Anthroposophie        =           Dreigliederung
Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt

Sechster interner Vortrag, Wien, 14. April 1914, Gesamtausgabe Nr. 153

Das Erleben der Seele von der Weltenmitternacht an: die überzeitliche Wirkung der Vergangenheit als geistige Außenwelt. Verwandlung von vergangenen Ereignissen und Taten in Fähigkeiten. Gesichtspunkte bei der Schaffung eines geistig-ätherischen Urbildes für das nächste Erdenleben. Der geistige Kräfteüberschuß durch das Wirken des Christus-Impulses.

.(S163) In diesem meinem letzten Vortrag möchte ich da fortfahren, wo wir gestern geendet haben. Geendet haben wir bei dem, was ich mir zu benennen erlaubte <<die große Weltenmitternachtsstunde des geistigen Daseins zwischen dem Tod und einer neuen Geburt>>, jene Mitternachtsstunde, wo das menschliche innere Erleben am intensivsten wird und das, was wir geistige Geselligkeit nennen können, das Zusammenhängen mit  der geistigen Außenwelt, den niedrigsten Grad erreicht hat, so daß in gewisser Beziehung während dieser Mitternachtsstunde des geistigen Daseins geistige Finsternis um uns ist. Aber gesagt worden ist, daß die Sehnsucht nach Außenwelt wiederum in uns wirkt, und daß diese Sehnsucht durch den Geist, der in geistigen Welten wirkt, aktiv wird, und daß diese Sehnsucht ein neues Seelenlicht aus uns erzeugt, so daß es uns möglich wird, jetzt eine Außenwelt von ganz besonderer Art zu erblicken. Diese Außenwelt, die wir dann erblicken, ist unsere eigene Vergangenheit, wie sie durch frühere Inkarnationen und die Zwischenzeiten zwischen den Toden und den neuen Geburten sich vollzogen hat, und die wir jetzt als eine äußere Welt überschauen, indem wir zurückblicken auf das, was wir aus dem Weltendasein gehabt haben genossen haben, und auf das, was wir diesem Weltendasein schuldig geblieben sind. Insbesondere tritt uns dann, wenn wir diesen Rückblick in unsere früheren Erlebnisse haben, zweierlei mit großer Intensität entgegen. Wir haben - das zeigt sich uns gleichsam durch ein geistiges Anschauen - dieses und jenes genossen, dieses und jenes ist uns beschert worden an Freude, an Lust des Daseins. Das alles können wir übersehen, was uns jemals geworden ist an Freude, an Lust des Daseins. Aber wir übersehen es so, daß es uns gleichsam in seinem spirituellen Wert erscheint, daß es uns in bezug darauf erscheint, was es aus uns gemacht hat.
   Nehmen wir einen konkreten Fall an. Wir blicken zurück auf etwas, was uns als Genuß, als Befriedigung in der verflossenen Zeit in irgendeinem unserer Daseinsleben zuteil geworden ist. Dann fühlen wir: (S164) Das ist nicht etwas Vergangenes, es ist zwar in der Zeit zurückliegend, daß du davon den Genuß hattest, aber es ist nicht etwas, was absolut vergangen ist. Es ist etwas, was seine Wirkung in alle Zeiten hinein fortsetzt, so fortsetzt, daß es darauf wartet, was wir daraus machen.
