Anthroposophie        =           Dreigliederung
Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Im Folgenden ein paradigmatischer Vortragszyklus Rudolf Steiners von 1914 in Wien. In Hauptzügen bezüglich der Methode der anthroposophischen Geisteswissenschaft wiederzufinden bei dem Steinerschüler, Dr. Hans Erhard Lauer bei der Tagung "Dritter Weg" im 'Internationalen Kulturzentrum Achberg' 1974, enthalten in der Schrift 'Aggression und Repression'. Ich wurde durch diese Vorträge angeregt, die Schriften Hans Erhard Lauers zu studieren. Das hat dann auch seinen Niederschlag gefunden in der vorliegenden Webseite, die ich auf Anregung von Johannes Kiersch, einem profunden Kenner der Anthroposophie, eingerichtet habe, siehe: Dr. Hans Erhard Lauer, auch  Geistesgeschichte (2,3,4)

Auch Frank Teichmann vom 'Anthroposophischen Studienseminar' in Stuttgart, das ich 1974/75 besucht habe, war es ein Anliegen, seinen Studenten in konkreter Art die Eigenschaft imaginativer, inspirativer und intuitiver Erkenntnisstufen zu vermitteln, wie es hier in den Seiten 17 bis 25 durch Rudolf Steiner dargestellt wird. -

Rudolf Steiner hat immer frei gesprochen, hatte sich aber stets vorbereitet und ein Notizbuch dabei. Er sagte einmal, wenn ein Redner seinen Vortrag ablese, dann könne er einfacher das Manuskript verteilen, als seine Zuhörer zu langweilen. Man darf sich vorstellen, daß er in den öffentlichen Vorträgen sehr flüssig gesprochen hatte, was dann im Druck bis zu 40 Seiten führte. Dagegen sind die Mitgliedervorträge meist kürzer gehalten, wohl mit mehr Pausen bestückt. Ton- und Bildaufzeichnungen gab es zu seiner Zeit noch nicht, die Vorträge wurden mitstenographiert.
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'Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt'

 Gesamtausgabe Rudolf Steiner-Verlag Dornach - GA 153, Öffentlicher Vortrag, Wien, 6.4.1914, 1. Vortrag:

  Aufgabe und Ziel der Geisteswissenschaft und das geistige Suchen in der Gegenwart

Die ersten zwei öffentlichen Vorträge füllen ca. 30 Buchseiten, die sechs weiteren vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft um die 15-16 Seiten

 

 

Wer derjenigen Form geisteswissenschaftlicher Weltanschauung, von der ich mir gestatten werde heute und übermorgen zu sprechen, einen gewissen Wert beimessen will, wird sich schon einmal bekannt machen müssen mit dem eigentümlichen, in der Menschheitsentwicklung gelegenen Widerspruch, daß eine geistige Strömung, ein geistiger Impuls von einem gewissen höheren Gesichtspunkt aus im eminentesten Sinn zeitgemäß sein kann und daß dieses also Zeitgemäße dennoch zunächst von der Zeitgenossenschaft scharf zurückgewiesen wird, zurückgewiesen in einer, man möchte sagen, durchaus begreiflichen Weise.
   Zeitgemäß war der Impuls zu einer neuen Anschauung vom Weltenall des Raumes, den Kopernikus in der Morgenröte der neuen Zeit gegeben hat, zeitgemäß zweifellos von dem Gesichtspunkt aus, daß die Entwicklung der Menschheit gerade zu der Zeit des Kopernikus notwendig machte, daß dieser Impuls kam. Unzeitgemäß erwies sich dieser Impuls durchaus noch für lange Zeiten, insofern als gegen ihn Front gemacht wurde von all denen, die an den alten Denkgewohnheiten, an jahrhundert- und jahrtausendalten Vorurteilen festhalten wollten. Zeitgemäß in einem solchen Sinne erscheint den Bekennern der hier gemeinten Geisteswissenschaft diese geisteswissenschaftliche Weltanschauung, und unzeitgemäß ist sie von dem Gesichtspunkt aus, von dem sie noch von vielen unserer Zeitgenossen beurteilt werden muß. Dennoch glaube ich, im Laufe des heutigen und übermorgigen Vortrages zeigen zu können, daß in unterbewußten Seelentiefen der gegenwärtigen Menschheit etwas wie eine Sehnsucht nach dieser geisteswissenschaftlichen Weltanschauung besteht und etwas wie eine Hoffnung nach ihr lebt.
   So wie sich zunächst darstellt, diese Geisteswissenschaft, will sie sein eine echte Fortsetzerin der naturwissenschaftlichen Geistesarbeit, wie sie in den letzten Jahrhunderten geleistet worden ist. Und ganz (S10) unrichtig wäre es, wenn man glauben wollte, daß diese Geisteswissenschaft irgendwie von sich selbst aus eine Gegnerschaft entfaltete gegen die großen Triumphe, gegen die unermeßlichen Errungenschaften und die weitblickenden Wahrheiten, welche das naturwissenschaftliche Denken der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Im Gegenteil, dasjenige, was Naturwissenschaft war und ist für die Erkenntnis der äußeren Welt, das will diese Geisteswissenschaft sein für die Erkenntnis der geistigen Welt. So könnte sie geradezu ein Kind der naturwissenschaftlichen Denkweise genannt werden, obwohl dies noch in weitesten Kreisen heute bezweifelt werden wird.
   Um eine Vorstellung, nicht einen Beweis, sondern zunächst eine Vorstellung, die Verständigung hervorrufen soll, anzuführen, sei über das Verhältnis der hier gemeinten Geisteswissenschaft zur naturwissenschaftlichen Weltanschauung das Folgende gesagt: Blicken wir auf die große, gewaltige Entwickelung naturwissenschaftlicher Erkenntnis in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, so sagen wir uns, daß sie auf der einen Seite unermeßliche Wahrheiten über den weiten Horizont menschlicher Erkenntnis gebracht hat, daß auf der anderen Seite dieses Denken eingeflossen ist in das praktische Leben. Überall sehen wir uns entgegenleuchten auf dem Gebiete des Technischen, Kommerziellen, das, was uns die in die Lebenspraxis hineingeflossenen Gesetze und Erkenntnisse der Naturwissenschaft gebracht haben. Will man sich nun eine Vorstellung davon machen, wie zu diesen Fortschritten die hier gemeinte Geisteswissenschaft steht, so kann man zunächst einen Vergleich geben. Man kann hinblicken auf den Bauern, der sein Feld bestellt, der einerntet die Früchte des Feldes. Der größte Teil dieser Früchte des Feldes wird hereingenommen in das menschliche Leben, zur Nahrung der Menschen verwendet; ein kleiner Teil nur bleibt übrig. Er wird verwendet zur neuen Fruchtaussaat. Nur von diesem letzteren Teile kann man sagen, daß er folgen darf den Triebkräften, den inneren Lebe- und Bildekräften, die im aufsprossenden Korn, in der aufsprossenden Frucht selber liegen. Das, was in die Scheunen geführt wird, wird zumeist abgebracht von seinem in den eigenen Bildungsgesetzen liegenden Fortschritt, wird gleichsam in eine Seitenströmung geführt, zur menschlichen Nahrung verwendet, (S11) setzt nicht fort in unmittelbarer Weise das, was in den Keimen liegt, was die eigenen Triebkräfte sind.
   So erscheint der Geisteswissenschaft, die hier gemeint ist, ungefähr das, was die Naturwissenschaft an Erkenntnissen gebracht hat in den letzten Jahrhunderten. Der weitaus größte Teil ist mit Recht dazu verwendet worden, Einsicht zu gewinnen in die äußeren, sinnlich-räumlichen Tatsachen, ist dazu verendet worden, in den menschlichen Nutzen einzugehen. Aber zurückbleiben kann gerade von den Ideen, welche die Betrachtung der Natur in den letzten Jahrhunderten geliefert hat, in der menschlichen Seele etwas, das nun nicht verwendet wird, um das oder jenes zu begreifen in der sinnlichen Außenwelt, was nicht verwendet wird, Maschinen zu bauen oder Industrien zu pflegen -, sondern das lebendig gemacht wird, so daß es erhalten wird in seiner eigenen Richtung wie das Korn, das wieder zur Aussaat verwendet wird und seinen Bildungsgesetzen folgen darf. Gerade wenn sich der Mensch also durchdringt seiner Seele, wenn er ein Gefühl hat dafür, zu fragen: Wie läßt sich das seelische Leben durchleuchten und erkennen an den Begriffen und an den Ideen, welche die Naturwissenschaft geliefert hat, wie läßt sich mit diesen Ideen leben, wie läßt sich von ihnen aus begreifen, wo die Haupttriebkräfte des menschlichen Seelenlebens liegen? - wenn die menschliche Seele ein Gefühl dafür hat, mit dem errungenen Geistesschatz diese Fragen aufzuwerfen - aufzuwerfen nicht als Theorie, sondern mit der ganzen Fülle des seelischen Lebens -, dann erscheint das, was erst in unserer Zeit, da eine Weile die Naturwissenschaft sozusagen auf ihrem eigenen Boden gepflegt worden ist, in die menschliche Kultur übergehen kann.
   Und auch in anderer Beziehung ist diese Geisteswissenschaft vielfach ein Kin der naturwissenschaftlichen Denkweise zu nennen, nur muß der Geist in einer anderen Weise erforscht werden als die Natur. Gerade wenn man auf ebenso sicherer, methodischer, wissenschaftlicher Basis dem Geiste gegenüberstehen will, wie die Naturwissenschaft der Natur gegenüber, so muß man das naturwissenschaftliche Denken umformen und es so prägen, daß er ein taugliches Werkzeug (S12) für die Erkenntnis des Geistes wird. Wie das werden kann, davon soll in diesen Vorträgen einiges mitgeteilt werden. Gerade wenn man so recht fest steht auf dem Boden der Naturwissenschaft, dann sieht man ein, daß mit den Mitteln, mit denen sie arbeitet, eine geistige Erkenntnis sich nicht gewinnen läßt. Immer wieder und wiederum ist von erleuchteten Geistern davon gesprochen worden, daß, von dem sicheren Boden der Naturwissenschaft ausgehend, der Mensch einsehen muß, daß seine Erkenntniskraft begrenzt sei. Naturwissenschaft und Kantianismus - nur um diese zu nennen - haben dazu beigetragen, den Glauben heraufzubringen, daß die Erkenntniskräfte des menschlichen Geistes begrenzt seien, daß der Mensch nicht eindringen könne durch sein Wissen in die Gebiete, wo der Quell liegt, mit dem sich die Seele verbunden fühlen muß; wo der Mensch einsieht, daß nicht nur hereinwirken die Kräfte, die mit Naturwissenschaft überschaut werden können, sondern andere Kräfte. Da gibt Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft völlig Recht. Gerade für die Erkenntnisfähigkeiten, die die Naturwissenschaft groß gemacht haben, auf denen die Naturwissenschaft auch stehen bleiben muß als solche, für sie gibt es keine Möglichkeit, einzudringen in das geistige Gebiet.
   Aber in der menschlichen Seele schlummern andere Erkenntnisfähigkeiten, Erkenntnisfähigkeiten, die im Alltag und im Getriebe der gewöhnlichen Wissenschaft nicht verwendet werden können, die aber hervorgeholt werden können aus dieser menschlichen Seele und die, wenn sie hervorgeholt werden, wenn sie gleichsam aus den untergründlichen Tiefen der Menschenseele herausgeholt werden, dann aus dem Menschen etwas ganz anderes machen: die ihn durchkraften mit einer neuen Erkenntnisart, mit einer solchen Erkenntnisart, die eindringen kann in Gebiete, welche der bloßen Naturwissenschaft verschlossen sind. Es ist - ich lege auf den Ausdruck keinen besonderen Wert, aber er verdeutlicht die Sache - eine Art geistiger Chemie, durch die man in die geistigen Gebiete des Daseins eindringen kann, aber eine Chemie, die allerdings nur in bezug auf sichere Logik und methodisches Denken Ähnlichkeit hat mit der äußeren Chemie: es ist die Chemie des menschlichen Seelenlebens selber. - Und von diesem Gesichtspunkte aus, um uns zu verständigen, sei wiederum von mir vergleichsweise (S13) das Folgende gesagt: Wenn wir Wasser vor uns haben, so hat dieses Wasser gewisse Eigenschaften. Der Chemiker kommt und zeigt, daß in diesem Wasser Wasserstoff und Sauerstoff darinnen sind. Nehmen wir den Wasserstoff: er brennt, er ist gasförmig, er ist ganz anders als das Wasser. Würde jemand jemals, wenn er nichts von Chemie wüßte, dem Wasser ansehen können, daß in ihm Wasserstoff ist? Wasser ist flüssig, brennt nicht, löscht sogar Feuer. Wasserstoff brennt, ist ein Gas, kurz: Würde jemand dem Wasser ansehen können, daß in ihm Wasserstoff enthalten ist? - Dennoch kommt der Chemiker und trennt ab von dem Wasser den Wasserstoff. Mit dem Wasser läßt sich vergleichen der Mensch, wie er im Alltag vor uns steht, wie er vor der gewöhnlichen Wisse2nschaft steht. In ihm sind vereinigt Physisch-Leibliches und Geistig-Seelisches. Die äußere Wissenschaft und die Weltanschauung, die sich auf ihr aufbaut, sie haben völlig recht, wenn sie sagen: Ja, diesem Menschen, der uns da gegenübersteht, kann man nicht ansehen, daß in ihm ein Geistig-Seelisches ist; und begreiflich ist es, wenn eine Weltanschauung dieses Seelisch-Geistige völlig ableugnet. Aber das ist gerade so, wie wenn man die Natur des Wasserstoffes ableugnen würde.
   Allerdings die Notwendigkeit für einen Beweis liegt vor, daß das Geistig-Seelische wirklich abgetrennt von der menschlichen Wesenheit, abgesondert von dem Physisch-Leiblichen in seelisch-geistiger Chemie dargestellt werden könne. Dieses kann sein. Daß es eine solche geistig-seelische Chemie gibt, das ist es, was Geisteswissenschaft heute der Menschheit zu sagen hat, so wie der Kopernikanismus der dadurch überraschten Menschheit zu sagen hatte, daß die Erde nicht still steht, sondern in rasendem Tempo um die Sonne sich bewegt, die Sonne aber still steht. Und wie noch bis in das 19. Jahrhundert herein Kopernikanische Schriften auf dem Indes standen, so werden in gewisser Beziehung lange die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft auf dem Index anderer Weltanschauungen stehen, jener Weltanschauungen, die sich nicht losmachen können von dem, was jahrhundertealte Vorurteile sind, was Denkgewohnheiten sind. Und daß diese Geisteswissenschaft dennoch bis zu einem gewissen Grad jetzt schon Herzen und Seelen ergreifen kann, daß sie nicht gerade außerhalb des Suchens (S14) unserer Zeit liegt, dafür haben wir ja einen kleinen Beweis, dessen ich mich nicht rühmen will, der aber erwähnt werden darf als ein Zeugnis für das, ich möchte sagen, in den Seelen verborgene Zeitgemäße der Geisteswissenschaft. Sind wir ja in der Lage, bereits in unserer Zeit dieser Geisteswissenschaft eine freie Hochschule auf freiem schweizerischem Boden zu bauen; und können wir doch erblicken durch das Verständnis der Freunde dieser Geistesströmung das Wahrzeichen derselben in dem auch dem Baustil nach neuen, doppelkuppeligen Rundbau, welcher von Dornachs Höhen, bei Basel, als ein erstes äußeres Denkmal sich erheben soll für das, was diese Geisteswissenschaft der modernen Kultur einzuverleiben hat. Daß dieser Bau schon im Aufrichten ist, daß sich die Formen seiner Kuppeln schon über den Rundbau erheben, das läßt uns heute mit noch viel mehr Hoffnung und innerer Befriedigung von Geisteswissenschaft sprechen, trotz all der Gegnerschaft, trotz all des Unverständnisses, das ihr begegnet und begegnen muß heute noch in weiten Kreisen.
'Erstes Goetheanum' in Dornach/Schweiz, Modell. 1913-1922 (am 31.12.1921 durch Brandstiftung zerstört) 'Erstes Goetheanum' in Dornach/Schweiz, Modell. 1913-1922 (am 31.12.1921 durch Brandstiftung zerstört)

