Anthroposophie        =           Dreigliederung
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Öffentlicher Vortrag, Wien, 8. April 1914

Was hat die Geisteswissenschaft über Leben, Tod und Unsterblichkeit der Menschenseele zu sagen?

 

(S40) Wenn es schon in einer gewissen Beziehung schwierig ist, sich über die Grundlagen der Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, so auseinanderzusetzen, wie es im Vortrag von vorgestern geschehen ist, so darf wohl gesagt werden, daß die Mitteilungen in bezug auf diejenigen Forschungsergebnisse, die den Gegenstand des heutigen Vortrags bilden sollen, in gewisser Beziehung eigentlich ein Wagnis sind gegenüber den Vorstellungsarten und Denkgewohnheiten der Gegenwart. Denn wird man in dem, was der Vortrag von vorgestern ausdrückte, schon manches Paradoxe finden müssen von diesen Vorstellungsarten und Denkgewohnheiten aus, so wird man von einem solchen Gesichtspunkte aus ganz gewiß und begreiflicherweise es nicht leicht haben, in dem, was heute zu sagen ist, ernstes Forschen zu sehen. Man wird viel eher in weiten Kreisen der Gegenwart geneigt sein, dafrin nur zu sehen die Schwärmereien eines sonderbaren Phantasten. Dessen muß man sich voll bewußt sein,wenn man über diese Dinge redet; bewußt sein dessen, daß alles das, was in einer späteren Zeit in das allgemeine Bewußtsein übergeht, vieles sogar von dem, was dann später eine Selbstverständlichkeit wird, in der Zeit, in der es zuerst auftritt, etwas Paradoxes, etwas Phantastisches ist.

   Dies möchte ich nur vorausschicken, um zu charakterisieren, wie sehr sich der Geistesforscher dessen bewußt ist, was alles begreiflicherweise empfunden werden kann, wenn er seine für die heutige Zeit durchaus noch paradox erscheinenden Forschungsresultate mitzuteilen sich gestattet.

   Bevor ich auf diese Forschungsergebnisse zu sprechen komme, möchte ich in ein paar einleitenden Worten die Grundstimmung der Seele des Geistesforschers charakterisieren. Diese Grundstimmung ist ja eine ganz andere als die Stimmung gegenüber einem anderen Forschungsfelde. Während man in seiner Erkenntnis dem äußeren Leben (S41) gegenüber und auch der gewöhnlichen Wissenschaft gegenüber heute mit einem gewissen Rechte das Gefühl hat, man habe die Erkenntniskräfte in sich, man brauche sie nur sozusagen in Wirksamkeit überzuführen, dann könne man urteilen über alles das, was die Natur selbst und was der Forscher aus der Natur darbietet - während man bei dieser Forschung alle Mühe darauf verwendet, um eben zu forschen, um eben die Dinge zu beobachten und durch den Verstand ihre Gesetze zu erkennen, ist die Stimmung des Geistesforschers gegenüber der Wahrheit, gegenüber allem Erkenntnisstreben doch eine ganz andere. Da bekommt man, indem man sich in diese Geistesforschung hineinarbeitet, immer mehr und mehr das Bedürfnis, alle Arbeit der Seele, alles innere Streben zunächst auf die Vorbereitung zu verwenden; und immer mehr und mehr bekommt man das Gefühl: Wenn man sich irgendeiner Wahrheit aus diesem oder jenem Gebiet nähern will, so möchte man eigentlich immer noch warten, immer noch weiter und weiter sich vorbereiten, weil man das Bewußtsein hat: Je mehr Mkühe und Arbeit man auf jenen Weg der Seele verwendet, der zurückgelegt werden muß, bevor man forscht, desto mehr macht man sich reif, die Wahrheit zu empfangen. Denn ein Empfangen der Wahrheit, das ist es, um was es sich bei der eigentlichen, wirklichen Geisteswissenschaft handelt. Und so stark kommt dieses Gefühl, diese Stimmung über die Seele, daß man eine heilige Scheu empfindet, die Dinge so an sich herankommen zu lassen und daß man immer wieder und wiederum gegenüber wichtigen, wesentlichen Erkenntnissen der Geistesforschung lieber wartet, als daß man die Dinge zu früh in das Bewußtsein hereinkommen läßt. Das bedingt eine ganz besondere Stimmung in dem Geistesforscher selber, jene Stimmung, die all die Arbeit, von der vorgestern als einer inneren Seelenarbeit in Übungen gesprochen worden ist, allmählich durchdringt, die beim Geistesforscher herbeiführt eine gewisse Stellung gegenüber der Wahrheit, eben die Stellung von heiliger Scheu gegenüber der Wahrheit.

   Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, möchte ich nun. ich möchte sagen, unbefangen auf dasjenige eingehen, was über wichtige, bedeutungsvolle, jeder Seele so naheliegende Thema des heutigen Abends zu sagen sein wird. Gewiß, es sind nicht die schlechtesten (S42) Gemüter in unserer Gegenwart, die noch immer festhalten an der Meinung, daß die Wahrheiten des Glaubens besondere seien und die Wahrheiten des Wissens auch besondere seien, und die da glauben, daß alles das, was der Mensch sich vorstellen kann als über Geburt und Tod hinausgehend, daß alles das nur ein Gegenstand des Glaubens, nicht strenger Wissenschaft. Gerade diese strenge Trennung zwischen Glauben und Wissen, sie wird durch die Geisteswissenschaft aufgehoben.  Und man fühlt sich doch im Einklang mit dem, was längst hereinwollte in das moderne Geistesstreben, wenn man in dem Sinne die Wahrheiten, die jenseits des Todes liegen, entwickelt, wie es hier geschehen soll; man fühlt sich im Einklang damit, wenn man sich immer wieder und wiederum so etwas vor Augen hält, daß der große Lessing doch mit einer der Hauptwahrheiten dieser Geisteswissenschaft sich auseinandersetzte, auseinandersetzte noch in jener Schrift, die er wie sein geistiges Testament kurz vor seinem Tod als reife Frucht seines Denkens und Sinnens verfaßt hat: in seiner >>Erziehung des Menschengeschlechts<<. Es scheut Lessing nicht davor zurück, zu sagen, daß die Anschauung von den wiederholten Erdenleben nicht deshalb ein Irrtum zu sein brauche, weil sie auftrat gleichsam als etwas Erstes, worauf das Menschengeschlecht kam, bevor die Vorurteile der Schule und der Philosophen noch etwas wie einen trüben Schleier gebreitet haben über das, was als vom Jenseits des Todes die Menschheit im Beginn ihrer Kulturentwicklung wußte. So fühlt man sich dann im Einklang - es könnten noch viele Geister angeführt werden - mit den besten Persönlichkeiten, die ihr Streben eingefügt haben in die Kulturentwickelung der Menschheit, gerade wenn man auf dem Boden dieser Geisteswissenschaft steht.

   Gesagt worden ist nun vorgestern, daß die Dinge des geistigen Lebens, die Vorgänge desselben nur erforscht werden können dann, wenn wirklich der Mensch durch das vorgestern Geschilderte dazu kommt, in seiner Seele die in ihr schlummernden Kräfte so zu erstarken, so zu erkraften, daß diese Seele die Möglichkeit findet - es wurde gesagt vergleichsweise: Wie durch den Chemiker der Wasserstoff sich aus dem Wasser herauszieht -, daß so die Seele des Geistesforschers die Möglichkeit findet, durch die Seelenübungen sich (S43) herauszuziehen aus dem Physisch-Leiblichen, und sich zu erleben abgesondert von dem Physisch-Leiblichen, so daß sie dann einen Sinn verbinden kann mit dem Worte: Ich erlebe mich als seelisch-geistiges Wesen außerhalb meines Leibes, und mein Leib mit allem, was in der Sinneswelt zu ihm gehört steht vor mir wie ein äußerer Gegenstand vor uns steht, wenn wir ihn mit den Augen anschauen, mit den Händen berühren. - Und schon als ich das letzte Mal hier einige öffentliche Vorträge halten durfte, konnte ich aufmerksam machen auf den bedeutungsvollen Augenblick, der im Leben des Geistesforschers eintritt, wenn wirklich dieser Geistesforscher, durch die vorgestern erwähnten Übungen, reif geworden ist - wer weiteres über diese Übungen wissen will, der findet es in meinem Buche <<Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft im Umriß>>. Auch hier soll nur prinzipiell