   Wenn wir eine Befriedigung, einen Genuß gehabt haben, so fühlen wir in uns - wir erleben es unmittelbar in unserem Seelensein bei diesem Zurückschauen -: Das muß eine Kraft in dir werden, eine Kraft deiner Seele, und diese Kraft deiner Seele, die kannst du in zweierlei Weise in dir wirken lassen. Jetzt in diesem geistigen Dasein nach der Weltenmitternacht, in dem du stehst, hast du diese zweifache Möglichkeit. Die geistige Welt gibt dir einfach Fähigkeiten, eine von diesen Möglichkeiten zur Wirklichkeit zu machen. Du kannst diesen vergangenen Genuß, diese vergangene Befriedigung, in dir umwandeln in eine Fähigkeit, so daß du eine gewisse Kraft in deiner Seele entwickelst durch den verflossenen Genuß, die dich zu diesem oder jenem befähigt, wodurch du irgend etwas in der Welt, sei es das Kleinste, sei es das Größte, schaffst, das einen Wert für die Welt hat. Das ist das eine. Das andere ist, daß wir uns sagen können: Nun, den Genuß habe ich gehabt, ich will mit meinem Genuß  zufrieden sein, ich will den Genuß in meine Seele hereinnehmen und will mich laben daran, daß ich in der Vergangenheit diesen Genuß gehabt habe. Wenn wir mit vielem, was wir genossen haben, was uns befriedigt hat, eine solche Möglichkeit herbeiführen, dann kommt es dazu, daß wir in unserem Inneren eine Kraft schaffen, an der wir nach und nach geistig degenerieren, ersticken. Und das gehört zu dem Wichtigsten, was wir lernen können in der geistigen Welt, daß wir auch durch den Genuß, durch das, wodurch wir befriedigt werden, Schuldner werden des Weltendaseins. Die Aussicht tritt vor unser geistiges Auge, zu ersticken in den Nachwirkungen der Befriedigungen, der Genüsse, wenn wir uns nicht im rechten Zeitpunkt entschließen, aus verflossenen Genüssen Fähigkeiten zu schaffen, die Wertvolles im Leben hervorbringen können. Sie sehen daraus wiederum, wie das Geistige und das, was auf dem physischen Plan geschieht, in Wechselwirkung steht.
   Wer sich, im Sinne des vorgestrigen Vortrags, immer mehr und (S165) mehr mit den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft durchdringt, bei dem wird diese Geisteswissenschaft in das instinktive Leben seiner Seele übergehen, und er wird gewissermaßen wie die Regung eines inneren Gewissens auch gegenüber den Genüssen, gegenüber den Befriedigungen, die er auf dem physischen Plane hat, die Stimmung entwickeln: Du darfst nicht nur um deiner selbst willen irgendeinen Genuß, eine Freude, eine Lust hinnehmen -, sondern er wird diese Lust durchdringen mit einer Art von Dankbarkeitsgefühl gegenüber dem Weltenall, gegenüber den geistigen Mächten des Weltenalls. Denn er wird wissen, daß er durch jeden Genuß, durch jede Befriedigung ein Schuldner des Weltenalls wird. Am leichtesten und sichersten kommen wir zurecht mit der Umwandlung derjenigen Genüsse und Freuden, welche geistiger Art sind. Solche Genüsse und Lüste, welche nur befriedigt werden können durch die leiblichen Werkzeuge oder überhaupt nur dadurch, daß der Mensch auf dem physischen Plan einen Leib an sich trägt, stehen zwar auch in der angedeuteten Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt als etwas vor uns, was umgewandelt werden muß, wenn wir nicht nach und nach gewissermaßen darin ersticken wollen. Wir fühlen die Notwendigkeit der Umwandlung, aber wir fühlen auch das eine, daß viele Inkarnationen notwendig sein werden, damit wir zwischen diesen Inkarnationen immer wieder in der geistigen Welt sind und endlich die Umwandlung bewirken können.
   Dann finden wir in der geistigen Welt noch etwas anderes. Wir finden das, daß wir in unserem gegenwärtigen Menschheitszyklus mit solchen Genüssen, mit solchen Freuden, in denen auf dem physischen Plan gleichsam unser Seelisch-Geistiges ganz untergeht, und der Genuß, die Befriedigung einen untermenschlichen, ich will nicht sagen, tierischen Charakter annimmt - denn Freude und Genuß können untermenschlichen Charakter annehmen -, daß wir in der Tat mit solchen Genüssen gewissen Wesenheiten der geistigen Welt unendlichen Schmerz bereiten, die uns erst dann entgegentreten, wenn wir eben in diese geistigen Welten eintreten. Und der Anblick dieses Schmerzes, den wir in der geistigen Welt gewissen Wesenheiten bereiten, der ist so ungeheuer bestürzend, bedrückend, unsere Seele mit solchen Kräften durchziehend, daß wir mit dem harmonischen Ausbilden der (S166) Zusammenhänge für die nächste Inkarnation keineswegs gut zurechtkommen.