   Das, was ich als geistige Chemie bezeichnet habe, ist allerdings nichts, was erreicht werden kann durch äußere Methoden, die man mit den Augen ansehen kann, die durch äußere Verrichtungen herbeigeführt werden. Das, was geistige Chemie genannt werden kann, vollzieht sich lediglich an der menschlichen Seele selber, und Verrichtungen sind es intimer seelisch-geistiger Art, Verrichtungen, welche die Seele nicht so lassen, wie sie im alltäglichen Leben ist, sondern welche wirken auf diese Seele so, daß sie sich umartet, daß sie zu einem ganz anderen Erkenntniswerkzeug wird, als sie gewöhnlich ist. Und nicht sind es irgendwelche, man möchte sagen, wunderbare Verrichtungen, irgendwelche vom Aberglauben hergenommenen Verrichtungen, die also in geistiger Chemie angewendet werden, sondern es sind durchaus innere, geistig-seelische Verrichtungen, welche sich aufbauen auf dem, was auch im alltäglichen Leben vorhanden ist: Kräfte der Seele, die immer da sind, die wir im alltäglichen Leben brauchen, die aber in diesem alltäglichen Leben, ich möchte sagen, nur nebenher verwendet werden, die aber unermeßlich gesteigert werden müssen, ins Unbegrenzte sich erkraften müssen, wenn der Mensch wirklich zum geistigen Erkenner werden soll.                                                                                                   

(S15)     Die eine Kraft, die in unserem ganzen seelischen Leben sich betätigt mehr nebenher, aber unermeßlich gesteigert werden muß, wir können sie nennen: die Aufmerksamkeit. Was ist Aufmerksamkeit? Nun, wir lassen das Leben, das an der Seele vorüberflutet, nicht so, wie es sich selbst gestaltet, vorüberfluten; wir raffen uns im Inneren auf, um den geistigen Blick auf dieses oder jenes hinzurichten. Einzelne Dinge greifen wir heraus, stellen sie in das Blickfeld unseres Bewußtseins, konzentrieren die Seelenkräfte auf diese Einzelheiten. Und wir dürfen sagen: Nur dadurch ist unser seelisches Leben, das Aktivität braucht, auch im Alltag möglich, daß wir entwickeln können ein solches Interesse, das heraushebt einzelne Ereignisse und Tatsachen und Wesenheiten aus dem vorüberflutenden Strom des Daseins. Diese Aufmerksamkeit, sie ist im gewöhnlichen Leben durchaus notwendig. Man wird immer mehr und mehr einsehen, gerade wenn auch Geisteswissenschaft ein wenig in die Seelen eindringt, daß im Grunde genommen das, was die Menschen die Gedächtnisfrage nennen, nur eine Aufmerksamkeitsfrage ist, und das wird wichtige Gesichtspunkte werfen selbst auf alle Erziehungsfragen. Man kann geradezu sagen, je mehr man sich bemüht, schon beim heranwachsenden und auch beim späteren Menschen die Seele immer wieder und wiederum in die Tätigkeit der Aufmerksamkeit zu versetzen, desto mehr wird das Gedächtnis verstärkt. Nicht allein, daß es besser wirkt für die Dinge, auf die wir aufmerksam gewesen sind, sondern je öfter wir diese Aufmerksamkeitstätigkeit ausüben können, desto mehr wächst unser Gedächtnis heran, desto intensiver gestaltet es sich. Und ein anderes noch: Wer hätte heute nicht gehört von jener traurigen Seelenerscheinung, die man die Diskontinuität des Bewußtseins nennen könnte. Es gibt heute Menschen, die kein volles Zurückschauen haben auf ihr seitheriges Leben, wo sie hinterher nicht wissen: Du warst mit deinem Ich in diesem oder jenem Erlebnisse; diep nicht wissen, was sie durchgemacht haben. Vorkommen kann es, daß solche Menschen ihr Heim verlassen, weil sie die Folgerichtigkeit in ihrem seelischen Erleben verloren haben. Vorkommen kann es, daß solche Menschen ihr Heim verlassen ohne Sinn und Verstand, daß sie wie mit Verlust ihres eigenen Ichs durch die Welt gehen, so daß sie erst nach Jahren wieder finden ihr Ich und anknüpfen können (S16) an das, was da ihr Ich erlebt hat. Niemals würden solche Erscheinungen zu jener Tragik führen können, zu der sie oftmals führen, wenn man wüßte, daß auch diese Integrität, dieses In-sich-voll-bewußt-Halten des Bewußtseins abhängt von einer regelrechten Entwicklung der Aufmerksamkeitsbetätigung.

