Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

II. Erinnerung und Überlieferung

1. Die vorgeschichtliche Erinnerung


(S105)   Im Folgenden sei nochmals der Blick auf den Übergang von der vorgeschichtlichen zur geschichtlichen Entwicklung gerichtet, wie er im ersten Kapitel charakterisiert wurde. Wir hoben da das Auftreten von zwei Fähigkeiten hervor, welche die unmittelbarsten in die Augen fallenden des geschichtlichen Menschen sind. Es ist auf der einen Seite sein Erwachen zum vollbewußten Teilnehmen an den Geschehnissen, die mit ihm und durch ihn sich ereignen, - einem Teilnehmen, das ihm ermöglicht, das Wissen von diesen Geschehnissen, wenn sie vorübergegangen sind, in der Erinnerung zu bewahren. Wir wiesen darauf hin, wie die Geburt dieser Erinnerungsfähigkeit die Entstehung der Schrift zur Folge hat, welche dann zum vorzüglichsten Mittel wird, das ihrer Unterstützung und weiteren Ausbildung dient.

   Auf der andern Seite kennzeichnet sich der geschichtliche Mensch dadurch, daß er sich immerfort Lebensideale und Tätigkeitsziele vorsetzt, die er in seinem Handeln zu verwirklichen strebt. Dadurch ist sein geschichtliches Dasein nicht ein bloßes In-den-Tag-hinein-leben, sondern eine nach bestimmten Zukunftsidealen ausgerichtete Lebensgestaltung.

   Im weiteren soll nun speziell die erstere dieser beiden Grundeigenschaften des geschichtlichen Menschen: die erinnernde Bewahrung seines Wissens von der Vergangenheit einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Sie findet, wie schon erwähnt, ihren hauptsächlichsten Niederschlag in dem, was man Geschichtsaufzeichnung in irgendeiner Form nennen kann: von der einfachsten Inschrift über die schlichte Chronik bis zur literarisch vollendeten Geschichtsschreibung. Im weitesten Sinne aber kommt sie zum Ausdruck in all dem, was geschichtliche Überlieferung überhaupt ist. Man pflegt deren Inhalt denn auch gemeinhin als die geschichtliche Erinnerung der Menschheit zu bezeichnen.

   Wir werfen hier nun die Frage auf, ob diese Bezeichnung eigentlich eine zutreffende ist. Und wir beantworten diese Frage sogleich mit der Behauptung, daß sie nur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus als eine zutreffende gelten kann, von einem andern Aspekt aus betrachtet aber als eine (S106) irreführende erscheinen muß. Die primäre Absicht aller Geschichtsdarstellung - und zwar gilt dies in um so höherem Grad, zu je entwickelteren Formen sie fortschreitet - geht nämlich nicht dahin, nur gerade ein "Erinnerungsbild" einer Persönlichkeit oder eines Ereignisses der Vergangenheit zu zeichnen, sondern zielt immer darauf hin, die betreffende Erscheinung in irgendeinem Sinne zu deuten, zu beurteilen, zu bewerten. Es handelt sich also primär stets um eine erkenntnismäßige Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Vergangenheit. Dabei entsteht natürlich immer auch ein bestimmtes "Erinnerungsbild" derselben; aber dieses hat nur die Bedeutung einer sekundären, einer Begleiterscheinung. Ginge es weiter um nichts als nur darum, ein "Erinnerungsbild" zu entwerfen, so könnte man gegenüber irgendeiner Persönlichkeit oder Ereignisfolge der Vergangenheit sich damit begnügen, alle Dokumente (Quellen) zu sammeln und zusammenzustellen, die uns von verschiedenen Seiten her ein solches "Bild" derselben vermitteln. Bekanntlich bleibt es aber nicht dabei, vielmehr entstehen selbst von solchen geschichtlichen Erscheinungen, hinsichtlich deren die Sammlung der Quellen längst abgeschlossen ist und kaum mehr eine Vermehrung derselben erhofft werden kann, auf Grundlage desselben Dokumentationsmaterials von Generation zu Generation immer wieder neue Darstellungen, die ganz verschiedene, oft sogar einander widersprechende "Bilder" derselben malen. Auch wenn man nicht so weit geht wie Th.Lessing, der in seinem Buche "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" grundsätzlich alle Geschichtsdarstellung als ein nachträgliches Hineindeuten eines Sinnes in ein an sich selbst völlig Sinnloses zu entlarven versuchte, - wenn man vielmehr voraussetzt, daß geschichtliche Ereignisse an sich in einem sinnvollen Zusammenhange miteinander stehen, so wird man doch nicht bestreiten können, daß alle geschichtliche Darstellung darauf ausgeht, diesen Sinn derselben zu entdecken und zu enthüllen. Diesen Erkenntnischarakter aller Geschichtsdarstellung betont auch J.Huizinga in seinen "Wegen der Kulturgeschichte" (über eine Definition des Begriffs Geschichte, S78ff): "In der Regel stellt man sich vor, die Geschichte streben danach, die Erzählung der Vergangenheit zu geben... In Wirklichkeit gibt sie nicht mehr als eine gewisse Vorstellung einer gewissen Vergangenheit, ein verständliches Bild eines Stückes Vergangenheit... Erst in der Frage nach bestimmten Zusammenhängen, deren Wesen durch den Wert bestimmt ist, den man ihnen zuerkennt, entsteht das Bild der Geschichte... Geschichte ist der Vergangenheit gegenüber immer eine Formgebung und kann nicht prätendieren, mehr zu sein. Es ist immer ein Erfassen und Deuten eines Sinnes, den man in der Vergangenheit sucht... Man kann die Geschehnisse, die man in ihrem Zusammenhang erklären will, auffassen unter den Gegensätzen Tugend und Sünde, Weisheit und Torheit, Freund und Feind, Macht und Recht, Ordnung und Freiheit, Interesse und (S107) Idee, Wille und Bedingtheit, Persönlichkeit und Masse, und jeweils wird sich eine andre Gestaltung der Geschichte, die man beschreibt, ergeben. Jeder gibt sich von der Vergangenheit Rechenschaft nach den Maßstäben, auf die ihn seine Bildung und seine Weltanschauung hinweisen.