   Gegenüber dem, um das andere zu erörtern, was wir auf Erden an Schmerzen, an Leiden erleben, zeigt sich auf dem geistigen Plan, daß auf dem physischen Plane erduldete Schmerzen, erduldetes Leid fortwirken und auf dem geistigen Plan unsere Seele so durchdringen mit Kräften, daß diese Kräfte Willenskräfte werden, daß wir dadurch in der Seele stärker werden und die Möglichkeit haben, diese Stärke in moralische Kraft umzuwandeln, die wir dann wiederum auf den physischen Plan mitbringen können, um nicht nur gewisse Fähigkeiten zu haben, durch die wir Wertvolles schaffen können für die Umwelt, sondern um auch die moralische Kraft zu haben, charaktervoll diese Fähigkeiten auszuleben.
   Solche und viele andere Erlebnisse haben wir unmittelbar nach der geistigen Mitternachtsstunde des Daseins. Wir erfühlen, erleben, was wir wert geworden sind durch unser verflossenes Dasein, wir erfühlen, erleben, zu welchen Fähigkeiten wir kommen können in der Zukunft. Nachdem wir dann eine Weile weiterleben in der geistigen Welt, tritt aus dem Dämmerdunkel der geistigen Umgebung heraus eine deutliche Anschauung, jetzt nicht nur unserer eigenen verflossenen Leben, sondern namentlich alles des Menschlichen, was mit diesem Leben verbunden war. Menschen treten in geistige Beziehungen zu uns, mit denen wir in früheren Daseinsstufen diese oder jene Beziehung hatten. Nicht als ob früher die Gemeinsamkeit mit diesen Menschen nicht dagewesen wäre - wir erleben uns immer zusammen mit den Menschen, die uns im Leben nahegestanden haben, in der weitaus größten Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt -, aber jetzt tritt, indem wir diese Menschen nach der Mitternachtsstunde des geistigen Daseins wieder treffen, deutlich und klar an diesen Menschen hervor, was wir ihnen schuldig geworden sind, oder was sie uns schuldig geworden sind. Wir erleben jetzt nicht bloß eine Anschauung: so standest du mit diesen Menschen zwischen dieser und jener Zeit - das hatten wir früher auch -, sondern diese Menschen werden für uns der Ausdruck für das, was Ausgleich ist für die (S167) früheren Erlebnisse. Wir sehen es den Menschen an, so wie sie uns entgegentreten, durch welche neuen Erlebnisse auf dem physischen Plane wir für Früheres Ausgleich schaffen können, was wir ihnen schuldig geblieben sind oder dergleichen. Wir schauen sozusagen, indem wir den Seelen der Menschen gegenüberstehen, auf die Wirkungen, welche in der Zukunft die Folgen sein werden von Beziehungen, die wir zu den Menschen in der Vergangenheit gehabt haben. Natürlich sieht man das am besten ein, wenn man einen möglichst konkreten Einzelfall nimmt.
   Nehmen wir also noch einmal an, wir hätten einen Menschen angelogen. Jetzt ist die Zeit, wo die Möglichkeit in der geistigen Welt geboten ist, daß wir durch die unserer Lüge entgegengesetzte Wahrheit gequält werden. Aber dadurch werden wir gequält, daß sich die Beziehung zu dem Menschen, den wir angelogen haben, in der jetzt geschilderten Zeit so verändert, so oft wir den Menschen erblicken - und wir werden ihn genügend oft mit dem geistigen Auge erblicken -, daß er die Ursache wird, daß die der vollbrachten Lüge entgegengesetzte Wahrheit, die uns quält, in uns aufsteigt, Dadurch taucht aus unseren Tiefen die Tendenz herauf: Diesem Menschen mußt du unten auf der Erde wieder begegnen, und du mußt etwas tun, was das Unrecht ausgleicht, das du durch die vollzogene Lüge begangen hast. Denn hier in der geistigen Welt kann das nicht ausgeglichen werden, was durch deine Lüge geschaffen worden ist, da im Kosmos kannst du nur völlige Klarheit gewinnen über die Wirkung einer Lüge. Was auf Erden geschaffen worden ist von dieser Art, das muß auch wiederum auf der Erde ausgeglichen werden. Man weiß, man braucht zum Ausgleich Kräfte in sich selber, die einem nur werden können, wenn man wiederum einen Erdenleib bezieht. Dadurch entsteht in unserer Seele die Tendenz: Du mußt einen Erdenleib beziehen, der die Möglichkeit bietet, eine solche Tat zu vollbringen, wodurch die Unvollkommenheiten ausgeglichen werden, die du auf Erden verursacht hast, sonst wird, wenn du durch den nächsten Tod gegangen bist, dieser Mensch wiederum dir erscheinen und die Qual der Wahrheit hervorrufen. Sie sehen die ganze geistige Technik, wie in der geistigen Welt der Trieb in uns geschaffen wird, einen karmischen Ausgleich für das oder jenes zu schaffen.