   So ist Aufmerksamkeitsbetätigung etwas, was wir im gewöhnlichen Leben durchaus brauchen. Der Geistesforscher muß anknüpfen an sie, muß sie entwickeln zu besonderer innerer Seelenerkraftung, muß sie vertiefen zu dem, was man nennen könnte Meditation, Konzentration. Das sind die technischen Ausdrücke für die Sache. So wie wir im gewöhnlichen Leben, veranlaßt durch das Leben selber, dem oder jenem Gegenstand die Aufmerksamkeit zuwenden, so wendet der Geistesforscher aus innerer Seelenmethodik heraus alle Seelenkräfte auf eine Vorstellung, ein Bild, eine Empfindung, einen Willensimpuls, eine Gemütsstimmung, die er überschauen kann, die ganz klar vor seiner Seele ist, und auf die er alle Seelenkräfte konzentriert; aber so konzentriert, daß er, wie nur sonst im tiefen Schlaf, alle Sinnentätigkeit unterdrückt hat, die sich auf Äußeres richtet, daß er alles Denken und Trachten, alle Sorgen und Affekte des Lebens so zum Stillstand gebracht hat, wie sonst nur im tiefen Schlaf. In bezug auf das gewöhnliche Leben wird in der Tat der Mensch so, wie sonst im tiefen Schlaf; nur daß er sein Bewußtsein nicht verliert, daß er es völlig wach erhält. Aber alle Kräfte der Seele, die sonst zerstreut sind auf das äußere Erleben, auf die Sorgen und Bekümmernisse des Daseins, die sind konzentriert auf die eine, durch Willkür in den Mittelpunkt des menschlichen Seelenlebens gestellte Vorstellung, Empfindung oder sonstiges. Dadurch drängen sich die Seelenkräfte zusammen und das, was sonst nur schlummert, nur wie zwischen den Zeilen des Lebens für dieses Leben mitwirkt, das kraftet sich heraus, prägt sich heraus aus der menschlichen Seele; und es tritt tatsächlich ein, daß durch diese innere Erkraftung der menschlichen Seele in der konzentrierten Tätigkeit, in der ins Unermeßliche gesteigerten Aufmerksamkeit, diese Seele sich so in sich erleben lernt, daß sie fähig wird, sich bewußt herauszureißen aus dem physisch-sinnlichen Leib, wie der Wasserstoff durch die chemische Methode herausgelöst wird aus dem Wasser, (S17) Allerdings, es ist eine innere seelische Erarbeitung, die durch Jahre geht, wenn der Geistesforscher seine Seele durch solche Aufmerksamkeits-, durch solche Konzentrationsbetätigung dazu befähigen will, sich herauszureißen aus dem physischen Leib. Dann aber kommt die Zeit, wo der Geistesforscher einen Sinn zu verbinden weiß mit dem Worte, oh, mit dem der heutigen Welt so paradox klingenden Worte, mit dem dieser Welt so phantastisch erscheinenden Worte: Ich erlebe mich als geistig seelisches Wesen außerhalb meines Leibes und ich weiß, daß dieser Leib außerhalb meiner Seele sich befindet - nun, wie der Tisch sich außerhalb meiner Seele befindet. Ich weiß, daß die Seele, innerlich erkraftet, sich so erleben kann, auch wenn sie den Leib wie ein fremdes Objekt vor sich hat, diesen Leib mit all seinen Schicksalen, die er im gewöhnlichen äußeren Leben durchläuft. Der Mensch wird sich in dem, was er sonst ist, vollständig äußere Wesenheit und er erlebt sich als geistig seelisches Wesen in Absonderung von seinem Leib, und dieses geistig seelische Wesen zeigt dann ganz andere Eigenschaften, als es zeigt, wenn es mit dem physisch-sinnlichen Leibe verbunden ist und sich des an das Gehirn gebundenen Verstandes bedient.

 

   Zunächst löst sich die Denkkraft los von dem physischen Erleben.- Da ich nicht in Abstraktionen sprechen will, sondern von wirklichen Tatsachen berichten möchte, so stoßen sie sich nicht daran, daß ich ungeschminkt, vorurteilsfrei schildern möchte das, was heute noch so paradox klingt. Wenn der Geistesforscher anfängt einen Sinn zu verbinden mit dem Wort: Du lebst jetzt in deiner Seele; du weißt, daß deine Seele ein wirklich geistiges Wesen ist, in dem du dich erlebst, wenn du außerhalb deiner Sinne und des Gehirns bist; dann erfühlt er sich zunächst mit seinem Denken wie außerhalb seines Gehirns, seinen Kopf umwebend und umlebend. Ja, er weiß, da man, solange man im physischen Leib zwischen der Geburt und dem Tode steht, immer wieder und wieder in den Leib zurückkehren muß -, es weiß der Geistesforscher genau den Moment zu beobachten, wo er, nachdem er mit dem rein Geistig-Seelischen gelebt hat, wiederum zurückkehrt mit seinem Denken in sein Gehirn. Er erlebt es, wie dieses Gehirn einen Widerstand bietet, fühlt, wie er gleichsam mit den Wellen des früheren, rein geistigen Lebens untertaucht und dann hineinschlüpft (S18) in sein physisches Gehirn, das jetzt in seiner eigenen Betätigung wiederum dem folgt, was das Geistig-Seelische vollbringt. Dieses Erleben außerhalb des Leibes und dieses wiederum Untertauchen in den Leib, es gehört zu den erschütterndsten Erlebnissen des Geistesforschers.

    Aber dieses rein in sich selber sich erlebende Denken, das außerhalb des Gehirns verläuft, stellt sich anders dar, als das gewöhnliche Denken. Die gewöhnlichen Gedanken sind schattenhaft gegen die Gedanken, die nunmehr wie eine neue Welt dastehen vor dem Geistesforscher, wenn er außerhalb seines Leibes ist. Es durchdringen sich die Gedanken mit innerer Bildhaftigkeit. Deshalb nennen wir das, was sich da hinstellt vor das geistige Auge: Imaginationen - aber nicht deshalb, weil wir glauben, daß diese nur etwas Phantastisches, Erdachtes enthalten, sondern weil das, was da wahrgenommen wird, tatsächlich bildhaft erlebt wird, imaginiert wird; aber diese Imagination ist ein Untertauchen in die Dinge selbst, man erlebt die Dinge und Vorgänge der geistigen Welt, und die Dinge und Vorgänge der geistigen Welt stellen sich in Imaginationen vor die Seele hin. - So kann das Denken abgesondert werden von dem physisch-leiblichen Leben, und der Geistesforscher kann sich wissen in einer Welt geistiger Vorgänge und Wesenheiten.     Aber auch andere Kräfte des Menschen können abgelöst werden von dem rein Leiblich-Physischen. Wenn das Denken abgelöst wird, dann erlebt der Geistesforscher zunächst nach all dem, was jetzt geschildert worden ist, sich selber in seiner rein geistig-seelischen Wesenheit; aber es ist das, was er da mit den Dingen und Vorgängen in der geistigen Welt erlebt, eine ganz andere Art und Weise des Wahrnehmens als das gewöhnliche Wahrnehmen. Wenn man gewöhnlich die Dinge wahrnimmt, sind sie dort, und man selber ist hier; sie stehen einem gegenüber. So ist es nicht von dem Augenblick an, wo man im geistig-seelischen Erleben eine geistige Welt um sich hat, die wirklich mit derselben Notwendigkeit aufsteigt, wie um den Blindgeborenen herum Farben und Licht sich erheben, wenn er operiert worden ist. Nein, so wie die äußere Welt erlebt man die geistige Welt nicht. Dieses Erleben ist ein solches, daß man die Dinge und Wesenheiten der geistigen Welt (S19) nicht bloß vor sich hat, sondern daß man mit seinem ganzen Wesen untertaucht in sie. Dann weiß man: Du nimmst die Dinge und Wesenheiten wahr, indem du mit deinem Wesen in sie ausgeflossen bist und das, was in ihnen ist, so wahrnimmst, daß sie sich in den Bildern nachbilden, die du schaust. Man fühlt sich in fortwährender Tätigkeit. Deshalb könnte man nennen dieses Aufleben der imaginativen Gedankenwelt eine geistige Mimik, ein geistiges Mienenspiel. Man reißt sich aus dem Leiblichen mit seinem Seelisch-Geistigen heraus; aber dieses Seelisch-Geistige ist in fortwährender Tätigkeit und taucht unter in die Vorgänge der geistigen Welt und ahmt nach, was in ihnen als ihre eigenen Kräfte lebt; und man fühlt sich so mit den Wesen verbunden, daß man vergleichen kann dieses Untertauchen damit, wie wenn jemand einem Menschen gegenüberstünde, erraten könnte, was in diesem lebt, und ein solches inneres Miterleben hätte, daß er in seinem eigenen Mienenspiel den Ausdruck der Trauer zeigen müßte, wenn der andere traurig wäre, und in seinem eigenen Mienenspiel den Ausdruck der Freude zeigen müßte, wenn der andere freudig wäre. So erlebt man geistig-seelisch mit, was andere erleben; man wird selber der Ausdruck davon. In der geistigen Miene drückt man selbst das Wesen der Dinge aus. Ein aktives Wahrnehmen ist es, zu dem man getrieben wird. Man darf sagen: Geistesforschung stellt ganz andere Anforderungen an die menschliche Seele als äußere Forschung, die die Dinge passiv hinnimmt, die Anforderungen, daß die Seele in innerer Regsamkeit ist und untertauchen kann in die Dinge und Wesenheiten und zum Selbstausdruck desjenigen wird, was die Dinge ihr darbieten.

   So wie nun die Denkkraft als Geistig-Seelisches eben in geistiger Chemie herausgesondert werden kann aus dem Physisch-Leiblichen, so kann auch eine andere Kraft, die der Mensch sonst nur im Leibe verwendet, die sich sozusagen hineingießt in den Leib, aus diesem Leib herausgesondert werden. So sonderbar das klingt: Diese andere Kraft ist die Sprachkraft, die Kraft, die wir sonst im gewöhnlichen Leben im Sprechen anwenden.