hingewiesen werden auf das, was der Geistesforscher erlebt. Wenn er seine Seele dahin gebracht hat, daß sie heraustreten kann aus ihrem Leibe, dann kommt dies Erlebnis eines Tages, man könnte auch sagen eines Nachts; denn beides ist möglich: mitten in den gewöhnlichen Vorgängen des Tages, mitten in der Nacht, und es wird, wenn es richtig vorbereitet ist, weder das eine noch das andere stören. Es kann in hundertfach verschiedener Weise auftreten, ich möchte nur den typischen Charakter schildern. Es kann auftreten so oder so, es wird immer in einer typischen Art auftreten, was ich jetzt anführe: Da kommt es, daß der Mensch wie aufwacht aus dem Schlafe; er weiß, etwas geht vor, was nicht ein Traum ist. Er ist entrückt allem äußeren Wahrnehmen, allen Bekümmernissen, allen Leidenschaften, all dem, was ihn mit dem Tag verbindet. Oder mitten im Tage tritt das Ereignis ein, wo man mit seinem Vorstellen stillstehen muß, wo etwas ganz anderes in das Vorstellen, in das Bewußtsein hereintritt. Das, was dann hereintritt, das kann so sein - es wird immer ähnlich sein dem, wie ich es schildere; ich möchte möglichst konkret schildern, wie sich dieses erschütternde Ereignis für den Geistesforscher wirklich zutragen kann -, da kann man das Gefühl haben: Du bist jetzt wie in einem Haus, in das der Blitz eingeschlagen hat. Deine Umgebung zerfällt wie ein Haus, in das der Blitz eingeschlagen hat. Der Blitz geht (S44) durch dich selber durch. Man fühlt, wie alles, womit man materiell verbunden ist, wie durch die Elemente von einem abgetrennt wird, so fühlt man sich aus sich herausgelöst, sich aufrechterhaltend als ein geistiges Wesen. Es ist das der denkbar größte, erschütterndste Eindruck. Von diesem Momente an, oder einem ähnlichen, weiß man, was es heißt, außer seinem Leibe in der Seele selber sich erleben. Und die Geistesforscher aller Zeiten, sie haben einen Ausdruck gebraucht für dieses Erlebnis, der voll zutreffend erscheint demjenigen, der dieses Erlebnis kennt. Denn es hat zu allen Zeiten, eben so, wie es die verschiedenen Kulturen bedingten, eine Art von Geistesforschung gegeben. Die heutige ist verschieden von denjenigen der früheren Zeiten; sie ist angemessen den Fortschritten der modernen Naturwissenschaft. Aber das, was durch sie erreicht wird, wurde auch erreicht durch die Methoden, die durch die verschiedenen Kulturen möglich geworden waren. So haben die Geistesforscher der verschiedensten Zeiten das eben angedeutete Erlebnis mit den Worten belegt: man sei als Mensch angekommen an der Pforte des Todes. Und tatsächlich, was man sich zunächst vorstellen kann als erlebbar durch den Tod, das tritt ein. Es tritt nicht ein unmittelbar als eine Wirklichkeit; denn der Geistesforscher kehrt ja wieder in seinen Leib zurück und alles ist wie früher; er nimmt wieder die äußere Welt wahr. Alles das aber, was er erlebt, das ist das Bild von demjenigen, was sich wirklich zuträgt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, wenn das äußere, physische Leben aufhört und das Leben nach dem Tode beginnt.

   Will man nun verstehen, wie der Geistesforscher zu den Dingen kommt, von denen hier die Rede ist, so muß man sich vergegenwärtigen, daß er durch die sorgfältige Vorbereitung seiner Seele, von der gesprochen worden ist, dahin gelangt, ganz anders wahrzunehmen als man mit den äußeren Sinnen wahrnimmt; daß er wirklich hineinschauen kann in diejenigen Sphären des Daseins, von denen gesprochen werden soll.