   Wenn wir uns dieses Erkenntnischarakters geschichtlicher Darstellung nicht immer voll bewußt sind, so liegt der Grund dafür darin, daß er durch den Umstand bis zu einem gewissen Grade verdeckt wird, daß wir gegenüber der geschichtlichen Vergangenheit, weil sie ja der unmittelbaren Anschauung nicht gegeben sein kann, immer genötigt sind, zugleich ein Bild von dem zu malen, das wir zu deuten unternehmen. Diese Notwendigkeit entfällt gegenüber der Natur, wo wir den Leser entweder auf seine eigene Beobachtung verweisen oder den behandelten Gegenstand durch zeichnerische oder photographische Nachbildung vor seine Anschauung bringen können. Daher tritt die erkenntnismäßige Auseinandersetzung mit der Natur in der Naturwissenschaft deutlicher als solche in Erscheinung als diejenige mit der Geschichte in der Geschichtsdarstellung, weil sie in den von dieser gemalten "Bildern" der Vergangenheit schon drinnensteckt.

   In der Tatsache jedoch, daß es sich auch in der Geschichte primär immer um Erkenntnisentwicklung d.h. um Begriffs- und Urteilsbildung handelt, kommt im Grunde nur der andre Tatbestand zum Ausdruck, auf den wir bereits im ersten Kapitel hingewiesen haben, daß wir uns überhaupt nur an diejenigen Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen erinnern können, denen gegenüber wir wenigstens einen Schritt weit zur erkenntnismäßigen Erfassung vordringen. "Erinnern" können wir uns nur an Erlebnisse, die wir zu Vorstellungen "verinnerlicht" haben. Jeder Vorstellungsbildung liegt aber von innen her in anfänglichstem oder entwickelterem Maße eine Begriffsbildung zugrunde. So ist die Erinnerungsfähigkeit die Begleiterscheinung der Erkenntnisfähigkeit. Und so entsteht geschichtliche Erinnerung ursprünglich immer aus der erkenntnismäßigen Auseinandersetzung mit geschichtlich Erlebtem und Erfahrenen; und wo die Ereignisse bereits so lange vergangen sind, daß wir uns selbst nicht mehr an sie erinnern können, sondern nurmehr die Erinnerungen andrer an sie zur Verfügung haben, da entzündet sich an diesen wieder von neuem unsre Erkenntnistätigkeit und formt aus ihnen wieder neue Bilder, die nun für eine nächst Generation wieder "die" geschichtliche "Erinnerung" an die betreffenden Ereignisse bedeuten.

   Wenn nun auch die Gesichtspunkte, von denen aus die Vergangenheit beurteilt und dargestellt wird, im einzelnen Fall die verschiedensten sein können und - wie Huizinga im oben wiedergegebenen Zitat meint - jeweils von der Bildung und Weltanschauung des betreffenden Geschichtsdarstellers bestimmt sind, so weist namentlich das zweite Wort darauf hin, daß sie zutiefst bestimmt werden durch das, was unsre Zukunftsideale sind. Denn die Bedeutung (S108) einer "Weltanschauung" liegt entscheidend in dem, was sie uns an Orientierungen, an Zielsetzungen für unser Handeln, für unser Verhalten vermittelt. Der Inbegriff dessen, war wir für gut, für richtig, für wünschens- oder erstrebenswert, ja für unsre höchste Daseinsbestimmung halten, bestimmt die Art und Weise, wie wir die Vergangenheit beurteilen. Wir betrachten diese gewissermaßen immer durch die Brille unsrer Zukunftsideale. Man sieht dies sowohl im wissenschaftlichen Leben, wie man es auch im praktisch-politischen erfahren kann. In der politischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts z.B. wechselte die Beurteilung der weltgeschichtlichen Vergangenheit im selben Maße, als mit dem Übergang von der ersten zur zweiten Hälfte desselben als politisches Ideal an die Stelle des "Nachtwächterstaates" des bürgerlichen Liberalismus der festgefügte, zentralisierte Nationalstaat trat. Und in den verschiedenen Ländern Mitteleuropas konnte man es in den letzten Jahrzehnten des öfteren erleben, daß mit dem Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit oder des Regierungssystems jedesmal vor allem die Lehrbücher der Geschichte an den Schulen ausgewechselt wurden, und die Lehrer sozusagen von einem Tag auf den andern - je nach den nationalen, politischen oder sozialen "Idealen", welche danach galten, die Weltgeschichte mit den entgegengesetzten Urteilsvorzeichen darzustellen hatten, als es ihnen bis dahin "befohlen" war. Ähnliche Beobachtungen mögen es gewesen sein, die schon Voltaire zu dem Ausspruche veranlaßten, die Geschichte sei eine "fable convenue", - eine Legende, die gemäß den jeweilig herrschenden Auffassungen erfunden sei.

