeweiligen Individualität entspringenden praktisch wertenden Stellungnahmen herbeizuführen.

   Alle diese Bestrebungen, so wenig dadurch die geschichtsforscherischen Verdienste der genannten Denker geschmälert werden sollen, genügen der gestellten Aufgabe nicht. Eine wirkliche Überwindung der durch den Historismus eingetretenen Relativierung wird, wie dies auch immer gefühlt wurde, nur möglich von einer "metahistorischen" Sphäre aus. Diese wird aber als eine nicht nur glaubensmäßig erlebbare, sondern erkenntnismäßig zu erfassende nur erschlossen, wenn sie in der die Epochen der Urzeit, der Vorgeschichte und der Geschichte umfassenden gesamtirdischen Entwicklung des "Menschlichen" gefunden wird, wie sie in diesem Buche darzustellen versucht wurde. Dies ist allerdings, wie wir gezeigt haben, nur möglich durch jene "Erweiterung des Begriffes des Menschen", wie sie durch die Anthroposophie errungen worden ist. Denn von daher ergibt sich eine bestimmte urbildliche Idee des Ganzen der Geschichte und zugleich die Erkenntnis, daß dieses Ganze der Geschichte in der dritten (bzw. fünften) Phase der letzteren besonders oder genauer: erst vollständig zur Ausprägung gelangt, wodurch das geschichtliche Dasein der Menschheit in dieser Phase restlos "geschichtlich" wird. Es zeigt sich m.a.W., daß das Eigentümliche dieser Phase darin liegt, daß Urbildliches und Abbildliches in eins zusammenfallen, und wir es daher jetzt nicht nur mit einem "Strom des geschichtlichen Lebens" zu tun haben, sondern daß gerade die besondere Qualität, die er in der neueren Zeit erlangt, durch die Ausprägung des Urbildlichen der Geschichte zustandekommt. Allerdings zugleich auch, daß dieses Urbildliche, weil es jetzt unmittelbar in die Geschichte selbst eingeht, vom Bewußtsein des Menschen als solches aufgefaßt werden muß, wenn es zur vollständigen Verwirklichung kommen soll. Der Menschheit erwächst also in dieser Phase die Aufgabe einer absoluten, auch im Bereich des Ideell-Archetypischen zu vollziehenden Neuschöpfung.

   Liegt der Mangel des Historismus in seiner bisherigen Form darin, daß er sich nicht über den Bereich des Geschichtlichen in die Sphäre des Übergeschichtlichen zu erheben vermochte und daher nur im Elemente des Abbildes verblieb, nicht aber zu sehen imstande war, wie sich in diesem ein Urbildliches ausprägt, so liegt derjenige einer an der Jungschen Psychologie orientierten Betrachtungsweise der Geschichte, wie sie z.B.Eliade vertritt, darin, daß sie zwar die Bereiche der Vorgeschichte und der Urzeit in ihren Horizont mit einbezieht, aber nur dasjenige Verhältnis zwischen Urbild und Abbild ins Auge zu fassen vermag, das für die Abbildung der vorgeschichtlichen Epochen innerhalb der Geschichte gilt. Diese Betrachtungsweise bleibt daher (S244) die Tatsache verschlossen, daß auch die spezifische "Geschichte", in welcher die Menschheit aus dem Bannkreis der alten Archetypen heraustritt, einen eigenen Archetypus besitzt, und daß das Eigentümliche dieses letzteren darin liegt, daß er sich nicht mit Selbstverständlichkeit, gewissermaßen instinktiv, aus dem Unbewußten heraus in den kulturellen Schöpfungen ausprägt, sondern nur in dem Maße, als er als solcher bewußt vom je einzelnen Menschen erfaßt wird und, den jeweiligen geschichtlichen Situationen entsprechend konkretisiert, in seinem geschichtlichen Wirken realisiert wird. Denn für Jung gehört der Archetypus grundsätzlich dem "kollektiven Unbewußten" an und ist unmittelbar als solcher unerkennbar.