   Das erste, wozu der Geistesforscher kommt, wenn er einen solchen Moment überwunden hat, durch den man an der Pforte des Todes steht, das erste könnte man in einem gewissen Sinn nennen: Man (S45) gelangt jenseits des menschlichen Gedächtnisses. Das menschliche Gedächtnis, die menschliche Erinnerungskraft, ist ja etwas, was gewissermaßen in unserer Seele lebt als der Anfang, möchte man sagen, von einem Geistigen. Das sehen selbst schon äußere philosophische Forscher, die nichts von Geisteswissenschaft wissen, ein. Der zu so glänzenden Erfolgen gekommene französische Forscher Bergson sieht schon in dem Gedächtnis des Menschen etwas rein Geistiges, das mit biologischen oder physiologischen Vorgängen nichts zu tun hat. Und wenn erst die Vorurteile der Naturwissenschaft, die heute noch fast an jedem haften, vorüber sein werden, dann wird man einsehen, wie in dem Schatz unseres Gedächtnisses für die Menschenseele schon etwas vorliegt, was gleichsam der Anfang ist zu einem Übergehen dessen, was an Sinne und Gehirn gebunden ist, zu einem rein Geistig-Seelischen. Indem wir gleichsam unsere Vorstellungen zurückschieben in das Gedächtnis, bewahren wir sie nicht auf durch irgendwelche körperlichen Vorgänge, sondern rein in der Seele. Das kann ich nur andeuten. Die naturwissenschaftliche Rechtfertigung dessen, was eben gesagt worden ist, würde sehr viel Zeit und besondere Vorträge in Anspruch nehmen. So nun, wie man im gewöhnlichen Leben Erinnerungsbilder wahrnimmt, die aus dem Schatze unserer Seele heraufkommen, die so, wie sie auftreten, nichts haben, was uns verleiten könnte, sie etwas zu einer Illusion oder Halluzination zu machen, so treten, aber jetzt nicht aus dem Seelenschatze herauf, sondern aus geistigen Welten heraus, vor die Seele des Geistesforschers die geistigen Vorgänge und geistigen Tatsachen; und man merkt dann, daß hinter dem, was wir den Gedächtnisschatz nennen, die menschliche Seele noch etwas anderes erleben kann. Der Geistesforscher sieht dann gleichsam das Folgende: Nun bist du aus deinem Leibe mit deiner Seele herausgezogen; nun kannst du erst recht überblicken, weil es wie ein äußeres Objekt geworden ist, dasjenige, was du dir durch die Sinneswelt erworben hast: den Schatz des Gedächtnisses. Aber dieser Schatz des Gedächtnisses ist wie ein Schleier, der etwas zudeckt, was immer in der Seele, nur unbewußt, lebt, was immer in ihr ist; was aber durch Erinnerung und Gedächtnis zugedeckt wird, verschleiert wird. Ja, in diesen menschlichen Seelentiefen ist etwas unten, das (S46) immer in ihnen lebt; aber indem der Mensch seine Erinnerungen ausbreitet in seiner Seele, deckt er dieses unterbewußte Geistig-Seelische zu. Indem der Geistesforscher in das Geistig-Seelische sich herein erhebt, hat er allerdings, man möchte sagen, wie den Kometenschweif seines geistig-seelischen Wesens anhängen seine Erinnerungen, aber er kann durch diese Erinnerungen durchschauen auf etwas, was man nennen könnte: Kräfte höherer Art als die Kräfte sind, die uns die Erinnerungen aufbewahren. Wenn der Ausdruck nicht so verpönt wäre - aber es ist schwierig, für diese Gebiete, die nichts mit der Sinnenwelt zu tun haben, gehörige Ausdrücke zu finden -, so könnte man den Ausdruck anwenden: Man steigt zu einem Übergedächtnis auf von dem Gedächtnis. Man kommt allmählich in das hinein, was vorgestern imaginatives Vorstellen genannt worden ist. Während man bei dem Gedächtnis immer das Gefühl hat: Die Bilder des Gedächtnisses steigen herauf, sie stellen sich vor die Seele hin, indem du dich ihnen passiv hingibst -, taucht man nun unter in das, was hinter dem Gedächtnis ist und weiß, daß man aktiv mit hervorbringen muß das, was dann als Imagination, als Inhalt eines Übergedächtnisses heraufstrebt. Aber man weiß auch durch die zu diesen Dingen vorbereitete Seele, daß das, was sich da offenbart als hinter dem Gedächtnis liegend, immer da war, daß es nur zugedeckt war