   Dieses Bestimmtsein unsrer Vergangenheitsbeurteilung durch unsre Zukunftsideale - sei es in gemäßigtem oder in extremem Grade - weist jedenfalls auf das Eine hin, daß wir als das primäre, die Geschichte in erster Linie bestimmende Kräfte-Element das auf bestimmte Zukunftsziele ausgerichtete menschliche Wollen und Handeln zu betrachten haben, demgegenüber das Element der geschichtlichen Erinnerung, der Überlieferung, der Tradition die sekundäre Rolle spielt. Dieses Verhältnis bringt schon der griechische Mythus von Prometheus und Epimetheus zum Ausdruck. Der letztere der beiden Brüder, der "Nach-Denkende", repräsentiert das Element der geschichtlichen Erinnerung und Überlieferung; der erstere, der "Vor-denkende", dasjenige des zielesetzenden Wollens und planenden Handelns. Er ist daher der eigentlich Vertreter der durch die Geschichte schreitenden Menschheit. Wenn er auch an den Kaukasusfelsen (des irdisch-materiellen Daseins) geschmiedet ist, erwächst ihm die Kraft, in seinem Leiden auszuharren, aus dem Wissen um seine künftige Befreiung bzw. endliche Erlösung von dieser Fesselung. Wir werden später allerdings noch genauer sehen, daß diese Prädominanz der planend-wollenden Betätigung über die überliefernd-bewahrende nicht für alle Epochen der Geschichte in gleichmäßiger Art behauptet werden kann, sondern (S109) daß sie in um so höherem Grade gilt, je weiter wir von früheren zu späteren Zeitaltern derselben übergehen. Dennoch aber darf in diesem sich steigernden Primat des Wollens vor dem Erkennen, des Strebens nach Zukunftszielen vor dem erinnernden Bewahren der Vergangenheit die Wurzel jener Grundeigenschaft gesehen werden, durch welche die Geschichte sich von der Vorgeschichte - wie schon früher erwähnt - unterscheidet: daß nämlich in ihrem Verlaufe die menschlichen Lebens- und Kulturverhältnisse in raschem zeitlichem Wechsel immer wieder neue, vorher noch niemals dagewesene Gestaltungen annehmen. Denn kaum ist ein Ziel erreicht, ein Ideal verwirklicht, so tauchen schon wieder neue auf, denen sich das menschliche Streben zuwendet.

   Kehren wir aber zu unserm Hauptproblem zurück! Daß wir es in der Geschichtsschreibung nicht geradezu mit dem Sich-darleben einer "geschichtlichen Erinnerung" zu tun haben, darauf können auch Tatsachen ganz andrer Art hindeuten. Wir führen hier einige an, die sich zwar nur auf Spezielles zu beziehen scheinen, an denen aber doch ein Allgemeineres abgelesen werden kann. Von den Homerischen Gedichten wird bekanntlich erzählt, daß sie erst unter der Herrschaft des Peisistratos in Athen aufgezeichnet worden seien, nachdem sie bis dahin nur mündlich durch wandernde Rhapsoden von Generation zu Generation fortgepflanzt worden waren. Von der nordischen Edda wird uns berichtet, daß die Lieder der sogenannten älteren oder Saemundar-Edda durch den isländischen Bischof Saemundar, der von 1056 bis 1133 lebte, gesammelt und aufgeschrieben worden seien, während dagegen als der Verfasser der jüngeren, der Prosa-Edda (die teils eine Wiedergabe, teils eine Ergänzung der Lieder-Edda enthält), Snorri Sturlason gilt, der von 1178 bis 1224 auf Island gelebt hat. Sowohl die prosaische Form, in welcher in der jüngeren Edda die Götter- und Heldensagen erzählt werden, wie auch der vielfach bruchstückhafte Charakter, den die Lieder der älteren Edda aufweisen, deuten darauf hin, daß schon in den Zeiten ihrer Aufzeichnung die aus einer viel früheren Zeit stammenden Lieder nicht mehr vollständig durch mündliche Überlieferung sich erhalten hatten.

   Von den durch die Brüder Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen sind eine große Anzahl durch sie zum erstenmal aufgezeichnet worden, nachdem sie bis dahin nur mündlich überliefert und ihnen zuletzt von einfachen Leuten aus dem Volke erzählt worden waren.

   Die "Kalewala" endlich, das finnische Nationalepos, wurde von dem Arzte Elias Lönnrot in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgezeichnet und zusammengestellt, nachdem er auf vielen Fahrten dessen einzelne Lieder (Runen) gesammelt hatte, die bis dahin nur mündlich durch viele Jahrhunderte von finnischen Volkssängern, den Laulajat, fortgepflanzt worden waren. Der bedeutendste unter denjenigen derselben, die für Lönnrot die Lieder sangen, ein damals 80jähriger Greis "führte all sein Wissen auf seinen (S110) Vater zurück, den 'großen Jiwana', der ein weit größerer Sänger gewesen sei als er. Er erzählte Lönnrot, wie er als Kind den Vater zum abendlichen Fischfang begleitete und wie da Jiwana Hand in Hand mit einem Gefährten beim Reisigfeuer Nächte durchsang, ohne eine Rune zu wiederholen. 'Ich war damals ein kleiner Knabe und lauschte, so erlernte ich die wichtigsten Lieder. Aber viele davon habe ich schon vergessen. Keiner meiner Söhne wird nach meinem Tode in solcher Art ein Sänger bleiben, wie ich nach meinem Vater. Man kümmert sich nicht mehr so sehr um den alten Gesang wie in meiner Kindheit, als er das Größte war sowohl bei der Arbeit wie auch, wenn man sich zur Mußezeit im Dorfe versammelte. Wohl hört man noch den und jenen bei Zusammenkünften singen, sonderlich wenn sie etwas zu trinken bekommen haben, aber selten ein Lied, das einigen Wert hätte. Statt dessen singen die Jungen nur ihre eigenen unanständigen Weisen, mit denen ich meine Lippen nicht beflecken möchte. Ach, wenn jemand in jener Zeit, so wie Ihr nun, Lieder gesucht hätte, er wäre nicht in zwei Wochen damit fertig geworden, die allein niederzuschreiben, die mein Vater wußte'." (Martin Buber: Einführung zur Kalewala-Ausgabe im Verlag Lambert Schneider, Berlin).