   Wie ist es denn, wenn wir sprechen? Unsere Gedanken leben in uns, unsere Gedanken lassen mitvibrieren unser Gehirn; dieses hat seine (S20) Verbindung mit dem Sprachapparat, Muskeln werden in Bewegung gesetzt; was wir innerlich erleben, fließt aus in die Worte und lebt in diesen Worten. Können wir nicht sagen und gerade von dem Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft aus müssen wir das sagen: In dem Sprechen ergießen wir, was in unserer Seele ist, in leiblich-physische Organe hinaus. Dadurch, daß der Mensch die Aufmerksamkeit also steigert, wie es geschildert worden ist, und noch etwas anderes hinzufügt - wiederum eine solche Betätigung, die gewöhnlich schon vorhanden ist und auch ins Unbegrenzte gesteigert werden muß-, entsteht die Loslösung der Sprachkraft von dem physisch-sinnlichen Leibe. Diese Kraft ist die Hingabe.

   Wir kennen sie in den Momenten, wo wir religiös fühlen, wo wir in Liebe diesem oder jenem Wesen hingegeben sind, wo wir in strenger Forschung den Dingen und ihren Gesetzen folgen können, wo wir uns selbst vergessen können mit all unseren Empfindungen und Gedanken. Wir kennen sie, diese Hingabe. Sie verfließt eigentlich nur zwischen den Zeilen des gewöhnlichen Lebens. Der Geistesforscher muß diese Kraft ins Unendliche steigern; unbegrenzt muß er sie erkraften. Er muß in der Tat dem Strom des Daseins so hingegeben sein können, wie er sonst nur hingegeben ist diesem Strom des Daseins . ohne selbst etwas dazu zu tun zu dem, was er erlebt - im tiefen Schlaf, wenn alle Regsamkeit seiner Glieder ruht, wenn alle Sinne schweigen, wenn der Mensch nur ganz hingegeben ist und nichts tut; aber dann ist er im Schlaf in die Bewußtlosigkeit verfallen. Wenn sich aber der Mensch durch innere Willkür dazu aufraffen kann, immer wieder und wiederum es als Übung seiner Seele zu machen, daß er alle Sinnestätigkeit unterdrückt, daß er alle Regsamkeit der Glieder unterdrückt, daß er sein physisch-sinnliches Leben versetzt in einen Zustand, wie er sonst nur im tiefen Schlafe ist, dabei aber wach bleibt, vollständig sein inneres Bewußtsein licht erhält und das Gefühl, die Empfindung entwickelt, eingegossen zu sein dem Strom des Daseins, nichts zu wollen als das, was die Welt mit einem will: wenn er dieses Gefühl immer wieder und wiederum hervorruft, wenn er es aber hervorruft gerade immer mehr und mehr.

   (S21) Nur müssen die beiden Übungen - die mit der Aufmerksamkeit und die mit der Hingabe - abgetrennt voneinander gemacht werden; denn sie widersprechen einander. Hat die Aufmerksamkeit erfordert höchste Anspannung, Konzentration nach einem Objekte hin: die vertiefte Meditation; so erfordert Hingabe, passive Hingabe an den Strom des Daseins, unermeßliche Steigerung desjenigen Gefühls, das wir finden im religiösen Erleben oder in sonstiger Hingabe an ein geliebtes Wesen. Die Früchte, die der Mensch aus solch unermeßlicher Steigerung der Hingabe und Aufmerksamkeit schöpft, sind eben, daß er sein geistig-seelisches Leben heraussondert aus dem Physisch-Leiblichen. Und so kann die Kraft, die sonst in das Wort sich ausgießt, die dadurch sich betätigt, daß sie nicht in sich stehen bleibt, sondern die Nerven in Bewegung versetzt, diese Kraft kann abgetrennt werden von der äußeren Sprachbetätigung, kann im Seelisch-Geistigen in sich selber bleiben. Da wird die Sprachkraft - so können wir sie nennen - aus ihrem Sinnlich-Physischen herausgerissen, und der Mensch erlebt dasjenige, was man mit einem Goetheschen Wort das geistige Gehör, das geistige Hören nennen kann.

 

   Wiederum ist es so, daß der Mensch sich erlebt außerhalb seines Leibes, aber jetzt so, daß er untertaucht in die Dinge und das innere Wesen der Dinge wahrnimmt; aber auch so wahrnimmt, daß er es in sich selber nachbildet, wie mit einer inneren Gebärde, nicht bloß wie mit einer Miene, sondern mit innerer Gebärde, wie mit einer inneren Geste. Das aus dem Leib herausgerissene Seelisch-Geistige betätigt sich so, wie wenn wir versucht sind, durch eine besondere Anlage in bezug auf unser Nachahmungstalent, das durch unsere Geste auszudrücken, was uns beschäftigt. Was da nur durch besondere Anlagen gemacht wird, das macht die aus dem Leib herausgerissene Seele, um wahrzunehmen. Sie taucht unter in die Dinge, und was für Kräfte da drinnen spielen, das bildet sie aktiv nach. All dieses Wahrnehmen in der geistigen Welt ist ein Sich-Betätigen, und indem man die Tätigkeit wahrnimmt, in die man sich versetzen muß, weil man nachbildet das innere Weben und Wesen der Dinge, nimmt man diese Dinge wahr. In der äußeren sinnlichen Welt ist das Hören passiv, wir hören zu. - Sprechen und Hören fließen zusammen im geistigen Hören. Wir (S22) tauchen unter in das Wesen der Dinge; wir hören ihr inneres Weben. Was Pythagoras die Sphärenmusik genannt hat, ist etwas, was der Geistesforscher wirklich erreichen kann. Er taucht unter in die Dinge und Wesen der geistigen Welt und hört, aber hört, indem er ausspricht. Ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen im Untertauchen in das Wesen der Dinge ist das, was man erlebt. Die wahre Inspiration ist es, die sich also ergibt.

   Und eine dritte innere Betätigung, eine dritte Art inneren Erlebens kann über den Geistesforscher kommen, wenn er die gesteigerte Aufmerksamkeit und Hingabe immer weiter entwickelt. Was da an und in dem Geistesforscher auftritt, indem er sich außerhalb seines Leibes erlebt, ich möchte es in der folgenden Weise besprechen.

   Betrachten wir das Kind. Es ist des Menschen Eigentümlichkeit - ich kann nicht ausführlich darüber sprechen, ich will das nur andeuten, was zum Zweck des heutigen wichtig ist -, es ist eine Eigentümlichkeit des heranwachsenden Menschen, daß er sich seine Richtung im Raume, daß er sich die Art und Weise, in den Raum hineingestellt zu sein, selber geben muß im Laufe des Kindheitslebens. Der Mensch wird geboren, indem er nicht gehen, nicht stehen kann, indem er sich anfangs, wie man hier in Österreich zu sagen pflegt, aller Viere bedienen muß. Dann entwickelt er jene inneren Kräfte, die ich Aufrichtekräfte nennen möchte, und dadurch tritt im Menschen das hervor, was so viele tiefere Geister in seiner Bedeutung gefühlt haben, indem sie sagten: dadurch, daß sich der Mensch in die vertikale Richtung erheben kann, weiß er den Blick hinauszurichten in die Weiten des Himmelsraumes, haftet sein Blick nicht bloß an dem Irdischen. Aber das Wesentliche ist, daß der Mensch durch innere Kräfte, durch inneres Erkraften und Erleben sich herausentwickelt sozusagen aus seinem hilflosen horizontalen Leben in das aufrechte vertikale Leben hinein. Der Naturwissenschafter wird schon einsehen, daß das, was da an innerer Betätigung des Menschen vorhanden ist, etwas ganz anderes ist als die Vererbungskräfte, die dem Tiere seine Richtkräfte geben in der Welt. Ganz anders wirken die Kräfte im Tier, die das Tier in diese oder jene Richtung zum Vertikalen bringen, als im Menschen, in welchem eine Summe von Kräften wirkt, die ihn herausreißt aus (S23) seiner hilflosen Lage, und die innerlich wirkt, um ihm anzuweisen diejenige Raumesrichtung, durch die er eigentlich im wahren Sinn des Wortes Erdenmensch ist, durch die er erst wird, was er als Mensch auf der Erde ist. Diese Kräfte wirken sehr im Verborgenen. Man kommt ihnen nur bei, wenn man sich schon ein wenig in Geisteswissenschaft vertieft hat; aber es ist ein ganzes System, eine große Summe von Kräften. Sie werden nicht alle verbraucht in der kindlichen Zeit des Menschen, wo er stehen und gehen lernt. Es schlummern gerade Kräfte von dieser Art noch im Menschen drinnen; aber sie bleiben unbenützt im äußeren Sinnesleben und im äußeren Wissenschaftsleben.

   Durch das, was die Seele an Übungen gesteigerter Aufmerksamkeit und Hingabe verrichtet, wird der Mensch innerlich gewahr, wie in ihm sitzen diese Kräfte, die ihn aufgerichtet haben als Kind. Er wird geistiger Richtkräfte, geistiger Bewegungskräfte sich bewußt und die Folge davon ist, daß er zu der inneren Mimik, zu dem inneren Mienenspiel, zu der inneren Gebärdenfähigkeit, zu der inneren Geste, auch innere Physiognomie seines Geistig-Seelischen hinzuzufügen vermag. Wenn das Geistig-Seelische so heraus ist aus dem Physisch-Leiblichen, wenn der Mensch anfängt als Geistesforscher einen Sinn verbinden zu können mit dem Wort: Du erlebst dich im Geistig-Seelischen -, dann kommt auch die Zeit, wo er sich der Kräfte bewußt wird, die ihn aufgerichtet haben, die ihn als physisch-sinnliches Wesen vertikal auf die Erde gestellt haben. Diese Kräfte verwendet er jetzt im rein Geistig-Seelischen, und dadurch kommt er in die Lage, diese Kräfte anders zu verwenden als sonst im Leben; er gelangt dazu, diesen Kräften andere Richtungen zu geben, aus sich selber eine andere Gestalt zu machen als er gemacht hat im physischen Erleben während seiner Kindheit. Er weiß jetzt innere Bewegungen zu entwickeln, weiß sich allen Richtungen anzupassen, er weiß seinem Geistigen andere Physiognomien zu geben denn als Erdenmensch; er gelangt dazu, hinunterzutauchen in andere geistige Vorgänge und Wesen; er weiß sich so zu verbinden, daß er die Kräfte, die ihn sonst vom kriechenden Kinde zum aufrechten Menschen wandeln, daß er diese wandelt im Inneren der geistigen Dinge und Wesenheiten, so daß er diesen (S24) Dingen und Wesenheiten ähnlich wird und sie so selber ausdrückt und dadurch wahrnimmt. Das ist die reale Intuition. Denn das wirkliche Wahrnehmen geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist ein Untertauchen in dieselben, ist ein Annehmen ihrer eigenen Physiognomie. Während man das, was Vorgänge in den Wesen sind, erlebt durch innere Mimik, während man die Beweglichkeit der geistigen Wesen erlebt dadurch, daß man ihre Gesten nachzubilden vermag; vermag man die eigene Gestalt des Geistigen anzunehmen, dadurch nimmt man es wahr, daß man es sozusagen selbst geworden ist.