durch das Gedächtnis, und man weiß, indem man es erkennt in seiner Wesenheit, daß das, was sich da hinunterschiebt in die Gründe, die unter dem Gedächtnisschatze liegen, selber etwas ist, was nun an unserem physischen Organismus arbeitet, was tätig ist an ihm. Man macht noch eine ganz andere Entdeckung. Man macht die folgende Entdeckung -  und diese Entdeckung ist außerordentlich bedeutungsvoll für das Verhältnis der Geistesforschung zur Naturforschung. Die Naturforschung tritt uns heute entgegen, indem sie sagt: Alles das, was der Mensch empfindet, denkt und will, ist gebunden an Vorgänge des Nervensystems. Recht hat sie damit; aber sie kann mit ihren Mitteln nicht die Art, wie das Seelenleben an das Nervensystem gebunden ist, wie zum Beispiel das Denken an das Gehirn gebunden ist, herausbekommen.  Man muß zu viel tieferen Grundlagen des Seelenlebens gehen. Wenn man mit der Geistesforschung kommt, da merkt man: Ja, es ist für das (S47) gewöhnliche Vorstellen des Alltags, auch für die wissenschaftliche Arbeit, durchaus richtig, daß alle Gedanken, die wir uns bilden, auch alle Empfindungen zum Beispiel, an das Gehirn gebunden sind; aber wie sind sie an das Gehirn gebunden? Das tiefere Seelische, von dem das gewöhnliche Bewußtsein gar nichts weiß, das erst durch Geistesforschung entdeckt wird, das bearbeitet erst, sagen wir, eine gewisse Gehirnpartie, das sendet erst seine Arbeitskräfte hinein in Sinne und Gehirn; und dadurch, daß dieses <<hinterbewußte>> Seelische das Nervensystem bearbeitet, wird dieses zum Spiegel, um das, was im gewöhnlichen Leben auftritt, zu spiegeln. Was im gewöhnlichen Leben auftritt, ist das Spiegelbild des Seelisch-Geistigen. Geradeso wie wenn ein Spiegel hier hinge und Sie sich ihm nähern würden; wie Sie nicht sich sehen, oder sich erfühlen würden, sondern das Spiegelbild, geradeso verhalten Sie sich, indem Sie Ihr alltägliches Denken, Vorstellen, Fühlen und Wollen entwickeln. Das tiefere Seelische arbeitet speziell am Nervensystem und Gehirn, und was es da erarbeitet, das macht, daß etwas wahrgenommen werden kann. So ist es das Seelisch-Geistige, das das Auge bearbeitet, und was im Auge gewisse Vorgänge hervorruft. Wenn diese Vorgänge hervorgerufen sind, dann spiegelt das Auge in das Geistig-Seelische dasjenige zurück, was wir die Farbe nennen. So ist es das tiefere Seelisch-Geistige, was im Leibe arbeitet.  Und dazu wird die Geistesforschung die Menschheit führen: zu erkennen, daß wir es selber sind, die im Inneren unserer Vorstellungen leben, und die mit ihrem tieferen Wesen erst selber den Leib zubereiten, daß er zum Spiegelungsapparat dafür wird, was dann die Seele erlebt. So ist es im gewöhnlichen,, äußeren, räumlichen Leben. In dem Augenblick aber, wo unsere Vorstellungen zu Erinnerungsbildern werden, muß noch etwas anderes vorgehen; wir müssen, wenn nicht die Vorstellungen wie Träume an uns vorüberhuschen sollen, damit sie Erinnerung werden, Aufmerksamkeit verwenden. Alles, was zur Erinnerung werden soll, was uns bleiben soll in der Seele, auf das müssen wir uns länger hinkonzentrieren, al notwendig ist, sagen wir, zum bloßen Vorstellungsbilde. Ein Farbeneindruck würde uns nicht in der Erinnerung bleiben, wenn wir ihn nur gerade so lange anschauten, als es notwendig ist, daß die Farbe hervorgerufen (S48) wird. Schauen wir ihn länger an, so appellieren wir an jene Kraft, welche alles das in unserer Seele als Erinnerung erhält. Wir schieben gleichsam zurück unsere Seelentätigkeit in ein tieferes Wesen und dieses stellt sich heraus nicht als der der physische Leib, sondern als etwas, was feiner, ätherischer ist als der physische Leib; und was man in der Geistesforschung eben mit dem allerdings verpönten, heute gar nicht beliebten Ausdruck <<ätherisch>> bezeichnen kann - doch hat das Wort nicht den Sinn, den man gewöhnlich damit verbindet -, er stellt sich dar als ein ätherischer Leib, der schon geistiger Art ist.