   Damit wird hier noch von einer neuen Seite her deutlich, was wir mit der "Geschichtswissenschaft" meinen, von der wir an früherer Stelle sagten, daß sie erst in unsrer Epoche möglich werde, und zu der dieses Buch einen Beitrag leisten will. Diese Geschichtserkenntnis wird in unsrer Epoche nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Sie ist zu einer Forderung geworden, die der geschichtliche Prozeß selbst heute stellt, weil er ohne ihre Erfüllung nicht mehr innerlich wahrhaft fortschreiten kann. Tatsächlich wird von unsrer Zeit an - wie es ja schon die Ereignisse unsres Jahrhunderts mit tragischer Deutlichkeit zeigen - alles geschichtliche Handeln, das sich nur aus den Kräften der Tradition oder aus bloßer politischer Routine oder aus purem dumpfem Wollen speist, immer mehr in die Nullität hineinführen. Den Forderungen der Zeit wird allein solches Wirken gerecht werden, das auch der hier gemeinten und vertretenen Geschichtserkenntnis heraus seine Orientierung empfängt. Denn unter allen Forderungen unsrer Zeit ist diese Geschichtserkenntnis selbst die Urforderung. Damit ist aber auch klar, daß, wenn sie dem Fortgang des geschichtlichen Lebens wirklich soll dienen können, sie nicht eine solche sein kann, die sich nur auf Vergangenheit bezieht d.h. nur erkenntnismäßig-theoretische Bedeutung hat, sondern eine solche sein muß, welche die "Geschichte als Gegenwart" (in dem weiter oben gekennzeichneten Sinne) versteht, also dasjenige in ihr erfaßt, dessen Verwirklichung noch nicht abgeschlossen ist, sondern erst im Werden sich befindet, - eben jenes Archetypische, das sich in Gegenwart und Zukunft ausprägen will. Denn nur dann kann sie auch Zielsetzungen vermitteln und Taten impulsieren.

   Wollte man dem modernen Menschen die Möglichkeit schlechthin absprechen, eine solche Geschichtserkenntnis zu erlangen, so bedeutete dies nichts Geringeres, als daß man es im modernen Leben mit einer geschichtlichen Stofflichkeit zu tun hätte, die der Durchprägung mit einer Gestalt, einer Ordnung, einem Sinn schlechterdings widerstrebte. Das hieße aber, daß der geschichtliche Prozeß in unsrer Zeit in eine Phase eingetreten wäre, in deren Verlauf er früher oder später scheitern müßte. Ein solches Scheitern ist heute allerdings (S245) zu einer realen Möglichkeit geworden. Und es steht hiermit in einem tiefen Zusammenhang, daß der Menschheit gerade in unsrer Zeit auch die technischen Mittel zugewachsen sind, ihrem Dasein auf der Erde ein Ende zu bereiten. Dieser Möglichkeit steht, was im folgenden bezüglich künftiger Phasen der Geschichte anzudeuten sein wird, lediglich im Sinne von Alternativ-Möglichkeiten gegenüber. Es ist all dies eben das Gegenstück zu der Freiheit, welche die Menschheit für künftige Stufen ihres geschichtlichen Werdens in sich trägt, zur Verwirklichung werden kommen können.

   Daß, sofern und solange der Archetypus der Geschichte nicht gefunden wird, die gekennzeichnete Gefahr dem modernen Leben tatsächlich droht, hat zur Folge, daß der neuere Mensch sich in seinem geschichtlichen Leben immer mehr wie vor ein "Nichts" gestellt und sich zu einer "Neuschöpfung aus dem Nichts" aufgefordert fühlt. Von dieser Situation her eröffnet sich noch ein andrer als der von Jung in seinem oben wiedergegebenen Zitat gezeichnete Aspekt auf die Re-Formationsbewegungen, des 16. Jahrhunderts, aber auch auch die verschiedenen Re-Naissancebewegungen, die im 16., 17. und 18. Jahrhundert in Italien, Frankreich und Deutschland aufgetreten sind. Was in diesen symptomatisch auch zum Ausdruck kommt, ist dieses, daß die abendländische Menschheit, weil sie, im Beginne der Neuzeit vor das charakterisierte "Nichts" gestellt, nicht sogleich in der Lage ist, aus ihm die Neuschöpfung (Formation, Naissance) zustandezubringen, welche die jetzt anbrechende Epoche fordert, gerade für die Gestaltung der höchsten und zentralsten Sphären ihres Lebens: die religiöse, künstlerische und staatlich-politische, sich zu den Impulsen der vorangehenden Epoche zurückwendet. Es geschieht da im Prinzip schon etwas Ähnliches wie das, was Jung heute den "Theosophen" glaubt zum Vorwurf machen zu sollen. Und so ist es charakteristisch, daß bis zu Goethe hin die Ideale des Humanismus und der Humanität mit denjenigen der Wiederbelebung der klassischen Antike verbunden bleiben. Das "neue Bild des Menschen", das unsrer Epoche entspricht, kann zunächst noch nicht konzipiert werden Es geht vielmehr der an der Antike orientierte Humanismus im 19. Jahrhundert erst vollständig verloren und wird durch das aus dem Darwinismus herausgeborene Bild des Menschen als des höchstentwickelten Affen ersetzt, bevor sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durch Rudolf Steiner jenes neue Bild im menschlichen Bewußtsein durchringt.