 

   Ich habe Ihnen nicht in allgemein philosophischen Ausdrücken schildern wollen die Art und Weise, wie sich der Geistesforscher hineinlebt in die geistigen Welten, ich habe ihnen möglichst konkret schildern wollen, wie dieses geistig-seelische Erleben vom Leiblichen, vom physisch-sinnlichen Wahrnehmen sich losreißt und untertaucht in die geistige Welt, indem es aktiv wahrnehmend in derselben wird. Das aber ist ersichtlich geworden, daß jeder Schritt in die geistige Welt hinein von Aktivität begleitet werden muß, daß wir bei jedem Schritte wissen müssen, daß die Dinge uns nicht ihr Wesen entgegentragen, sondern daß wir nur das wissen können von den Dingen und Vorgängen der geistigen Welt, was wir nachzubilden, nachzuschaffen imstande sind, indem wir uns aktiv wahrnehmend verhalten können. Das ist der große Unterschied der Geisterkenntnis von der gewöhnlichen äußeren Erkenntnis, daß diese äußere Erkenntnis sich passiv hingibt den Dingen, daß die Geisteswissenschaft in fortwährender Aktivität leben muß, daß der Mensch werden muß zu dem, was er wahrnehmen will.

   Es wird einem heute noch, oder man könnte auch sagen, heute schon wiederum verziehen, wenn man im allgemeinen von einer geistigen Welt spricht. Das lassen sich die Leute noch gefallen. Das aber wirkt noch auf unsere Zeit paradox, daß jemand sagen kann: Der Mensch kann sich loslösen von allem Sehen, Hören, allen sinnlichen Wahrnehmungen, allem Denken, das an Nerven und Gehirn gebunden ist, und kann sich dann, indem vor ihm ganz verschwindet alles, was erlebt wird im physischen Dasein, umgeben fühlen, umgeben (S25) wissen von einer ganz neuen konkreten Welt, ja, von einer Welt, in der Vorgänge und Wesen rein geistiger Art sind, so wie hier in der physischen Welt Vorgänge und Wesen physischer Art sind. Nicht ein verschwommener Pantheismus, nicht eine allgemeine Sauce des geistigen Lebens ist es, wovon Geisteswissenschaft zu sprechen hat. Der Geisteswissenschaft gegenüber ist es, wenn man nur von einem pantheistischen Geisteswesen spricht, so, wie wenn man sagte: Ich führe dich auf eine Wiese, da sprießt etwas auf, das ist Natur, dann führt man ihn in eine Laboratorium und sagt: Das ist Natur, Pan-Natur! Alle Blumen und Käferchen und Bäume und Sträucher, alle chemischen und physikalischen Vorgänge: Pan-Natur! Die Leute würden wenig zufrieden sein mit solcher Pan-Natur; denn sie wissen, man kommt nur zurecht, wenn man das Einzelne wirklich verfolgen kann. Ebensowenig wie die äußere Wissenschaft von Pan-Natur spricht, ebensowenig spricht Geisteswissenschaft von einer allgemeinen Geistessauce; sie spricht von wirklichen, wahrnehmbaren, konkreten geistigen Vorgängen und Wesenheiten. Sie darf sich nicht scheuen, herauszufordern die Zeit, indem sie sagt: Geradeso wie wir, wenn wir in der physischen Welt stehen, zunächst die Menschen als physische Wesen um uns sehen unter den, man könnte sagen, Hierarchien der physischen Wesen, der Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen-, so schwindet das um uns herum aus unserem geistigen Horizont, wenn wir uns hineinleben in die geistige Welt; aber auftauchen geistige Reiche, geistige Hierarchien: Wesen, die zunächst dem Menschen gleich sind, Wesen, die höher sind als der Mensch; und so wie vom Menschen nach unten gehen die Tiere, Pflanzen und Mineralien in der physischen Welt, so sind da Wesen und Geschöpfe hinaufsteigend vom Menschen in höhere Reiche des Daseins, einzelne, individuelle geistige Wesenheiten und Geschöpfe.

 

   Wie die Menschenseele sich selber hineinstellt in die geistige Welt, wie ihr Leben ist innerhalb dieser geistigen Welt nach der Geistesforschung, die im Prinzip heute angedeutet worden ist; wie die Menschenseele zu leben hat in dieser geistigen Welt, wenn sie den physischen Leib beim Tode ablegt, wenn sie den Gang durchmißt, nachdem sie durch die Pforte des Todes geschritten ist, in einer rein geistigen (S26), davon soll dann übermorgen die Rede sein. Über einzelne Erkenntnisse der Geisteswissenschaft über dieses Leben nach dem Tod soll der übermorgige Vortrag handeln.

   Das, was Geisteswissenschaft so schon als ihre Methode ausbildet - nun, man merkt es sofort -, es unterscheidet sich sehr wesentlich von dem, was unsere Zeitgenossen als solches noch zugeben können aus den Denkgewohnheiten heraus, die sich einmal gebildet haben im Laufe der Jahrhunderte, und die ebenso fest sitzen gegenüber dieser Geisteswissenschaft wie die Denkgewohnheiten vergangener Jahrhunderte festgesessen sind gegenüber dem kopernikanischen Weltsystem. Aber, wie muß Geisteswissenschaft denken gegenüber dem Suchen der Zeit, wenn sie sich recht verstehen will und wenn sie sich recht verhalten will gegenüber diesem Suchen der Zeit?

   Der erste Einwand, der aus unserer Zeit heraus so leicht gemacht werden kann, ist der, daß man sagt: Ja, der Geisteswissenschafter spricht also davon, daß die Seele erst besondere Kräfte entwickeln soll; dann kann sie hineinschauen in die geistige Welt. Derjenige, der diese Kräfte noch nicht entwickelt hat, der es noch nicht gebracht hat zum geistigen Bilderbilden, zum Trennen des Denkens, zum Abtrennen der Sprachkräfte, zum Abtrennen der Raumesrichtekräfte, der Wesensrichtekräfte, den ginge also die geistige Welt gar nichts an! Solcher Einwand ist gerade so wie der, der sagen würde: Derjenige, der nicht malen kann, den gehen Bilder nichts an. - Das wäre schlimm. Malen kann Bilder nur derjenige, der malen gelernt hat. Aber es wäre traurig, wenn derjenige nur Bilder begreiflich und verständlich finden könnte, der malen könnte. Malen kann es freilich nur der Maler; wenn aber das Bild vor dem Menschen steht, dann ist es so, daß die Menschenseele die ganz naturgemäßen Kräfte in sich hat, das Bild zu verstehen, auch wenn sie nicht vermag, es zu malen. Und die menschliche Seele hat eine Sprache in sich, die sie mit der lebendigen Kunst verbindet. So ist es mit der Geisteswissenschaft. Auffinden die Tatsachen und Vorgänge und Wesenheiten der geistigen Welt und sie schildern, das kann nur der, der selber zum Geistesforscher geworden ist; wenn aber der Geistesforscher sich bemüht - wie es zum Beispiel in bezug auf die geisteswissenschaftliche Methode heute versucht (S27) worden ist -, das, was er in der geistigen Welt erforscht, in die Worte der gewöhnlichen Gedanken und Ideen zu kleiden, dann ist das, was er so gibt, begreiflich jeder Seele, auch wenn sie kein Geistesforscher geworden ist; wenn sie nur hinwegzuräumen vermag all das, was aus der zeitgenössischen Bildung, was aus der Bildung kommt, die sich so gibt, als ob sie auf dem festen Boden der Naturwissenschaft stünde, die in Wahrheit aber durchaus nicht auf ihm steht, sondern es nur glaubt. Wenn sich die Seele nur aller Vorurteile begibt, wenn sie sich nur wirklich unbefangen wie der Betrachtung eines Bildes hingibt demjenigen, was der Geistesforscher zu künden weiß, dann ist das Ergebnis der Geistesforschung für jede Seele verständlich. Die menschlichen Seelen sind auf Wahrheit und auf Wahrheitsempfindung veranlagt, nicht auf die Empfindung der Unwahrheit und des Unrichtigen, wenn sie nur hinwegräumen allen Schutt, der sich aus Vorurteilen ansammelt. Tief ist in den Menschenseelen eine geheime intime Sprache, die Sprache, durch die jeder auf jeder Bildungs- und Entwicklungsstufe den Geistesforscher verstehen kann, wenn er nur will.

   Das ist es aber, was gerade der Geisteswissenschafter in dem Suchen unserer Zeit findet. In verflossenen Jahrhunderten haben die Menschen einzig und allein geglaubt, über die geistige Welt etwas wissen zu können durch die Glaubensvorstellungen; in der letzten Zeit haben diese Seelen glauben können, daß ein sicheres Wissen sich nur auf den äußeren Tatsachen aufbauen lasse; in unserer Zeit wissen es die Seelen nur noch nicht in ihrem Oberbewußtsein, wie man sagen kann - bei dem, was sie sich deutlich machen können in Begriffen und Vorstellungen und Gefühlen, sitzt es noch nicht -. aber für den Geistesforscher ist es klar: Wir leben in einer Zeit, in der sich in den Tiefen der menschlichen Seelen, in jenen Tiefen, von denen diese Seelen selber noch nicht viel wissen, vorbereitet Sehnsucht nach der Geisteswissenschaft, Hoffnung auf diese Geisteswissenschaft. Immer mehr und mehr wird man erkennen, daß alte Vorurteile schwinden müssen. Namentlich in bezug auf das Denken wird man dann so manches erkennen. So wird es heute noch viele Menschen geben - gerade diejenigen, die glauben auf einem festgefügten philosophischen Boden zu stehen -, die da sagen: Hat es nicht Kant bewiesen, hat es nicht (S28) die Physiologie bewiesen, daß der Mensch hinter die Sinneswelt nicht hinuntertauchen kann mit seinem Wissen? Und nun kommt da eine solche Geisteswissenschaft und will Kant bekämpfen, will zeigen, daß das nicht richtig sei, was die moderne Physiologie so klärlich zeigt! - Ja, Geisteswissenschaft will gar nicht zeigen, daß das unrichtig sei, was Kant von seinem Standpunkt aus sagt und was die moderne Physiologie von ihrem Standpunkte aus sagt; aber die Zeit, das heute noch im geheimen wirkende Suchen der Zeit, wird lernen, daß es noch einen anderen Gesichtspunkt gegenüber richtig und unrichtig gibt als den, an den man sich gewöhnt hat. Nehmen wir, wie sich die wirkliche Lebenspraxis - die Lebenspraxis, die die fruchtbare ist -, wie sich die zu diesen Dingen verhält.