   Aber nicht nur so wirkt unsere Seele, daß sie diese Erinnerungsbilder schafft, sondern sie wirkt viel mehr durch ihren Verkehr mit der Außenwelt im Leben zwischen Geburt und Tod in sich hinein. Und da entdeckt der Geistesforscher das Merkwürdige, daß unsere Erinnerungen nur deshalb Vorstellungen bleiben, weil sie aufgehalten werden vom Ätherleib, nicht in den physischen Leib hineingelassen werden. Würden sie in den physischen Leib hineinrinnen, würden sie darin zur Tätigkeit werden, diese Vorstellungen, so würden sie übergehen in die Bildungskräfte, in die Lebekräfte des physischen Leibes, würden diesen durchorganisieren. Dadurch, daß wir unsere Vorstellungen Vorstellungen sein lassen, sie nicht in organische Kräfte übergehen zu lassen brauchen, behalten sie den Charakter der Erinnerung, erhalten wir sie in ihrer Vorstellungskraft. Sie können Erinnerungen bleiben.

   Aber die Seele entwickelt auch im Leben viel stärkere Kräfte als diejenigen sind, die die Erinnerungen entwickeln, und diese stärkeren Kräfte werden nun ebenfalls zunächst in der Seele bewahrt. Aber sie liegen wie ein Übergedächtnis hinter dem gewöhnlichen Gedächtnisschatz; sie sind in uns. Das ist das, was nun der Geistesforscher erlebt, wenn er durch das Gedächtnis hindurchschaut auf diesen übergedächtnismäßigen Schatz, daß er weiß: Da lebt in deiner Seele etwas, was nicht hineinwirken kann in deinen physischen Leib, was unter der Oberfläche des Gedächtnisses liegt, aber auch nicht zur Wirksamkeit kommt in deinem physischen Leibe, jetzt, wie er ist zwischen Geburt und Tod. Da ist etwas, was nicht Vorstellung bleibt, was doch aber nicht zur organisch wirksamen Kraft wird. Der Geistesforscher erlebt (S49) dieses, indem er außerhalb seines Leibes ist. Aber erlebt zugleich das andere, das er ausdrücken kann, wenn er sich über die Tatsache klarwerden wird, damit, daß er sagt: Ja, so erlebe ich etwas in meiner Seele, was in ihr ist, was gewissermaßen keine Anwendung findet, weil es nicht hinein kann in den Leib, der gebildet ist seit der Geburt oder, sagen wir, der Empfängnis, weil es darin keine Unterkunft findet. Und indem sich nun der Geistesforscher hineinvertieft in dies, was ich hier angedeutet habe, erlebt er es so, daß er es erkennen kann, wie man erkennt den Keim,, der in einer Pflanze ist. Die Pflanze entwickelts sich von der Wurzel bis zur Frucht, in welcher der Keim ist. Der Keim ist aber schon veranlagt in der ganzen Pflanze. Das, was der Keim ist, hat für die Pflanze keinen Sinn, es kann seine Kräfte nicht in diese Pflanze hineinsenken; es ist aber darinnen, es ist die Anlage zu einer folgenden Pflanze, sagen wir, des nächsten Jahres. Indem der Geistesforscher hinuntertaucht, taucht er ein in etwas, was in ihm ein Seelenkern, ein Seelenkeim ist, von dem er weiß, er wird gebildet in diesem Leben zwischen der Geburt und dem Tode, aber er entwickelt seine Kräfte nicht in diesem Leben; er taucht da unter in die tieferen Schichten der Seele und liegt bereit für ein folgendes Leben, wie in der Pflanzenfrucht der Keim bereitliegt für die folgende Pflanze, die sich nicht ohne die vorhergehende entwickeln könnte.