IV

(S246)  Wenn wir im obigen von der Sphäre des "Metahistorischen" sprachen, so sind über diese zum Abschlusse dieses Kapitels noch in einem andern Sinne einige Andeutungen zu machen. Es betrifft dies diejenigen Epochen der Geschichte, die auf unsre gegenwärtige dereinst folgen werden. Im Sinne der im vorigen Kapitel begründeten Ordnung alles zeitlichen Werdens nach der Siebenzahl ergibt sich für die geisteswissenschaftliche Forschung, daß auf unsere jetzige fünfte Epoche noch eine sechste und siebente der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens folgen werden. Es ergibt sich ihr des weiteren, daß an die geschichtliche Phase überhaupt, die ja - bei Einrechnung der beiden vorbereitenden (der polarischen und der hyperboräischen), die noch im wesentlichen im Überphysischen verlaufen sind - selbst wiederum die fünfte des gesamtirdischen Menschheitswerdens darstellt, sich noch zwei weitere Phasen dieses größten Entwicklungszyklus anschließen werden. Wie wir aber schon gezeigt haben, daß die markantesten Einschnitte in der Siebenheit aller zeitlichen Entwicklungsstufen vor der dritten und nach der fünften liegen, so wird das gesamtirdische Menschheitswerden, das mit der (lemurischen) "Urzeit" erst voll in die physische Sichtbarkeit eintrat, mit dem Ende der geschichtlichen als der fünften Phase wieder ins Überphysische übergehen. Dieses "urbildliche" Geschehen aber wird sich innerhalb der geschichtlichen Phase selbst wiederum darin abbilden, daß auf ihren gegenwärtigen, fünften Zeitraum, in welchem, wie wir sahen, ihr eigenes Wesen am reinsten zur Ausprägung gelangt, noch zwei Epochen folgen, in welchen sich das nachgeschichtlich-überphysische Dasein der Menschheit im Medium der Geschichte abbilden wird. Es werden daher diese beiden Epochen selbst schon in gewisser Weise "nachgeschichtliches" Gepräge tragen d.h. in analoger Weise das "Postludium" der Geschichte darstellen, wie die beiden ersten, die urindische und urpersische, ihr "Präludium" gebildet haben. Der geschichtliche Charakter des Menschheitsdaseins, der im gegenwärtigen Zeitalter seinen Höhepunkt erreicht, wird in ihnen also abklingen. Wie es sich dadurch in jener Zukunft gestalten wird, darauf kann an dieser Stelle noch nicht näher eingegangen werden. Von einem andern Gesichtspunkt aus wird darüber im zweiten Bande dieses Werkes einiges Genaueres ausgeführt werden. Nur soviel sei hier gesagt, daß sich das Verhältnis von Urbild und Abbild im geschichtlichen Geschehen umkehren wird. Die geschichtliche Aufgabe jener Epochen wird wesentlich in der Ausgestaltung eines Urbildes, gewissermaßen eines Keimes bestehen, dessen Entfaltung bzw. Ausprägung in der Realität des Menschheitswerdens erst einer noch ferneren, nachgeschichtlichen Zukunft angehören wird. Und was als äußere Kultur vorhanden sein wird, wird schon den Niedergang des Geschichtlichen überhaupt zeigen, - wie (S247) einstmals auch die vorgeschichtlich-atlantische Kultur ihrem Niedergang verfallen ist. Wie in der verdorrenden Frucht der Same der künftigen Pflanze lebt, so wird in der abwelkenden Hülle der äußeren geschichtlichen Kultur ein samenhaftes Urbild geformt werden müssen, das erst in einer fernen Zukunftszeit sich verwirklichen wird. Diese "Zeit" selbst aber wird wiederum von andrer "Qualität" sein als die geschichtliche. Im Menschen selbst werden die drei Dimensionen der Zeit (im Sinne der an früherer Stelle gegebenen Charakteristik) sich stufenweise wieder zur Einheit durchdringen, - und so wird auch qualitativ ein "übergeschichtliches" Geschehen sich herausbilden.