   Es könnte jemand durch strikte Beweise erhärten, daß der Mensch mit seinen Augen unfähig ist, zum Beispiel Zellen zu sehen. Solch ein Beweisgang könnte ganz richtig sein, so richtig wie der Kantsche Beweisgang, daß der Mensch mit den Fähigkeiten, die Kant kennt, nicht eindringen kann in das Wesen der Dinge. Nehmen wir an, es gäbe noch keine mikroskopische Forschung, und es sei bewiesen, der Mensch könne nicht kleinste Teile sehen; das kann richtig sein. Der Beweis kann in jeder Beziehung absolut klappen und nichts könnte einzuwenden sein gegen den strengen Beweis, daß der Mensch mit seinen Augen zunächst die kleinsten Teilorganismen der großen Organismen nicht sehen kann. Aber darauf kam es nicht an im wirklichen Fortgang der Forschung, da kam es darauf an, trotz der Richtigkeit dieses Beweises zu zeigen, daß physische Werkzeuge gefunden werden können, Mikroskop, Teleskop und andere, um das zu erreichen, was ganz beweisbar nicht erreicht werden kann, wenn die Fähigkeiten unbewaffnet bleiben, die der Mensch hat. Recht haben die, die da sagen: Die menschlichen Fähigkeiten sind begrenzt; aber die Geisteswissenschaft widerspricht ihnen nicht, sie zeigt nur, daß es ebenso eine geistige Erkraftung und Verstärkung der menschlichen Erkenntniskräfte gibt, wie es eine physische Erkraftung gibt, und daß trotz der Richtigkeit des entgegengesetzten Gedankenganges die fruchtbare Geistesforschung sich gerade jenseits eines solchen Richtigen und Unrichtigen stellen muß. Die Menschen werden lernen, nicht mehr zu pochen (S29) auf das, was sich mit den beschränkten Mitteln der Beweiskräfte, die man hat, eben beweisen läßt; sie werden einsehen, daß das Leben andere Anforderungen an die Menschheitsentwicklung stellt als das, was man manchmal so unmittelbar logisch sicher nennt.

    Und ein anderes muß gesagt werden, wenn das wirkliche, nicht bloß das eingebildete Suchen der Zeit in Beziehung gebracht werden soll zu demjenigen, was Geisteswissenschaft wirklich als Aufgabe, als Ziel hat. Noch einmal darf da hingewiesen werden auf die wahrhaft gewaltigen Fortschritte der Naturwissenschaft. Es ist nicht zu verwundern gegenüber diesen großen, gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft, daß es heute Geister gibt, die da glauben, auf dem festen Boden der Naturwissenschaft ein Weltgebäude errichten zu können, das allerdings nicht auf solche Kräfte reflektiert, wie sie heute besprochen worden sind. Es gibt heute eine schon weitverbreitete, ich möchte sagen, materialistisch gefärbte Geistesrichtung; aber sie nennt sich etwas nobler, weil der Ausdruck materialistisch in Mißklang gekommen ist, die monistische Geistesströmung: diese monistische Geistesströmung, deren Oberhaupt der ganz gewiß auf seinem naturwissenschaftlichen Gebiet bedeutende Ernst Haeckel und deren Feldmarschall Wilhelm Ostwald ist. Diese Geistesströmung, sie versucht durch einen Ausbau dessen, was an Einsichten bloß aus der Naturerkenntnis heraus gewonnen werden kann, eine Weltanschauung aufzubauen. Das Suchen der Zeit wird gegenüber einem solchen Versuch zu dem folgenden Ergebnis kommen: Solange die Naturwissenschaft dabei stehenbleibt, die Gesetze des äußeren Sinnesdaseins zu erforschen, die Zusammenhänge in diesem äußeren Sinnesdasein der Seele zu vergegenwärtigen, so lange steht Naturwissenschaft auf festem Boden. Und sie hat wahrhaftig ein Großes geleistet; sie hat das Große geleistet, daß sie alten Vorurteilen das Lebenslicht gründlich ausgeblasen hat. So wie noch Faust selbst vor der Natur gestanden hat und zu einer äußeren, materiellen Magie gegriffen hat, so kann heute der, der die Naturwissenschaft versteht, nicht mehr zu einer solchen materiellen Magie greifen. - Aber etwas anderes ist es, daß das geistige Leben selber, auf den Wegen, die charakterisiert worden sind, eine innere Magie der Seele auferlegt. - Gegen alle jene abergläubischen (S30) Geistesströmungen, gegen alles das, was die äußere Natur so erklären will, wie wir etwa eine Uhr erklären, wenn wir sagen: Da sind drinnen kleine Geisterchen; gegenüber aller Naturerklärung, die hinter den Naturerscheinungen diese und jene Wesen findet, hat die Naturwissenschaft ihr Großes geleistet in der Negation, auch als Weltanschauung. Und schauen wir uns einmal an, wie die sogenannte naturwissenschaftliche Naturanschauung wirkt, solange sich die Geister damit beschäftigen können, die alten, ungesunden Begriffe von allerlei geistigen Wesen, die hinter der Natur erdichtet werden, zu beseitigen. Solange Front gemacht werden kann gegen solches Geistesstreben, so lange lebt eine naturwissenschaftliche Weltanschauung von der Bekämpfung desjenigen, was bekämpft werden mußte.