So kommt man zu der Einsicht des Einklanges der menschlichen, aufeinanderfolgenden Erdenleben mit aller äußeren Natur hinein, wenn man so untertauchen versteht in das Seelische. Das, was wichtig ist, ist nur, daß der Geistesforscher nie aus dem Auge verliert: Das, was du da erleben mußt, das kann nur ein solches sein. bei dem du immer wieder und wiederum dir deiner eigenen Tätigkeit bewußt wirst; denn ist man das nicht, überschaut man nicht, wie das entstanden ist, dann wird es zur Illusion, Halluzination oder zur bloßen Phantasie. Es ist völlig ein Irrtum, wenn eingewendet wird: Ja, wie kann der Geistesforscher wissen, daß das, was er so entdeckt, keine Halluzination, keine Illusion, keine Phantasie ist? Es könnte ja eine selbst suggerierte Halluzination sein. Wenn der Geistesforscher sich so stellen würde zu dem, was er so erlebt,, wie es geschildert worden ist, wie sich das krankhafte Gemüt zu einer Halluzination stellt, dann (S50) würde dieser Einwand voll berechtigt sein. Denn sie stellt sich gegenüber im Gemüt wie eine äußere Wahrnehmung, man durchschaut sie nicht. Das aber lernt der Geistesforscher genau kennen durch die richtigen Vorbereitungen - wie Sie in meiner Schrift <<Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> lesen können -, daß er unterscheiden kann das, was nur Reminiszenz ist der Außenwelt, und was Phantasie und Halluzination ist, zu dem er sich passiv verhält, daß er dies unterscheiden muß von dem, was sich so hinstellt, daß er es ebenso erkennt, wie man von einem Buchstaben oder einem Worte weiß: Das, was da auf dem Papier steht, das bedeutet nicht sich selbst, sondern etwas anderes. Denn so verwendet der Geistesforscher das Erschaute nicht, wie man Halluzinationen verwendet, sondern so, daß man es vergleichen kann mit einem geistigen Lesen in einer Schrift von Imaginationen, die sich vor ihn hinstellen. Erst wenn man lernt, in freier Weise in seinem Gemüt das, was man da durch eigene Aktivität hinstellt, so zu verwenden, daß man darin lebt, wie man in den Schriftzügen lebt, durch die man hindurchsieht auf das, was sie bedeuten; erst indem man sich in so innerlich erkrafteter Weise zu dem erhebt, was da in das Seelenschauen tritt, kann man dahin gelangen, wirklich zu erschauen, was Vorgänge und Wesenheiten der geistigen Welt sind. Dann aber kommt man, weil man dadurch sich allmählich einlebt in das Element unserer Seele, das nicht mit dem Leib einerlei ist, hinein in das Wesen, von dem man sagen kann, daß die Eigenschaft der Unsterblichkeit ihm zukommt.