   Hinsichtlich der blutsmäßigen Grundlage zeigen sich für die geisteswissenschaftliche Forschung im russischen Slawentum in keimhafter Form gewisse Wesenszüge veranlagt, welche auf den Charakter dieser kommenden Epochen hindeuten. Freilich wird zu diesen noch anderes als Entwicklungsergebnis der gegenwärtigen hinzukommen müssen, um ihnen des Gesamtgepräge zu verleihen, das sie kennzeichnen wird. Außerdem wird das alles einer Zukunft angehören, die noch viel weiter entfernt ist, als dies heute vielfach angenommen wird.

   Nur auf zwei Züge im Wesen des Russentums sei hier hingewiesen, in denen sich der Charakter jener Epochen vorverkündigt. Der eine muß, um in seinem Zugeordnetsein zur Zukunftsgestaltung der Menschheitsverhältnisse verstanden zu werden, zusammengeschaut werden mit dem in der Gegenwart erfolgenden Beginn der einheitlichen, die ganze Erdenbevölkerung umfassenden "Menschheits-Geschichte", von dem wir weiter oben gesprochen haben, sowie mit der Aufgabe, die von der Vergangenheit her in die partikulären Gemeinschaften des Blutes und der Sprache zerspaltene Menschheit auf einer höheren Ebene, im Geiste des Pfingstgeschehens, zu einer universellen Einheit wieder zusammenschließen, die wir in einem früheren Kapitel der geschichtlichen Phase überhaupt zugeschrieben haben. Dieser Zug nun liegt in dem besonderen Sinn des Russen für das Allmenschliche, in seiner Fähigkeit, fremdes Wesen verständnisvoll in sich aufzunehmen, in seiner Hinneigung dazu, in jedem Menschen, welcher Nation immer er angehören mag, seinen "Menschheitsbruder" zu sehen. Dieser Zug zeigt sich selbst noch in der Tendenz des heutigen russischen Kommunismus, sich ganz selbstverständlich als ein Menschheitsevangelium zu verstehen und auf dem Wege der "Weltrevolution" über die ganze Erde auszubreiten, wenn das alles auch in der Stalinschen Ära in eine nationalrussische imperialistische Machtpolitik umgebogen worden ist. Vom Nationalismus des Westens war dieser Wesenszug freilich schon im 19. Jahrhundert angekränkelt; nur lebte sich dieser im östlichen Europa damals noch in Gestalt eines christlich verstandenen nationalen Messianismus aus. In dieser, immerhin noch verhältnismäßig edlen und reinen (S248) Form tritt er uns z.B. entgegen in Sätzen, wie sie Dostojewski in seiner berühmten, kurz vor seinem Tode gehaltenen Gedenkrede auf Puschkin ausgesprochen hat:

" Es hat noch keinen Dichter gegeben, der so wie Puschkin die ganze Welt in sich aufgenommen hätte. Doch nicht die Aufnahmefähigkeit im allgemeinen ist hier das Erstaunliche, sondern seine ganz unglaubliche Tiefe, das vollständige Sichhineinversetzen seines Geistes in den Geist fremder Völker, die fast vollkommene und deshalb so erstaunliche Verwandlung, eine Erscheinung, die sich bei keinem einzigen anderen Dichter wiederholt hat. In der Tat finden wir sie nur bei Puschkin und in diesem Sinne ist er eine noch nie dagewesene Erscheinung und unsrer Meinung nach eine prophetische, denn eben darin hat sich am stärksten seine nationale russische Kraft geäußert, das nationale Moment unsrer Zukunft, das in der Gegenwart noch nicht an den Tag getreten ist, und das sich hier zum erstenmal prophetische geäußert hat. Denn wo läge sonst die Kraft des russischen Volksgeistes, wenn nicht in seinem Streben zur Universalität und nach Allmenschlichkeit? Denn was bedeutet für uns die Reform Peters des Großen? Sie war nicht nur eine äußerliche Aneignung europäischer Kleider, Sitten, Erfindungen und der europäischen Wissenschaft... Da setzte dann mit einem Mal dieses Streben ein: zur lebendigen Wiedervereinigung der Menschen, zu einer, sagen wir, universalen Einigung! Nicht feindlich, sondern freundschaftlich, mit ganzer Liebe nahmen wir das Genie, den Schöpfergeist der fremden Völker in unsre Seele auf, aller Völker, so viel es ihrer nur gab, ohne Unterschiede zu machen und die einen den andern vorzuziehen, da unser Instinkt fast schon vom ersten Schritte an die Widersprüche zu unterscheiden, Fremde einzuschätzen und die Unterschiede zu entschuldigen verstand: allein damit haben wir unsre Fähigkeit und Neigung (die uns selbst noch neu und unbewußt waren) zur Wiedervereinigung aller Völker der großen arischen Rasse bezeugt. Ja, die Bestimmung des russischen Menschen ist unstreitig eine universale. Ein echter, ein ganzer Russe werden, heißt vielleicht nur (d.h. letzten Endes) ein Bruder aller Menschen werden, ein Allmensch, wenn Sie wollen. Oh, unsre ganze Spaltung in Slawophilen und Westler ist ja nichts als ein einziges großes Mißverständnis, wenn auch ein historisch notwendiges. Einem echten Russen ist Europas Geschick... ebenso teuer wie Rußland selbst, wie das Geschick des eigenen Landes, weil eben unsre Bestimmung die Verkörperung der Einheitsidee auf Erden ist, und zwar nicht einer durch das Schwert errungenen, sondern durch die Macht der brüderlichen Liebe und unsres brüderlichen Strebens zur Wiedervereinigung der Menschheit verwirklichten Einheit... Ein echter Russe sein bedeutet nichts anderes als sich bemühen, die europäischen Widersprüche in sich endgültig zu versöhnen, der europäischen Sehnsucht in der russischen allmenschlichen und allvereinenden Seele (S249) den Ausweg zu zeigen, in dieser Seele sie alle in brüderlicher Liebe aufzunehmen und so vielleicht das letzte Wort der großen, allgemeinen Harmonie, des brüderlichen Einvernehmens aller Völker nach dem evangelischen Gesetz Christi auszusprechen."

   In reinster und edelster Form aber, von allen Schlacken des Nationalismus gereinigt, lebt und stellt sich dieses russische "Allmenschentum" dar in Solovjeff und seinen auf die geschichtlichen Aufgaben Rußlands bezüglichen Schriften (s.W.Solovjeff: Nationale und politische Betrachtungen. Ausgewählte Werke, Bd.4, aus dem Russischen von Harry Köhler, Stuttgart 1922). In "Rußlands geistige Bestimmung" charakterisiert auch er diese in der Weise, daß "das russische Volk ein christliches Volk" sei, und "will man die wahre russische Idee kennenlernen, so darf man nicht fragen, was Rußland durch sich allein und für sich selbst tun wird, sondern was es im Namen des christlichen Prinzips, das es erkannt hat, und für das Wohl des Weltchristentums, dem es pflichtgemäß angehört, tun muß. Es muß, um seine Aufgabe wirklich zu erfüllen, sich dem gemeinsamen christlichen Leben der Welt mit Leib und Seele ergeben und alle seine nationalen Kräfte darauf verwenden, die vollkommene und weltumfassende Einigkeit des Menschengeschlechts im Verein mit allen andern Völkern zu verwirklichen, diese Einigkeit, deren unverrückbare Grundlage in der Kirche Christi gegeben ist." Als erste Voraussetzung hierfür bezeichnet er aber das vollständige Opfer des nationalen Egoismus in jeglicher Gestalt, in welcher dieser auftreten mag. Und viel konkreter als Dostojewski schildert er den geschichtlichen End- und Vollendungszustand der Menschheit, auf den auch sein Blick gerichtet ist, und zu dem beizutragen er als die Aufgabe Rußlands betrachtet, als eine solche die Gesamtmenschheit umfassende Organisation ihres Lebens in drei voneinander unabhängige Sphären der Weltkirche, des Staates, der Gesellschaft, durch welche die göttliche Trinität innerhalb der Menschheit zur Darstellung kommen soll.