   Aber dieser Kampf, er hat in gewisser Beziehung seinen Höhepunkt schon überschritten, hat sein Gutes bereits geleistet; und heute geht das Suchen der Zeit dahin, zu fragen: Mit welchen Mitteln können wir uns ein Weltbild aufbauen, in dem die menschliche Seele drinnen Platz hat? Da versagt diese naturwissenschaftliche Weltanschauung, dieser Haeckel-Ostwaldsche Materialismus völlig, wenn sich der Mensch richtig versteht. Immer klarer und klarer wird es dem Sucher der Zeit werden, man möchte sagen, daß als Soldaten die Bekenner der rein materialistischen Weltanschauung im Bekämpfen alten Aberglaubens groß sind, daß sie aber sind wie Krieger, die ihren Dienst getan und nun kein Talent haben, die Künste des Friedens zu entwickeln, Industrien zu entwickeln, Ackerbau zu treiben. Der Naturwissenschaft soll nicht ihre Größe genommen werden, wenn sie Weltanschauung wird, um zu bekämpfen abergläubische Vorstellungen. Solange solche Weltanschauungsdenker stehenbleiben können beim Kampf, da habe sie noch etwas am Kampf in der Seele, was sie aufrecht erhält, wenn aber der Mensch sich dann ein wirkliches Weltbild aufbauen will, in welchem die Seele einen Platz hat, dann ist er wie der Krieger, der für die Künste des Friedens kein Talent hat. Da steht er gegenüber der Frage seiner Seele, sagen wir, in Friedenszeiten des Weltlebens, und es baut sich ein Weltenbild nicht auf.
   Solche Stimmung wird sich immer mehr und mehr geltend machen in den Seelen; diese Stimmungen kann der Geistesforscher schon (31) schauen in den Untergründen der Seelen. Da wo diese Seelen noch nichts davon wissen, da walten die Sehnsuchten nach dem, was die Geistesforschung der Welt bringen will. Das ist das Geheimnis der heutigen Zeit. Aber wenn sie so von einem höheren Gesichtspunkt aus, man möchte sagen, durchaus zeitgemäß ist, diese geistesforscherische Weltanschauung, so ist sie unzeitgemäß vor vielen Zeitgenossen, die noch nicht tief hineinschauen in das, was sie eigentlich selber wollen. Daher bringt diese Geisteswissenschaft zunächst ein Weltbild, das man so ansieht, als ob es nicht auf festem wissenschaftlichen Boden stünde. Das andere Weltbild, das des sogenannten Monismus, es will bloß auf Grundlage der äußeren Wissenschaft auferbaut sein. Dieses Weltbild, man könnte an seiner Kehrseite heute sehen, wohin es führen muß, wenn die Seele wirklich ihre Hoffnungen, ihre Sehnsuchten erfüllt sehen will. In jener Aktivität der Geistesforschung, von der gesprochen worden ist, ergibt sich für die Seele das, was diese Seele wirklich hinaufhebt zur geistigen Gemeinschaft, ergibt sich die geistige Welt in wahrnehmbarer Aktivität, in aktiver Wahrnehmung. Durch die Geisteswissenschaft kann der Mensch wiederum wissen von der wahren Geisteswelt, von der geistigen Wirklichkeit. Davon weiß das sogenannte monistische Weltbild nichts zu sagen dem geistigen Suchen der Zeit.
   Dieses Suchen der Zeit, dieses Suchen der menschlichen Seelen, es läßt sich aber nicht unterdrücken, und so hat sich ein Teil unserer Zeitgenossen schon daran gewöhnt, die Gedanken (über Geistiges) in sich selber gleichsam so zu stellen, daß diese Gedanken wie die naturwissenschaftlichen Gedanken laufen: daß Äußeres angeschaut wird in passiver Hingabe. Was ist geworden? Das ist geworden, daß ein Teil unserer Zeitgenossen - die sich damit beschäftigen, die wissen es - im Grunde genommen darauf verfallen ist, das Geistige so ansehen zu wollen, wie man das Sinnliche anschaut. Ich sage nicht, daß nicht auf diesem Wege manches durchaus Wahre zustandekommen kann; Aber die Methode eines solchen Vorgehens ist eine andere als die der Geisteswissenschaft. Das, was man Spiritismus nennt, das will äußerlich, ohne aktive innere Wahrnehmung, ohne sich in die geistigen Welten zu erheben, geistige Wesenheiten und Vorgänge (S32) anschauen äußerlich passiv, wie man anschaut physisch-sinnliche Vorgänge. Wessen Kind ist der rein äußerliche, wir dürfen sagen materialistische Spiritismus? Er ist das Kind derjenigen Geistesströmung, die auf dem sogenannten monistischen Standpunkt steht und dem Aberglauben des Materialismus, der bloßen Wirksamkeit äußerer Naturgesetze sich hingibt. Was - so wird mancher Zeitgenosse sagen - der Spiritismus, ein Kind des echten Haeckelschen Monismus? - Das Suchen der Zeit wird sich davon überzeugen, daß es eben mit diesem Kind so geht wie mit anderen Kindern. Mancher Vater, manche Mutter hat die schönsten Gedanken über all das, was sich am Kind entwickeln soll, und es kann doch ein rechter Balg manchmal entstehen. Von dem, was als ein wahres Kulturkind der Monismus träumt, auf das kommt es nicht an, auf das kommt es an, was wirklich entsteht. Der bloße Glaube an das Materielle wird den Glauben erzeugen, daß auch die Geister sich materiell allein betätigen und offenbaren können. Und je mehr wachsen würde der reine monistische Materialismus, desto mehr würden Spiritistengesellschaften und spiritistische Anschauungen überall aufblühen als das notwendige Gegenbild. Je mehr es den blinden Bekennern Haeckel- und Ostwaldscher Richtung gelingen wird, in Weltanschauungsfragen gelingen wird, zurückzudrängen wahre Geisteswissenschaft, desto mehr werden sie sehen, daß sie züchten werden den Spiritismus, die Kehrseite wahrer Geistesforschung. So sicher der Geistesforscher steht auf dem Boden des erforschbaren, des erkennbaren, des wißbaren Geisteslebens, so wenig kann er der Methode folgen, die den Geist materialisieren will und sich passiv an das hingeben will, was Geist ist, während man es nur im Aktiven erleben kann.
   Ich will aber doch auch das Suchen unserer Zeit, das sich noch nicht innerlich verstehen kann in bezug auf ein anderes charakterisieren. Ein Mann, der als Philosoph eine gewisse Schätzung verdient, hat einen sonderbaren Aufsatz in einer viel gelesenen Zeitung geschrieben. Darin schreibt er zum Beispiel, daß Spinoza und Kant für manchen Menschen recht schwer zu lesen sind. Man liest sich hinein in sie; aber da wandeln und wirbeln die Begriffe nur so herum -; nun, es soll durchaus nicht abgeleugnet werden, daß es für viele (S33) Menschen so ist, wenn sie sich in Kant oder Spinoza hineinlesen wollen, daß ihnen da die Begriffe durcheinanderwirbeln. Aber jener Philosoph gibt einen Ratschlag, wie man das gemäß dem Suchen unserer Zeit anders gestalten könne. Er sagt: Wir haben ja heute eine Einrichtung, einen technischen Fortschritt, durch den das, was in den bloß abstrakten Kantschen und Spinozaschen Gedanken vor die Seelen gestellt, diese Seelen verwirrt, recht anschaulich vor die Seelen gebracht werden kann, so daß man sich ihm passiv in der Wahrnehmung hingeben kann. Der Philosoph will in einer Art von Kinematographen zeigen, wie Spinoza dasitzt, zunächst Glas schleift, wie dann der Gedanke der Ausdehnung über ihn kommt - das wird gezeigt in wechselnden Bildern. Das Bild der Ausdehnung verwandelt sich in das Bild des Denkens und so weiter. Und so könnte die ganze Ethik und Weltanschauung Spinozas anschaulich aufgebaut werden auf kinematographische Weise. Dem äußeren Suchen der Zeit wäre so Rechnung getragen. Merkwürdig, daß der Herausgeber der betreffenden Zeitung sogar die Anmerkung gemacht hat: So könnte dem uralten metaphysischen Bedürfnis des Menschen durch eine Erfindung, die manchen als Spielerei erscheint, abgeholfen werden, die durchaus zeitgemäß ist.
   Nun könnte es vielleicht von einer gewissen Seite her ganz dem Suchen unserer Zeit, aber nur dem äußeren, angemessen sein, wenn man vor dem Kinematographen lesen könnte: Spinozas <<Ethik>> oder Kants <<Kritik der reinen Vernunft>>. Warum denn nicht? Es wäre Rechnung getragen dem passiven Hingeben, das man heute liebt. Man liebt es so, daß man nicht glauben kann, das (Geistige) eine Realität haben muß, in das man sich nur so hineinfinden kann, daß man jeden Schritt mittut. Daß man sich selber, in seinem Geistig-Seelischen, das ausdrückt, was das Wesen der Dinge ist, das liebt unsere Zeit noch nicht. Sehen wir uns einmal eine Anschlagsäule an! Versuchen wir die Gedanken zu erraten der Menschen, die davor stehen. Zu einem Vortrag, bei dem keine Lichtbilder gegeben werden, sondern wo bloß darauf reflektiert wird, daß die Seelen miterzeugen die Gedanken, die vorgebracht werden, werden nicht so viel Menschen hineingehen als zu einem Vortrag, wo Geistig-Seelisches (S34) angeblich in Lichtbildern demonstriert wird, wo man sich nur passiv hinzugeben braucht.
  Wer hineinschaut in das Suchen unserer Zeit, wo es seine tiefsten, noch unbewußten Hoffnungen und Sehnsuchten geltend macht, der weiß, daß in den Tiefen der Seelen doch ruht der Trieb nach Aktivität; der Trieb, sich wieder zu finden als Seele in voller Aktivität. Frei, mit sicherem innerem Halt bedacht, kann die Menschenseele nur sein, wenn sie innere Aktivität entwickeln kann. Im Leben sich zurechtfinden und orientieren kann die menschliche Seele nur dadurch, daß sie sich bewußt wird, daß sie nicht nur das ist, was ihr von der Welt passiv geschenkt wird, sondern wenn sie weiß, daß sie dabei ist bei dem, was sie in Tätigkeit zu erleben vermag; und von der geistigen Welt vermag sie nur das einzusehen, dessen sie sich in Tätigkeit zu bemächtigen vermag. Im Nachdenken dessen, was die Geisteswissenschaft gibt, wird das Auffassen ein Mittun, eine Mittätigkeit entwickeln müssen; dadurch aber wird Geisteswissenschaft zu einer Befriedigung der tiefsten, der unterbewußten Triebe in den Seelen der Gegenwart, dadurch kommt sie entgegen dem intimsten Suchen unserer Zeit. Denn in bezug auf die hier mitberührten Dinge ist unsere Zeit eine Zeit des Übergangs. Oh, es ist leicht zu sagen, ist sogar trivial zu sagen: Wir leben in einer Übergangszeit; denn jede Zeit ist eine Übergangszeit. Daher ist es immer richtig, zu sagen, wir leben in einer Übergangszeit. Aber wenn man es betont, daß man in einer Übergangszeit lebe, so kommt es vielmehr darauf an, worin irgendeine Zeit in einem Übergang sich befinde. Will man nun unsere Zeit in ihrem Übergang schildern, so muß man sagen: Es war notwendig - denn nur dadurch konnten die Naturwissenschaften und was durch sie groß geworden ist, zu ihren Errungenschaften kommen -, daß einmal durch Jahrhunderte hindurch die Menschheit durch eine Erziehung zur Passivität gegangen ist; denn nur so, durch die Hingebung an die materialistischen Wahrheiten, konnte erreicht werden, was erreicht werden mußte gerade auf naturwissenschaftlichem Boden. Aber es ist so, daß sich das Leben rhythmisch abspielt. Wie ein Pendel aufschwingt und wieder abwärts schwingt und auf die entgegengesetzte Seite ausschlägt, so muß die Menschenseele, wenn sie in berechtigter Weise eine (S35) Zeitlang erzogen worden ist zu treuer, passiver Hingabe, sich wieder aufraffen, um sich selbst wieder zu finden; um sich in sich zu ergreifen, muß sie sich aufraffen zur Aktivität. Denn was ist sie durch die Passivität geworden? Nun, das, was sie geworden ist durch die Passivität, ich will es aussprechen ungescheut mit einem radikal klingenden Satze, der für viele gewiß viel zu paradox klingen wird. Aber auf der anderen Seite zeigt gerade das Sich-Einleben in die Geisteswissenschaft, wie es eigentlich nur die Tatsache ist, daß man sich nicht zu den Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung aufrafft, wenn man dieses radikale Ergebnis nicht betont. Man hat nicht den Mut, die wirklichen Konsequenzen zu ziehen, auch diejenigen nicht, die vorgeben, einzig und allein auf dem Boden dessen zu stehen, was wahre Naturwissenschaft ergibt. Hätte man diese Konsequenz, dann würde man merkwürdige Worte raunen hören durch das Suchen der Zeit.
   Am Ausgangspunkt der alttestamentlichen Urkunden stehen Worte - ich will über ihre innere Bedeutung nicht sprechen; jeder mag die Worte nehmen als das, wofür er sie nehmen kann; mag sie der eine für ein Bild, der andere für den Ausdruck einer Tatsache halten: in dem, was ich über diese Worte zu sagen habe, können alle übereinstimmen -, die Worte lauten: <<Ihr werdet sein wie Gott und erkennen - oder unterscheiden - das Gute und das Böse!>> Es klingt uns herüber, das Wort, aus dem Anfang des Alten Testamentes. Wie man es auch nehmen will: das wird man zugeben müssen, daß es ein Bedeutungsvolles ausdrückt für die Menschennatur und für die Menschenseele. Dem Versucher wird er zugeschrieben, der sich herannaht an den Menschen und ihm ins Ohr raunt: <<Wenn du mir folgst, wirst du sein wie ein Gott unjd unterscheiden das Gute und das Böse.>> Das wird man ahnen können, das die Hinneigung nicht nur zu dem Guten nicht ohne diese Versuchung sich im Menschen ausdrücken würde; daß ohne diese Versuchung nur die Hinneigung zu dem Guten entstanden wäre, so daß alle menschliche Freiheit in gewisser Weise mit dem zusammenhängt, was diese Worte ausdrücken. Aber sie drücken aus, daß der Mensch gewissermaßen aufgefordert wurde durch den Versucher, über sich hinaus sich als ein anderes Wesen anzuschauen, als er ist: wie ein Gott sich zu verhalten zu dem Guten (S36) und zu dem Bösen. Wie gesagt: Mag man über den Versucher und diese Worte denken wie man will, ich fordere heute ja wirklich nicht, daß man ihn gleich hinnimmt als ein wirkliches Wesen - obwohl es sich recht gut bewahrheitet für den, der die Dinge durchschaut, das Wort: <<Den Teufel spürt das Völkchen nie und wenn er sie beim Kragen hätte.>> Der, der das Suchen der Zeit ein wenig zu belauschen vermag, der hört heute in diesem Suchen der Zeit doch sein Raunen wieder. Er naht sich. Nenne man es nun eine Stimme der Seele oder wie man will: da ist er - ohne allen Aberglauben mag es gesagt werden. Und für diejenigen, die den Mut haben, die letzten Konsequenzen einer rein naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu ziehen, bringt er Worte von einer großen Eigentümlichkeit, von einer sonderbaren Weisheit hervor. Es haben nur nicht die Menschen, die da vorgeben, auf dem Boden einer rein naturwissenschaftlichen Grundlage zu stehen, den Mut zur letzten Konsequenz. Sie nehmen aus in ihr Fühlen und Denken doch den Glauben an eine Unterscheidung von Gut und Böse, den sie eigentlich ableugnen müßten, wenn sie rein auf dem Boden der Naturwissenschaft stehen wollten. Es ist doch so, daß, sobald man sich auf den Boden der bloßen Naturwissenschaft stellt, daß nicht nur die Sonne über Gut und Böse in gleicher Weise scheint, sondern daß nach der Naturgesetzmäßigkeit aus der menschlichen Natur heraus das Böse gerade so verrichtet wird als das Gute. Und so raunt er, der Versucher, die Konsequenz ziehend, den Menschen zu: Seht ihr es nicht, ihr seid ja bloß wie höherentwickelte Tiere. Ihr seid wie die Tiere und könnt nicht unterscheiden zwischen dem Guten und Bösen. - Das ist es, was unsere Zeit zu einer Übergangszeit macht, daß der Versucher mit der entgegengesetzten Stimme als jener, mit der er nach dem Alten Testament gesprochen hat, in unserer Zeit wieder spricht: Ihr seid ja nur entwickelte Tiere und dürft also, wenn ihr euch selbst versteht, keinen Unterschied machen zwischen Gut und Böse.