   Bei all den hier erwähnten Beispielen haben wir es mit Aufzeichnungen von mythologisch-poetischen Schöpfungen zu tun, welche vor ihrer Fixierung durch die Schrift jahrhundertelang nur mündlich überliefert worden waren. Alle diese Aufzeichnungen sind zu Zeitpunkten erfolgt, wo die Fähigkeit der mündlichen Überlieferung innerhalb der betreffenden Volkskulturen offensichtlich zu Ende ging. Und sie sind zweifellos zu dem Zwecke erfolgt, um die geistigen Schätze, die dadurch der Vergessenheit anheimzufallen drohten, vor diesem Schicksal zu bewahren und der Nachwelt zu erhalten. Sie weisen alle darauf hin, daß in älteren Zeiten allüberall eine hohe Fähigkeit des Gedächtnisses vorhanden war, die im Laufe der Geschichte immer mehr dahingeschwunden ist. Und durch die geschichtlichen Zusammenhänge, in denen sie auftreten, wird zugleich deutlich erkennbar, was den Verlust dieser ehemaligen Gedächtniskraft bewirkt. Es ist gerade der Fortschritt der denkerisch-intellektuellen Kultur. Sie hat im alten Griechenland mit der Geburt der Philosophie schon zu den Zeiten des Peisistratos eingesetzt, sie wurde dann zugleich mit der Verbreitung des Christentums (in seiner romanisierten Form) zu den Germanen gebracht, und sie hat endlich in den letzten Jahrhunderten mit der Verbreitung der allgemeinen Volksschulbildung und der fast völligen Überwindung des Analphabetismus in Europa sich bis zu den untersten Volksschichten und zu den äußersten Rändern des Kontinents hin durchgesetzt. Gerade aber die mit dem Lesen- und Schreibenkönnen verbundene Verintellektualisierung des Vorstellungslebens ist es besonders gewesen, die die ehemalige Gedächtnisfähigkeit zum Erlöschen gebracht hat, die (S111) im 19. und selbst noch im 20. Jahrhundert (etwa in Serbien) noch auf rein mündlichem Wege überlieferte Heldenlieder zu singen vermochten, waren fast ausnahmslos Analpheten.

   Diese Tatsachen könnten darauf hindeuten, daß vielleicht mit der intellektuellen Entwicklung überhaupt zwar nicht das Gedächtnis schlechthin, aber eine bestimmte Art und ein bestimmtes Maß desselben sich verliert, und sie könnten damit zur Schlußfolgerung veranlassen, daß, je weiter wir in der Geschichte d.h. hinter die mit ihr fortschreitende intellektuelle Entwicklung zurückgehen, wir das Vorhandensein einer um so größeren Gedächtniskraft anzunehmen hätten. Und für die Entstehung der Schrift ergäbe sich dann eine Deutung, die das vollkommene Gegenteil derjenigen darstellte, die wir im ersten Kapitel gegeben hatten. Nicht nämlich erschiene dann die Erfindung und Verwendung der Schrift als der Ausdruck der entstehenden Erinnerungsfähigkeit, sondern im Gegenteil als Ersatz einer vergehenden, einer hinschwindenden Gedächtniskraft, - und es wäre dabei der Menschheit ebenso ergangen, wie es uns einzelnen zu ergehen pflegt: Wenn wir, zum höheren Alter aufrückend, das Nachlassen unsrer Gedächtniskraft verspüren, müssen wir in fortschreitendem Maße unserm Notizbuch anvertrauen, was wir nicht mehr im Kopfe behalten können.

   Daß jedenfalls in derjenigen geschichtlichen Epoche, in welcher der Gebrauch der Schrift und die Aufzeichnung der geschichtlichen Vergangenheit zur vollen Entwicklung gekommen ist, die Menschheit über die Fähigkeit einer natürlichen geschichtlichen d.h. über das bloße Persönliche hinausgehenden, auf das Menschheitsleben bezüglichen Erinnerung nicht - oder nicht mehr - verfügt, das beweist der Umstand, daß alles Wissen von geschichtlichen Ereignissen, das in dieser Zeit nicht durch die Schrift fixiert wird und erhalten bleibt, nach verhältnismäßig kurzer Zeit in die absolute Vergessenheit versinkt. Nun wird ja aber nicht schlechthin alles, was in geschichtlicher Zeit geschieht, aufgezeichnet. Und von dem, was einmal aufgezeichnet wurde, geht im Lauf der Zeiten vieles durch Unglücksfälle, durch Natur- und Zivilisationskatastrophen verloren oder zugrunde. Man denke z.B. an die Zerstörung der berühmten Bibliothek von Alexandria, der größten der damaligen Zeit, anläßlich der Belagerung der Stadt durch Cäsar (47vC), bzw. durch den Fanatismus der Christen im Kampf gegen das untergehende Heidentum im Jahre 391. Oder an die Tatsache, daß von den 142 Büchern, in denen Livius die Geschichte Roms darstellte, nur 35 erhalten geblieben sind. Von den 70 Tragödien, die Aeschylus verfaßt haben soll, sind nur 7 auf uns gekommen. Von den gegen 100 Schriften, die dem arabischen Philosophen Avicenna zugeschrieben werden, sind uns keine zehn erhalten geblieben. Diese paar willkürlich herausgegriffenen Beispiele könnten leicht auf das Hundertfache vermehrt werden. Schließlich wurden ja auch im Lauf der Geschichte (S112) immer wieder Literaturdenkmäler und historische Dokumente absichtlich vernichtet, um das Wissen von dem, was einmal da war oder geschah, auszulöschen. Eines der wirksamsten Beispiele in dieser Richtung bildet die fast vollständige Ausrottung der gnostischen Literatur der ersten christlichen Jahrhunderte von seiten der römischen Kirche.