   Damit kommen wir auf den andern Grundzug des russischen Wesens, die Hinorientierung seines ganzen Lebens und Denkens auf einen geschichtlichen Endzustand. "Das ursprüngliche russische Denken" - so schreibt N.Berdjajew in seinem schon erwähnten Buche - "ist dem eschatologischen Probleme des Endes zugewandt, es ist apokalyptisch gefärbt. Hierin besteht sein Unterschied gegenüber dem Denken des Westens" (S19). Und W.Schubart kennzeichnet in seinem Buche "Europa und die Seele des Ostens" (1938) die russische Kultur als eine solche des "Endes" gegenüber der westeuropäischen als einer solchen der "Mitte". "In der Mittelkultur wird die Religion politisch, in der Endkultur wird die Politik religiös. Die heilige Allianz Alexander I. beweist es. Wo ist in der neueren Geschichte Europas ein politisches Mächtesystem mit einem Namen belegt worden, der dem religiösen Sprachgebrauch entliehen ist, und wo hätte dieser Ausdruck gepaßt? Eine halbreligiöse Institution war die russische Monarchie. Die Zaren waren zugleich (S250) oberste Priester und Stellvertreter Christi. Ihre Krönung hatte den Charakter eines Sakraments. Ein sakraler Hauch liegt selbst über den russischen Revolutionen. Ihre Umzüge sind entartete Prozessionen. In der ersten großen politischen Demonstration unter dem Priester Gapon am 22. Januar 1905 wurden Heiligenbilder mitgeführt. Ist das jemals in Europa geschehen? Wird es jemals geschehen? - Auch die russische Zerstörungslust, die sich während der  Revolution in wilden Wirbeln ergoß, entquillt der Sehnsucht nach dem Ende. Bolschewisten sind echte Menschen der Endkultur, wenn auch entartete. Ohne die rücksichtslose Verachtung alles Bestehenden hätte es nicht zu ihren tollkühnen, blutigen Experimenten kommen können, und um das Bestehende so rücksichtslos zu verachten, muß man außerhalb der Erde verwurzelt sein. Der Russe zerstört aus purer Freude am Untergang. Er zerstört auch die eigene Habe, wenn es sein muß, und mitunter auch, wenn es nicht sein muß, und auch das erfüllt ihn mit Lust. Ohne den Zug zum Ende hätten die Russen nicht Moskau (1812) angezündet... Es ist wahr, was Berdjajew sagt: Die Lust an der Selbstverbrennung ist eine russische Nationaleigenschaft... Dem Russen wird es wohl, wenn er zugrundegehen sieht, sich selbst mit eingeschlossen. Untergänge erinnern ihn an das Ende aller Dinge (S87ff).

   Was nun den äußeren Verlauf der beiden letzten Epochen der geschichtlichen Phase betrifft, so sei hier nur noch darauf hingewiesen, daß - gemäß der symmetrischen Struktur der Zeit, die weiter oben begründet wurde, deren Ausprägung in der Folge der geschichtlichen Perioden aber erst im zweiten Bande eine eingehendere Darstellung finden wird - in ihnen wiederum, allerdings in veränderter Art, zu einem Faktor von wesentlicher Bedeutung aufsteigen wird, was sich im Fernen Osten als Überbleibsel aus den beiden ersten Epochen trotz seines starren Konservativismus in so erstaunlicher Verjüngungsfähigkeit erhalten hat. Was dies zur Folge haben wird, darüber seien Worte Rudolf Steiners angeführt, die den Abschluß dieses Kapitels bilden sollen:


   "Wenn wir das europäisch-amerikanische Wesen und das asiatische Wesen anschauen - sehen wir zunächst ganz ab von Wertigkeiten -, den Unterschied müssen wir ins Auge fassen: wie sollte den Menschen nicht auffallen, daß die asiatischen Völker zurückbehalten haben gewisse Kulturimpulse vergangener Erdepochen, während die europäisch-amerikanischen Völker über diese hinweggeschritten sind! Nur wenn man in einem nicht ganz gesunden Seelenleben befangen ist, kann einem dasjenige besonders imponieren, wals als orientalische Mystik die Menschheit aus alten Zeiten bewahrt hat, wo die Menschen es notwendig hatten, mit niederen Seherkräften zu leben. Solch ungesundes Geistesleben hat vielfach Europa allerdings ergriffen; man hat geglaubt, lernen zu müssen den Weg in die geistigen Welten durch (S251) asiatisches Yogitum und ähnliches. Diese Tendenz beweist aber nichts anderes als ein ungesundes Seelenleben. Das gesunde Seelenleben muß sich aufbauen auf der Überführung der Erlebnisse der fünften nachatlantischen Kulturepoche in spirituelles Leben, in geistiges Erkennen, und nicht auf das Herauftragen von irgend etwas in der Menschheit, was ja ganz interessant ist sozusagen naturwissenschaftlich zu erkennen, aber nicht für die europäische Menschheit erneuert werden darf, ohne daß sie zurückfallen würde in Zeiten, die ihr nicht angemessen sind. Aber andere Zeiten werden kommen über die Erdenentwicklung. In diesen folgenden Zeiten, da werden veraltete Kräfte mit vorgeschrittenen Kräften wiederum sich verbinden müssen. Daher müssen sie an irgendeiner Stelle bleiben, um da zu sein, um sich verbinden zu können mit den vorgeschrittenen Kräften. Eine sechste wird auf die fünfte Kulturepoche folgen. Abstraktes Denken... kann gar nicht anders als das sechste Zeitalter höher zu schätzen als das fünfte, weil das sechste eben spätere Entwicklung ist. Wir sollten uns aber klar sein, daß es Zeiten des Aufgangs und Zeiten des Niedergangs gibt..., daß das sechste Zeitalter, welches folgt auf das fünfte in der nachatlantischen Zeit, dem Niedergang notwendig angehören muß, und daß dasjenige, was sich in der fünften Kulturepoche herausentwickelt, der Keim sein muß für die der siebenten Kulturepoche erst wiederum folgende Erdenzeit...

   Und was ist das Charakteristische, das sich in dieser fünften Kulturepoche herausentwickeln muß? Das ist das Charakteristische, was vorzugsweise durch das Mysterium von Golgatha angefacht worden ist: daß die spirituellen Impulse hinuntergeführt worden sind bis ins unmittelbar Physisch-Menschliche, daß gewissermaßen das Fleisch von dem Geiste ergriffen werden muß... Und dieses Hinuntertragen, dieses Durchimprägnieren des Fleisches mit dem Geiste, das ist das Charakteristische der Mission der weißen Menschheit. Die Menschen haben ihre weiße Hautfarbe aus dem Grunde, weil der Geist in der Haut dann wirkt, wenn er auf den physischen Plan heruntersteigen will. Daß dasjenige, was äußerer, physischer Leib ist, Gehäuse wird für den Geist, das ist die Aufgabe unsrer fünften Kulturepoche, die vorbereitet worden ist durch die anderen vier Kulturepochen. Und unsere Aufgabe muß es sein, mit denjenigen Kulturimpulsen uns bekannt zu machen, welche die Tendenz zeigen, den Geist einzuführen ins Fleisch, in die Alltäglichkeit. Wenn wir dies ganz erkennen, dann werden wir uns auch klar sein darüber, daß da, wo der Geist noch als Geist wirken will, wo er in gewisser Weise zurückbleiben soll in seiner Entwicklung..., daß da, wo er zurückbleibt, wo er einen dämonischen Charakter annimmt, das Fleisch nicht vollständig durchdringt - daß da atavistische Kräfte da sind, die den Geist nicht vollständig mit dem Fleisch in Einklang kommen lassen. (S252) In der sechsten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit wird die Aufgabe die sein, den Geist vor allen Dingen als etwas sozusagen mehr in der Umgebung Schwebendes zu erkennen, als unmittelbar in sich, - den Geist mehr in der elementaren Welt anzuerkennen, weil diese sechste Kulturepoche die Aufgabe hat, vorzubereiten die Erkenntnis des Geistes in der physischen Umgebung. Das kann nicht so ohne weiteres erreicht werden, wenn nicht alte atavistische Kräfte aufgespart werden, die den Geist in seinem rein elementarischen Leben anerkennen. Aber ohne die heftigsten Kämpfe gehen diese Dinge in der Welt nicht ab. Die weiße Menschheit ist noch auf dem Weg, immer tiefer und tiefer den Geist in das eigene Wesen aufzunehmen. Die gelbe Menschheit ist auf dem Wege, zu konservieren jene Zeitalter, in denen der Geist ferne gehalten wird vom Leibe, in denen der Geist gesucht wird bloß außerhalb der menschliche-physischen Organisation. Das aber muß dazu führen, daß der Übergang von der fünften Kulturepoche in die sechste sich nicht anders abspielen kann denn als ein heftiger Kampf der weißen Menschheit mit der farbigen Menschheit auf den mannigfaltigesten Gebieten. Und was diesen Kämpfen vorangeht, die sich abspielen werden zwischen der weißen und der farbigen Menschheit, das wird die Weltgeschichte beschäftigen bis zu der Austragung der großen Kämpfe zwischen der weißen und der farbigen Menschheit...