   (S168) Diese Ausgleiche geschehen auch durch andere Voraussetzungen; aber ich müßte natürlich tausend und aber tausend konkrete Fälle aufzählen, wenn ich alles zum Vorschein bringen wollte, was für diese bedeutsame karmische Frage in Betracht kommt. Nehmen wir zum Beispiel den folgenden Fall. Nehmen wir an, wir sind in der Zeit, die auf die Mitternachtsstunde des Daseins folgt, so in der geistigen Welt, daß wir zurückblicken auf gewisse Freuden, die wir gehabt haben, und sagen: Wir können die Wirkungen dieser Erlebnisse in Fähigkeiten umwandeln, die wir dann ausdrücken können, wenn wir wieder verleiblicht sein werden. Ja, dann kann aber folgendes geschehen. Wir können bemerken: Indem du dir jetzt in deiner gegenwärtigen Lage diese verflossenen Erlebnisse umwandelst in Fähigkeiten, da stören dich gewisse Elementarwesen. Das kann so sein. Diese Elementarwesen lassen es nicht dazu kommen, daß du dir diese Fähigkeiten wirklich aneignest. Jetzt kann man sich fragen: Was ist nun zu tun? Wenn ich diesen Elementarwesen willfahre, die da herankommen und die nicht leiden können, daß in mir diese Fähigkeiten entstehen, dann werde ich mir diese Fähigkeiten nicht bilden können. Aber diese Fähigkeiten muß ich mir bilden. Ich weiß, daß ich nur dadurch in der nächsten Inkarnation gewissen Menschen, denen ich Dienste leisten kann, diese Dienste wirklich werde leisten können, wenn ich diese Fähigkeiten habe. Man wird in einem solchen Falle in der Regel so entscheiden, daß man sich diese Fähigkeiten aneignet. Damit aber verletzt man diese Elementarwesen, die da ringsherum sind. Die fühlen sich in einer gewissen Weise durch uns attackiert. Namentlich fühlen sie sich, wenn das geschieht, was gerade gesagt worden ist, daß wir uns gewisse Fähigkeiten aneignen, dadurch so verfinstert in ihrem Dasein. wie wenn ihnen an ihrer eigenen Weisheit etwas genommen wäre. Eine der Folgen, die oft eintritt, ist dann diese, daß, wenn wir wiedergeboren werden, wir einen oder mehrere Menschen auf der Erde besessen finden von diesen Elementarwesen und ihnen besondere feindliche Absichten gegen uns eingegeben finden.
Denken Sie sich, wie tief uns das hineinschauen läßt in das menschliche Erleben, und wie gründlich es uns lehrt, das menschliche Leben zu begreifen, uns wirklich den rechten Instinkt anzueignen, uns richtig (S169) zu verhalten auf dem physischen Plan. Das bedingt aber nicht, daß wir etwa immer, wenn wir nun auf dem physischen Plane sind, sagen: Nun ja, ich habe mich dazumal schützen müssen. Dadurch  habe ich diese Feinde gegen mich heraufbeschworen, ich muß sie jetzt gewähren lassen. Es kann ja der Fall eintreten, wo es gut ist, sie gewähren zu lassen, es kann aber auch der andere Fall eintreten, daß, wenn wir sie gewähren lassen, diese feindlichen Elementarwesen, die durch diesen oder jenen Menschen wirken, sie durch das, was sie nun auf dem physischen Plan erreichen, sich reichlich Ausgleich schaffen für das, was man ihnen sozusagen durch den eigenen Schutz weggenommen hat; sie gehen über das hinaus, was man ihnen weggenommen hat. Und die Folge davon würde sein, daß man sich ihnen gegenüber nicht retten kann, wenn man wiederum in der entsprechenden Zeit in den Zeitenstrom zwischen dem Tod und einer neuen Geburt eintritt, daß sie einen da in gewisser Weise für gewisse Fähigkeiten totschlagen würden.
...wird fortgesetzt