   All dies aber hat zur Folge, daß unser geschichtliches Wissen, sofern es sich nur auf Schriftdenkmäler - ja man kann allgemeiner sagen: auf physische Dokumente - gründet, auf einem sehr fragwürdigen Boden steht. Dieses geschichtliche Wissen ist nicht nur in dem Sinne ein unvollständiges, wie auch unser Naturwissen ein stets unvollständiges ist, insofern nämlich der Umfang der beobachteten Tatsachen in jedem bestimmten Zeitpunkt ein begrenzter ist und mit dem Fortschritt der Zeit sich stets erweitert, - sondern außerdem noch in dem Sinne, daß eine Fülle von geschichtlichen Tatsachen und Erscheinungen ihm für immer verloren sind. Es ist grundsätzlich fragmentarisch und lückenhaft und muß stets die Möglichkeit offen lassen, daß die geschichtliche Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, schon der reinen Faktizität nach ganz anders geartet war, als sie auf dem von ihm gemalten Bilde erscheint.

   Die hiermit berührte Problematik unsres geschichtlichen Wissens und Forschens, die an späteren Stellen noch von andern Gesichtspunkten aus beleuchtet werden wird, soll an dieser Stelle nur das Eine belegen, daß die Fähigkeit, ihre Vergangenheit als solche unmittelbar durch sich selbst in der Erinnerung zu bewahren, der geschichtlichen Menschheit zweifellos nicht zugesprochen werden kann; und daß der Ersatz, den sie sich dafür in der schriftlichen Aufzeichnung derselben geschaffen hat, aus all den angeführten Gründen nur ein sehr mangelhafter ist. Nimmt man aber zu dieser Tatsache die andre hinzu, daß, je weiter wir zu den Anfängen der Geschichte zurückgehen, eine - wie die oben angeführten Beispiele von Aufzeichnungen beweisen - um so größere Fähigkeit uns entgegentritt, ohne das Hilfsmittel der Schrift ein Wissen vom Vergangenen durch lange Zeiten zu bewahren bzw. zu überliefern - wobei wir zunächst von der besondern Art des betreffenden "Wissens" absehen -, so kann man dadurch zur Vermutung gelangen, daß die vor- und frühgeschichtliche Menschheit sich von der geschichtlichen auch dadurch unterscheide, daß sie mit einer Fähigkeit der Erinnerung ausgestattet war, die der geschichtlichen verloren gegangen ist. Und es ergäbe sich daraus die Schlußfolgerung, daß, wenn sie ihre Vergangenheit noch nicht aufzeichnete und durch die Schrift das Wissen von derselben den nachfolgenden Generationen überlieferte, sie dies nicht aus einem Mangel an Erinnerungsfähigkeit heraus getan hat, sondern im Gegenteil, weil sie über eine Gedächtniskraft verfügte, welche dieses Hilfsmittels noch nicht bedurfte.

   Was so auf dem Wege der Schlußfolger als Annahme bezüglich der vorgeschichtlichen Menschheit sich aufdrängt, das erfährt nun eine volle Bestätigung (S113) durch die Ergebnisse, zu denen die anthroposophische Forschung Steiners auf ihrem Wege hierüber gelangte. In seiner Schrift "Unsre atlantischen Vorfahren" hat Steiner dargestellt, daß der Mensch der alten "Atlantis" - es war dies der einstmals im Gebiete des heutigen Atlantik gelegene, später versunkene Kontinent, welcher den hauptsächlichsten Schauplatz der vorgeschichtlichen Menschheitsentwicklung im Sinne unsrer Darstellung bildete - sich vom "nachatlantischen" d.h. geschichtlichen Menschen hauptsächlich dadurch unterschieden habe, daß er zwar noch nicht des abstrahierend-intellektuellen Denkens fähig war, dafür aber noch über eine fast grenzenlose Erinnerungskraft verfügte, - während dagegen dem geschichtlichen Menschen jene Fähigkeit der Begriffsbildung zugewachsen, dafür aber die einstige Gedächtniskraft verlorengegangen sei. Damit wären wir hinsichtlich der Erinnerungsfähigkeit und ihrer Beziehung zur vorgeschichtlichen und zur geschichtlichen Entwicklung nun zu einer genau entgegengesetzten Darstellung gelangt, als wir sie im ersten Kapitel gegeben haben. Und es stellt sich damit die Frage, wie sich dieser Widerspruch aufheben läßt.

   Die Antwort liegt darin, daß wir es mit zwei gänzlich verschiedenen und daher auch scharf auseinander zu haltenden Arten der Erinnerung zu tun haben, und daß mit dem Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte die eine derselben in die andre sich verwandelt. Indem wir im Folgenden diesen Unterschied und diesen Übergang ins Auge fassen, erweitert sich unser Bild vom Unterschied zwischen dem vorgeschichtlichen und dem geschichtlichen Menschen um einen neuen Aspekt.