   Man möchte sagen: 'naturhistorisch' ist es im höchsten Grade interessant, zu beobachten, wie das Chinesentum seine Tao-, seine Konfuzius-Religion bewahrt hat, wie sich überhaupt die asiatischen Religionen die ältesten Formen bewahrt haben, die abstraktesten Formen, bei denen sich der theoretische Verstand so wohl fühlt, die aber Starrheit sind gegenüber dem persönlichen Erleben, - die das persönliche Erleben eben nicht zum Ringen kommen lassen, weil dieses persönliche Erleben aufbewahrt werden soll bis zu der Zeit, wo der Menschheitskultur das Errungene so einverleibt wird, daß es aufgenommen werden kann. In der fünften Kulturepoche muß ein Geistiges aus eigener Kraft errungen werden; in der sechsten werden die Menschen kommen und das Erarbeitete, das Errungene annehmen als ihre Anschauung, als ihr Erlebnis, aber als etwas, das sie nicht selbst errungen haben... Und das Vorspiel für jenes viel weitere Ringen ist dasjenige, das sich allmählich entwickeln muß als das Ringen zwischen germanischer und slawischer Welt. Man bedenke doch nur, daß die slawische Welt in gewissem Sinne ein Vorposten ist für dasjenige, was sechste Kulturepoche ist, ja daß in ihre der eigentliche Keim der sechsten Kulturepoche liegt. Man bedenke das nur recht in wahrem geisteswissenschaftlichem Sinne; dann wird man sich klar darüber sein, daß in diesem slawischen Elemente etwas Empfangendes liegen muß, etwas, was nichts mit diesem Ringen zu tun hat, was das eigene Ringen geradezu abweist... Die Ereignisse aber bilden sich heraus aus den ewigen Notwendigkeiten und laufen so ab, wie die ewigen (S253) Notwendigkeiten fließen. Sträuben mußte sich der Osten gegen dasjenige, was für ihn notwendig war und immer notwendiger wird: die Verbindung mit dem Westen und seiner Kultur. Denn im Grunde genommen konnte ihm vor seiner Reifung gar nicht das rechte Verständnis gegeben sein. Und ein äußerer Ausdruck ist der Konflikt zwischen dem, was man das Germanentum, und dem, was man das Slawentum nennt, - dasjenige, was sich im Grunde genommen erst vorbereitet und als eine lange Beunruhigung über dem europäischen Leben schweben wird... (Der Christus-Impuls als Träger der Vereinigung des Geistigen und Leiblichen. Zwei Vorträge, gehalten am 13. und 14. Februar 1915 in Stuttgart - GA174b)

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