   Hätte man den Mut zu dieser Konsequenz, so wäre sie der Ausfluß einer reinen, in Passivität hingegebenen Weltanschauung. Daß die Zeit bewahrt bleibe vor dieser Stimme - es sei das bloß bildlich gesprochen -, daß in das Suchen der Zeit hineingebracht werde ein (S37) Wissen vom geistigen Leben: das ist die Aufgabe, das ist das Ziel der Geisteswissenschaft. Diejenigen, die diese Geisteswissenschaft heute noch bekämpfen vom Standpunkt irgendeiner Wissenschaft, sie werden sich überzeugen müssen, daß es sich mit diesem Kampf so verhält wie mit dem Kampf gegen de Kopernikanismus. Jetzt, wo wir durch den Bau unserer freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach auch in der Welt mehr beachtet werden, die uns früher nicht beachtet hat, mehren sich die Stimmen der Gegner. Und als ich in der letzten Zeit darauf einwendete in der Schrift: <<Was soll die Geisteswissenschaft und wie wird sie von ihren Gegnern behandelt?>>, daß die Gegner der Geisteswissenschaft heute auf demselben Standpunkt stehen, auf dem die Gegner des Kopernikus gestanden haben, da sagte einer, der sich betroffen fühlt mit Recht: Ja, der Unterschied wäre nur der, daß das, was Kopernikus gesagt hat, Tatsachen sind, während die Geisteswissenschaft nur Behauptungen vorbringt. Er merkt gar nicht, der Arme, daß für die Leute seines Geistes die Tatsachen des Kopernikanismus damals auch nichts anderes waren als Behauptungen, leere Behauptungen, und er merkt nicht, daß er heute leere Behauptungen nennt, was vor der wirklichen Forschung eben Tatsachen, allerdings Tatsachen des geistigen Lebens sind. Und so kann man sowohl von der Wissenschaft als von seiten des religiösen Lebens Einwände über Einwände gerade gegen diese Geisteswissenschaft erhoben finden. Wie die Menschen zur Zeit des Kopernikus gesagt haben: An die Umdrehung der Erde um die Sonne können wir nicht glauben, denn sie steht nicht in der Bibel -, so sagen die Leute heute: An das, was Geisteswissenschaft zu sagen hat, glauben wir nicht, denn es steht nicht in der Bibel. - Es werden aber die Menschen mit dem zurechtkommen, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat, wie sie zurechtgekommen sind mit dem, was Kopernikus zu sagen hatte.

   Und immer wieder und wiederum muß erinnert werden an einen zugleich tief gelehrten Mann und Priester, der an der hiesigen Universität gewirkt hat und der, als er seine Rektorrede gehalten hat über Galilei, die schönen Worte gesprochen hat: Damals, da standen die Leute, die da glaubten, an religioösen Vorstellungen werde gerüttelt, die standen gegen Galilei; heute aber - so sagte dieser Gelehrte beim (S38) Antritt seines Rektorats -, heute weiß der wahrhaft religiöse Mensch, daß durch jede neue Wahrheit, die erforscht wird, ein Stück hinzugefügt wird zur Uroffenbarung der göttlichen Weltenlenkung und zu der Herrlichkeit der göttlichen Weltordnung. - So möchte man die Gegner der Geisteswissenschaft auf etwas aufmerksam machen, was wohl hätte sein können, wenn es auch nicht wirklich war. Nehmen wir an, vor Kolumbus wäre jemand hingetreten und hätte gesagt: Dieses neue Land -, das er dann entdeckt hat - dürfen wir nicht entdecken, wir leben im alten Land gut, da scheint die Sonne so schön herein. Wissen wir denn, ob in dem neu zu entdeckenden Lande auch die Sonne scheint? - So kommen dem Geisteswissenschafter seinen religiösen Vorstellungen gegenüber diejenigen vor, die ihre religiösen Empfindungen gestört glauben durch die Entdeckungen der Geisteswissenschaft. Der muß eine wankende religiöse Vorstellung, einen schwachmütigen Glauben haben, der da glauben kann, daß die Sonne seines religiösen Empfindens nicht bescheinen werde jedes neu entdeckte Land, auch auf dem geistigen Gebiete, so wie die Sonne, die die alte Welt bescheint, auch die neue Welt bescheint. Und sicher sein könnte der, welcher die Tatsachen unbefangen ins Auge faßt, daß das so ist. Die Zeit aber in ihrem Suchen, wenn sie sich immer mehr und mehr durchdringen wird mit der Geisteswissenschaft, sie wird von ihr so berührt werden, wie mancher sich heute noch nicht erträumen läßt.

   Die Geisteswissenschaft hat noch viele Gegner, begreiflicherweise. Aber im Einklang fühlt man sich doch in dieser Geisteswissenschaft mit all denjenigen Geistern der Menschheit, welche, wenn sie auch noch nicht Geisteswissenschaft gehabt haben, geahnt haben jene Zusammenhänge der menschlichen Seele mit den geistigen Welten, die eben durch Geisteswissenschaft aufgeschlossen werden. So fühlt man sich gerade mit Bezug auf das, was über das neue Wort des Versuchers gesagt worden ist, im Einklang gerade zum Beispiel mit Schiller und seinem Ahnen gegenüber der geistigen Welt. Aus seinen eigenen naturwissenschaftlichen Studien heraus hat Schiller durchaus den Eindruck bekommen, daß er den Menschen herauszuheben hat aus der bloßen Tierheit, und daß die menschliche Seele Anteil hat an einer geistigen Welt. Wie eben in tiefem Einklang mit einem führenden (S39) Geist der neueren Weltanschauungsentwicklung fühlt man sich auf dem Boden der Geisteswissenschaft, wenn man zusammenfassen kann wie in einem Gefühl, was heute mit breiteren Sätzen hat ausgeführt werden wollen, zusammenfassen kann mit den Schillerschen Worten:

Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke,

Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn!

Und der erhab'ne Fremdling, der Gedanke,

Sprang aus dem saunenden Gehirn!

Bekräftigend, daß die Tierheit wich, und der Mensch einer geistigen Welt angehört, bekräftigend solche Sätze, steht die Geisteswissenschaft heute vor dem Suchen unserer Zeit.

   Und erinnert - ganz am Schluß - darf werden an einen Geist, der hier in Österreich gewirkt hat, indem er in seiner tief innerlich lebenden Seele gefühlt hat wie einen dunklen Drang das, was Geisteswissenschaft zur Gewißheit zu erheben hat. Gefühlt hat er es, man möchte sagen, mit seinem Denken und Sehen einsam dastehend, an geistigen Ausblicken festhaltend, trotzdem er als Arzt voll auf dem Boden der Naturwissenschaft stehen kann. Mit ihm, mit Ernst Freiherrn von Feuchtersleben, ihm, dem Seelenpfleger und Seelenpädagogen, sei es als ein Bekenntnis der Geisteswissenschaft ausgesprochen, sei zusammengefaßt das, was im heutigen Vortrag vorgebracht worden ist, zusammengefaßt eben mit den Worten Feuchterslebens, in denen etwas erklingt von dem, was die Seele als ihre höchste Kraft erfühlen kann; erfühlen kann aber nur dann, wenn sie sich gewiß ist ihres Zusammenhangs mit der geistigen Welt. Ernst von Feuchtersleben sagt - was man wie ein Motto zu  aller Geisteswissenschaft vorbringen kann: <<Die menschliche Seele kann sich nicht verhehlen, daß sie zuletzt ihr wahres Glück doch nur durch die Erweiterung ihres innersten Besitzes und Wesens ergreifen kann.>>

   Die Erweiterung, die Befestigung, die Sicherung dieses innersten Wesens, dieses geistigen inneren Wesens der Seele soll dem Suchen der Zeit durch die Geisteswissenschaft dargeboten werden.


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"Was hat die Geisteswissenschaft über Leben; Tod und Unsterblichkeit der Menschenseele zu sagen?":

Inneres Wesen des Menschen