   Von welcher Art die Erinnerung des vorgeschichtlich-atlantischen Menschen war, darauf kann uns hinweisen, was wir im zweiten Kapitel über die Entwicklung der Sprache auszuführen hatten, die ja auch dieser Epoche angehört. Wir sprachen dort davon, daß in der Bildung der Sprache die menschliche Geistigkeit noch nicht individuell differenziert, sondern noch naturhaft-gattungsmäßig d.h. in gewissem Sinne als eine kollektive gewirkt habe. Und es hätte die Sprache als das naturhaft-geistige Organ menschlicher Kommunikation, als das sie in andrer Weise zwar auch heute noch funktioniert, doch innerhalb einer geistig schon individuell differenzierten Menschengemeinschaft nicht entstehen können. Menschliche Individualitäten im heutigen Sinne - und das heißt, insofern diese im Elemente des Seelischen sich ausprägen, "Persönlichkeiten" - gab es also in der vorgeschichtlichen Zeit noch nicht. Sondern so, wie die menschliche Geistigkeit im Ganzen noch naturhaft-gattungsmäßig wirkte, so wirkte sie auch in der Betätigung des Gedächtnisses. Auch dieses hatte damals noch den Charakter eines Kollektiverlebnisses. Es handelt sich nun allerdings darum, genau zu fassen, was mit dieser Bezeichnung gemeint ist. Welches "Kollektiv" war der Träger dieses Gedächtnisses? Es kann kein andres gewesen sein als jenes, das auch der Träger der Sprach-(S114)bildung war. Es war die Menschheit als ganze, allerdings bereits in den verschiedenen Nuancierungen, welche sie in den Differenzierungen der Hautfarbe erfuhr, deren Ausbildung, wie schon erwähnt, ebenfalls in der vorgeschichtlichen Ära erfolgte. Bestimmte Erinnerungen an Tatsachen des Menschheitswerdens lebten, nach Gruppen der Hautfarbe verschieden nuancierte, in den verschiedenen Teilen der Menschheit durch Jahrhunderte und Jahrtausende fort, und zwar ohne äußere Hilfsmittel, als mit dem Blute selbst von Generation zu Generation sich fortpflanzende Erbschaften. So stellt es auch Steiner in der erwähnten Schrift dar, und in andern Zusammenhängen führt er aus, daß, wenn im Alten Testament von den Erzvätern die Rede ist, die in der Zeit vor der Sintflut gelebt haben: Seth, Enos, Lamech, Henoch, Methusalem, Noah (I.Mose5) usw. und diesen jeweils ein vielhundertjähriges Leben zugeschrieben wird, diese Gestalten ebensowenig wie Adam und Eva, Kain und Abek als einzelne Persönlichkeiten zu verstehen sind, sondern als sinnbildliche Repräsentanten für verscheidene Menschheitsströmungen und Entwicklungsepochen, und daß mit ihren Lebensaltern hingedeutet wird auf die Dauer, durch welche bestimmte Erinnerungsinhalte innerhalb bestimmter Generationslinien sich erhielten. Bekanntlich geben auch die sumerischen Königslisten für die Regierungsdauer der vor der Sintflut herrschenden "Urkönige" Zeiträume an, die jeweils sogar viele Jahrtausende umfassen. In diesem Zusammenhang darf auch auf die parallele Lehre hingewiesen werden, die wir im alten Indien finden, wonach im Lauf der aufeinanderfolgenden Weltalter die Dauer des menschlichen Lebens von 80 000 Jahren ständig weiter zurückgegangen sei bis auf 100 Jahre. Selbstverständlich ist auch da bei den großen Zahlen nicht ein einzelnes Leben im heutigen Sinne gemeint, sondern daß einstmals ein bestimmter Komplex von Erinnerungen in der Menschheit ebenso viele Jahrtausende hindurch bewahrt werden konnte, wie ein solcher heute die entsprechende Anzahl von Jahren innerhalb der einzelnen Persönlichkeit sich erhält.

   Bedeutet aber die "Kollektivität" des vorgeschichtlichen Gedächtnisses die Tatsache, daß bestimmte Erinnerungsinhalte einer ganzen Folge von Generationen und damit, in einem gegebenen Zeitpunkte, allen Gliedern eines größeren, blutsmäßigen oder volksmäßigen Zusammenhanges gemeinsam waren, so besagt sie zugleich auch das andre, daß in den Inhalt dieser Erinnerungen persönliche Erlebnisse einzelner Menschen überhaupt nicht eingingen, sondern nur Erlebnisse und Geschehnisse, die unmittelbar solche des betreffenden Generationen- bzw. Blutzusammenhanges selbst waren. Das Leben des einzelnen Menschen als solchen bedeutete im Allgemeinen noch so wenig, daß seine Erlebnisse in den Schatz der Kollektivererinnerung gar nicht aufgenommen wurden. Nur was den Blutszusammenhang als solchen betraf, wurde in dieser Erinnerung - auch wieder durch das Blut - bewahrt. Nun wurden (S115) zwar solche das Schicksal ganzer Blutszusammenhänge bestimmende oder umgestaltende Ereignisse in vorgeschichtlicher Zeit vielfach auch durch einzelne Menschen - Heroen - bewirkt, wie wir später noch genauer darstellen werden. Aber in die kollektive Erinnerung der betreffenden Blutsverbände gingen eben nich die nur persönlichen Erlebnisse ihrer Heroen ein, sondern lediglich das, was ihre Bedeutung für die zugehörige Gemeinschaft ausmachte. Diese Art des Kollektivgedächtnisses hat sich - die Gründe hierfür werden wir später ebenfalls noch genauer darlegen -, wenn auch immer mehr degenerierend, doch an bewissen Punkten noch sehr weit bis in die geschichtliche Phase hinein erhalten. M.Eliade, der - in den Bahnen der Jungschen Psychologie wandelnd - den betreffenden Phänomenen in seinem Buche "Der Mythus der ewigen Wiederkehr" eine Untersuchung gewidmet hat, faßt deren Ergebnisse dahin zusammen: "Der Charakter des Volksgedächtnisses ist a-historisch, das kollektive Gedächtnis ist nicht in der Lage, die historischen Ereignisse und Individualitäten festzuhalten, wenn es sie nicht in Archetypen verwandelt, also alle ihre 'historischen' und 'persönlichen' Besonderheiten aufhebt... Denn das archaische Bewußtsein gesteht den 'persönlichen' Erinnerungen keinerlei Bedeutung zu" (S73f).