   Geisteswissenschaft ist nicht eine spekulative Philosophie, worin man nachdenkt, welche Gründe sich ergeben für die Unsterblichkeit der Seele: Geisteswissenschaft zeigt, wie man zur Seele selber kommt und dieser wahrhaftigen Seele zeigt sie, was sie wirklich ist. Sie legt gleichsam die Seele bloß; und dann stellt sich heraus, daß das, was als die Seele bloßgelegt wird, nicht ein Ergebnis der äußeren Leiblichkeit ist, daß vielmehr diese Leiblichkeit das Ergebnis dessen ist, was man da entdeckt. Denn wenn man auf der einen Seite entdeckt in sich den Seelenkeim, dem man es anfühlt, aus dem man herauserlebt, daß er der Keim zu einem nächsten Erdenleben ist, so erlebt man in diesem über dem Gedächtnisschatz liegenden (S51) Bewußtseinsinhalt auch das, was in den Menschen als das Leiblich-Physische hereingezogen ist, bevor er als physisches Wesen sein Dasein begonnen hat mit der Geburt oder, sagen wir, der Empfängnis. Geradeso wie die Seele selbst es ist, die räumlich, wenn wir wahrnehmen, ihr Gehirn zubereitet, damit dieses ihren Inhalt spiegelt, so erlebt man, daß das Geistig-Seelische, zu dem man vorgedrungen ist vor der Geburt, vor der Empfängnis in einer geistigen Welt vorhanden war und in dieser sich die Kräfte erworben hat, um sich zu verbinden mit dem, was an physischer Substantialität gegeben wird von Vater und Mutter, um sich zu durchdringen mit dieser Substantialität, diese sich anzuorganisieren. Man erlebt, daß der Mensch, so wie er in die Welt hereinzieht, nicht bloß das Ergebnis ist von Vater und Mutter, sondern daß sich verbindet das Geistige mit dem Materiellen, mit dem, was von Vater und Mutter gegeben wird; das Geistige, das aus geistigen Welten herunterkommt, wo es gelebt hat zwischen dem letzten Tod und dieser Empfängnis. Und der Geistesforscher kann, indem man also kennenlernt dasjenige in der Seele, was jenseits des Gedächtnisses liegt, er kann dadurch auch erkennen lernen, wie die Seele sich verhält, wenn nicht mehr das Leibliche sozusagen die Tätigkeit dieses Geistig-Seelischen zurückhält, wenn der Tod über den Menschen gekommen ist. Wenn der Tod über den Menschen gekommen ist, dann lebt die Seele zunächst - das ist die Tatsache, die sich der Geistesforschung darbietet - in dem, was während des Lebens nicht physisch-leiblich geworden ist; sie lebt in ihrem Gedächtnisschatz. In der ersten Zeit nach dem Tode breitet sich aus vor der Seele ein weites Erinnerungsbild von alledem, was der Mensch erlebt hat zwischen Geburt und Tod. Auch alle diejenigen Erlebnisse kommen herauf, welche vergessen worden sind im Leben. Dieses Erleben seiner ganzen Erinnerung dauert nur wenige Tage. Der Geistesforscher kann das durchschauen, was da als das erste Erlebnis nach dem Tode auftritt, weil er ja kennenlernt die Natur des Gedächtnisses. Wenn die Seele aus dem Leibe heraus ist, dann wird wirklich für den Geistesforscher so etwas zum Bewußtseinsinhalt, wie es für den Toten wird, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist. Vor dem Geistesforscher tritt auch dasjenige auf, sobald er außer dem Leibe ist, was sein (S52) gesamter Gedankeninhalt ist, aber jetzt so wie eine Welt; wie man sonst Berge und Wolken und Sterne und Mond und Flüsse und Städte um sich hat, so hat man außer seinem Leibe zunächst ein Tableau desjenigen, was man erlebt hat, vor sich; nur kann man dieses Tableau durchschauen, man kann seine Wirkungskraft ersehen. Indem man - um den trivialen Ausdruck zu gebrauchen - sich hingewöhnt hat, wirklich außerleiblich diese Dinge zu durchschauen, gelangt man auch allmählich dazu, wirklich den Blick bewußt hinwerfen zu können auf das, was die Seele nach dem Tode durchlebt, was sie durchlebt hat nach dem letzten Tode, was ihr bevorsteht nach dem Tode, der da kommen wird. Erst ist es dieses Erinnerungsbild, das breitet sich aus, die Gedanken, die sich angesammelt haben. Aber hinter dem tritt eine andere Seelenkraft auf. Jetzt, da der Tod vorübergegangen ist, ist diese Seelenkraft nicht mehr durch den Leib gehemmt, jetzt wirkt sie so, daß dieses Erinnerungsbild nach einigen Tagen verschwindet aus der Umgebung des Menschen.

   ...wird fortgesetzt