   Genauer gefaßt, muß sogar gesagt werden, daß das kollektive Gedächtnis nicht bloß die persönlichen Elemente eines heroischen Lebens oder Wirkens abstreift, sondern vielfach auch den - meist mit jenen zusammenhängenden - äußerlich-physischen Tatsachenverlauf derselben und bloß ihre innere, wesenhafte Bedeutung festhält. Und zwar gilt auch dies in um so höherem Grade, je weiter wir in der Geschichte oder gar in der Vorgeschichte zurückgehen. Was nun aber diese innere Bedeutung betrifft, so wird sie - und damit kommen wir zu einem weiteren wesentlichen Merkmal dieses Kollektivgedächtnisses -, da ja in der Zeit seine Blüte das abstrahierende Denken noch nicht sich entwickelt hat, in sinnbildlicher Gestalt zum Ausdruck gebracht. Dies ist es, was auch M.Eliade meint, wenn er (an anderem Ort) sagt, daß das Kollektivgedächtnis Ereignisse in Kategorien und historische Gestalten in Archetypen verwandle. Nennen wir nur ein paar wenige Beispiele solcher Erinnerungen, die sich auf frühe, vorgeschichtliche, ja urzeitliche Tatsachen und Geschehnisse im Menschheitswerden beziehen, so brauchen wir ja zunächst nur nochmals an die ersten Kapitel der mosaischen Genesis zu erinnern. Nicht nur stehen, wie schon erwähnt, die "ersten Menschen" als symbolische Repräsentanten ältester Menschheitsverhältnisse und anfänglichster Menschheitsdifferenzierungen da, sondern auch Sündenfall und Austreibung aus dem Paradies, Kains Brudermord und die Verderbnis der vorsintflutlichen Geschlechter sind symbolische Bilder für Geschehnisse und Wandlungen der Ur- und Vorzeit, die durch sie ihrer innern Bedeutung nach gekennzeichnet werden. Dasselbe gilt von der Aufeinanderfolge der vier Zeitalter, wie sie von den Indern als (S116) das Kritayuga, das Tretayuga, das Dvaparayuga und das Kaliyuga beschrieben, von den Griechen (Hesiod) dagegen als das goldene, silberne, eherne und "mischeiserne" geschildert werden. Ja, selbst die Bilder von der Sintflut, wie sie sowohl im Alten Testament wie im Gilgamesch-Epos gemalt werden, beziehen sich weniger auf die physischen Naturkatastrophen, welche den äußern Aspekt dieser Ereignisse darstellen, als vielmehr auf die innere geistig-moralische Bedeutung, welche ihnen für die damalige Menschheit zukam. Und wenn, um ein letztes Beispiel zu nennen, die Ägypter erzählten, daß im Ursprunge einstmals Osiris in Verbindung mit seiner Schwester und Gattin Isis auf Erden geherrscht habe, dann aber durch Typhon getötet und sein Leichnam von diesem zuletzt in vierzehn Teile zerstückelt worden sei, so deuten auch diese Bilder auf innere Umwandlungsprozesse hin, die in demjenigen Teile der vor- und frühgeschichtlichen Menschheit sich abgespielt haben, aus dem später die ägyptische Kultur hervorgegangen ist.

   Wovon war aber bei all diesen Beispielen die Rede? Es ist nichts anderes als die Welt des Mythus, von dem wir ja schon im dritten Kapitel gezeigt haben, daß er der Zwillingsbruder der Sprache ist und neben dieser das wichtigste Erbe, da uns die Vorgeschichte hinterlassen hat. Damit schließt sich die gegenwärtige mit der dort gegebenen Darstellung zu einem Ganzen zusammen und kehr uns der Mythus zugleich eine neue Seite seiner Bedeutung zu. Wir können ihn von dem jetzt eingenommenen Gesichtspunkt aus auch als die Form bezeichnen, in welcher die vorgeschichtliche Menschheit die Erinnerung an ihre Vergangenheit, ja an die Anfänge des Menschendaseins überhaupt bewahrt hat. Hatten wir ihn im dritten Kapitel in der Weise gekennzeichnet, daß er in Bildform widerspiegelte, wie der damaligen Menschheit in einem einheitlichen sinnlich-geistigen Erleben sich noch die in der Natur gestaltend und formgebend wirkenden überphysischen Kräfte (die universalia in rebus) offenbarten, so können wir jetzt ergänzend hinzufügen, daß in seinen Bildern auch symbolisch sich für das menschliche Erleben enthüllte, was gestaltend und umgestaltend an geistigen Kräften, an ideellen Urbildern in der Menschheit selbst in Urzeit und Vorgeschichte gewaltet und gewirkt hat. Denn wir haben ja auch genugsam hervorgehoben, wie die Menschheit damals seelisch, ja anfänglich sogar auch leiblich mit der Welt noch eine Einheit bildete. Gerade indem wir die Identität der vorgeschichtlichen Kollektiverinnerung mit dem Mythus ins Auge fassen, wird ihr Kollektivcharakter vollends deutlich und verständlich; denn mit der Sprache hat ja der Mythus vor allem andern dies gemeinsam, daß er nicht die Erfindung Einzelner, sondern die Schöpfung des noch naturhaft wirkenden Allgemeingeistes und das Gemeineigentum von Völker bzw. Blutszusammenhängen ist. Andrerseits kann aus dieser Identität aber auch entnommen werden - was für die Bewertung des Mythus von grundsätzlicher und entscheidender Bedeutung ist -, daß, was durch seine (S117) Bilder symbolisch als Bedeutung der Geschehnisse sich ausspricht, auf die er sich bezieht, nicht durch das menschliche Denken erst in diese hineingelegt worden ist, sondern sich dem noch ungeschiedenen sinnlich-geistigen Erleben des damaligen Menschen ebenso "von außen" offenbarte, wie sich ihm im Anblicke der Natur die in dieser gestaltend wirkenden "Weltgedanken" offenbarten. Es handelt sich mit anderen Worten dabei nicht um subjektive Deutung, sondern sozusagen um die objektive "Weltbedeutung", die den betreffenden Geschehnissen innewohnte. In diesem Sinne verstanden, enthalten die mythischen Bilder tiefere Wahrheit, als sie einer bloßen Wiedergabe der äußeren Faktizität oder einer bloß spekulativen Interpretation derselben zukommt.

   Abschließend ist noch ein letztes, aber an Wichtigkeit keineswegs geringeres Moment dieser mythischen Kollektiverinnerung hervorzuheben. Dieses liegt darin, daß ihr Inhalt nicht "bloße" Erinnerung war, sondern noch eine lebengestaltende, lebenprägende Kraft besaß, die ein Gegenstück bildete zu der magischen Kraft, welche damals noch der Sprache innewohnte. Der vorgeschichtliche Mensch hatte nicht nur diese Art der Erinnerung, sie war zugleich auch die Quelle seiner Lebensgestaltung. Er war ja noch nicht eines abstrahierenden Denkens fähig, welches ihm ermögicht hätte, Zukunftsziele als allgemeine Ideale zu konzipieren. Und noch weniger hätte man von ihm behaupten können, daß er "durch die Brille dieser Zukunftsideale" die Vergangenheit betrachtet und entsprechend gedeutet hätte. Die Bedeutung, der Sinn der Vergangenheit offenbarte sich ihm vielmehr, wie vorhin schon angedeutet, noch unmittelbar aus dieser selbst heraus. Er lebte noch nicht - wie der geschichtliche Mensch - im Blick auf die Zukunft, sondern im Blick auf die Vergangenheit. Ja, er lebte recht eigentlich aus den wirkenden, im mythischen Sinnbilde gegenwärtigen Kräften der Vergangenheit heraus. Und damit wird nun hier die Grundeigenschaft verständlich, durch welche sich die Vorgeschichte von der Geschichte unterscheidet: daß sie nämlich bestimmte Kulturzustände und Lebensverhältnisse durch sehr lange Zeiten fast unverändert bewahrte. Auch diese Eigenschaft hat sich, namentlich in einzelnen Teilen der Welt, noch ein großes Stück weit in die geschichtliche Aera hinein erhalten. Man denke an den ungeheuren Konservativismus der altägyptischen Kultur oder an die Starrheit, mit der fast die ganze orientalische Menschheit bis in die neueste Zeit an uralten Einrichtungen und Lebensgewohnheiten festgehalten hat. Die Lebensmacht der mythischen Erinnerung bewirkte, daß die Kulturzustände der vor- und frühgeschichtlichen Menschheit die Tendenz hatten, sich in ihrer Urgestalt immer von neuem wiederherzustellen. Auch von diesem Tatbestand entwirft Eliade (an anderem Ort) an Hand eines reichen Materials, das er hierzu beibringt, ein eindrucksvolles Bild. Er zeigt, wie für den archaischen Menschen sein ganzes Lebensverhalten, insbesondere aber alle bedeutsamen Handlungen wie kriegerische Auseinandersetzungen, Eroberung (S118) und Inbesitznahme von Ländern, Inthronisierung von Herrschern, alle religiösen Kulte, Tänze und Orgien, Hochzeiten und Fruchtbarkeitsriten, Städtegründungen und Tempelbauten usw. Nachahmungen oder Wiederholungen von vor- oder urbildlichen mythischen oder kosmogonischen Geschehnissen und Taten bedeuteten. Im Zusammenhang mit vielen solcher Handlungen war bei zahlreichen älteren Völkern die rituelle Rezitation des Schöpfungsmythus gebräuchlich. "In den Einzelheiten seines bewußten Verhaltens kennt der 'Primitive', der archaische Mensch keine Handlung, die nicht von einem andern gesetzt oder vorgelebt worden wäre, von einem andern, der kein Mensch gewesen ist. Was er tut, ist schon getan worden. Sein Leben besteht in der ununterbrochenen Wiederholung von Handlungen, die von andern eingesetzt worden sind" (S14). "Nicht allein die rituellen Handlungen haben ihr mythisches Vorbild, sondern jeder beliebige menschliche Akt gewinnt seine Wirksamkeit in dem Maße, als er genau eine Handlung wiederholt, die am Anfang der Zeiten durch einen Gott, Heros oder Ahnen vollzogen worden ist" (S37). "Für die archaische Gesellschaft sind alle wichtigen Handlungen des täglichen Lebens ab origine von Göttern oder Menschen geoffenbart worden. Die Menschen tun nichts anderes, als unaufhörlich diese beispielhaften und vorbildlichen Akte wiederholen" (S53). Abweichungen von den ursprünglichen Verhältnissen wurden nicht als Fortschritt, sondern als Abfall, Entartung oder Verderbnis empfunden und mußten daher immer wieder beseitigt werden. Jede aus persönlicher Willkür erflossene Veränderung galt als "Sünde", als "Verfehlung" und mußte gebüßt und wiedergutgemacht werden. Mit dieser Auffassung hängt die bei vielen Völkern in rhythmischer Wiederkehr erfolgende Zeremonie einer allgemeinen Reinigung von Sünden, Austreibung von Dämonen und Krankheiten durch Opferung oder Ausstoßung von Menschen oder Tieren (Sündenböcken) zusammen, durch welche die ursprüngliche "Unschuld" wiedererlangt wird. Kurz: das Leben des vorgeschichtlichen Menschen ist durch die magische Kraft der mythischen Kollektiverinnerung ganz auf die Vergangenheit bezogen; es strebt danach, sich zur "ewigen Wiederkehr des Gleichen" zu gestalten.

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